Kälte
Ihr
Lächeln schien Herzen zu erwärmen. Niemand konnte ihm
widerstehen.
Ihre
Augen strahlten dabei heller als der Sonnenschein. Es schien
vollkommen unmöglich ihnen zu entgehen.
Ihrem
Haar hatte besonders der silberne Schein des Mondes einen betörenden
Glanz verliehen. In jeder der Nächte, in welcher sie die noch
unberührten Wege entlang gingen um den ersten Schnee zu
begrüßen.
Sie
hatte es niemals richtig verstanden. Doch war sie mitgekommen. Aus
Liebe. Aus Liebe zu ihrer Mutter. Ihrer besten Freundin.
Liebe.
Ihr Herz war voller Liebe, welche sie zu gerne mit den Menschen
teilte.
Der
kalte Wind blies in ihr Gesicht. Sie nahm es nicht mehr wahr.
Der
Nebel, welcher sich mit den Abendstunden verstärkt hatte, hatte
ihr die letzte Sicht genommen. Doch auch das schien nicht mehr von
Bedeutung.
Die Kälte hatte ihr Herz erfasst. Ihren
Körper. Und schließlich ihre Seele.
Sie hatte in einer
lauen Sommernacht aufgehört zu leben.
Sie hatte dem Schmerz
erlegen. Die Tränen hatten aufgehört zu fließen, der
erstickende Druck auf ihrem Herzen hatte nachgelassen. Sie war nur
noch eine leblose Hülle ihrer selbst.
Ihre Augen hatten
jeglichen Glanz verloren. Das Haar hing schlaff herunter.
Sie
wusste nicht mehr wie sie aussah, wie ihre Stimme klang.
Wie
wenig schien dies auch von Bedeutung zu sein.
Wo bist du? Wohin wolltest du in jener Nacht? Zu ihm?
Sie
hatte ihr diese Fragen mehrmals gestellt.
Zuerst in langen
Briefen, welche sie mit zitternden Fingern geschrieben hatte.
Briefe,
die ihren Adressaten niemals erreichen sollten. Die ungeöffnet
dem Feuer zum Opfer gefallen waren.
Sie hatte diese Fragen an sie gerichtet. Mit letzter Kraft aus ihrem Herzen geschrieen, bevor jenes der Starre erlegen war.
Hört auf. Hört auf mich zu belügen. Sie ist nicht gegangen. Sie ist in ihrem Zimmer in der kleinen Wohnung in Hartford. Sie bereitet sich für den morgigen Arbeitstag vor.
Sie hatte sich gewünscht zu erwachen. Aus dem Alptraum, welcher so irreal, so grausam schien. Doch sie sollte niemals erwachen.
Sie war so stark gewesen. Hatte alle Vorbereitungen getroffen. Das scheinbare Spiel mitgespielt. Bis sie an ihrem Grab zusammengebrochen war. Während sie sich der Bedeutung der Worte bewusst geworden war, welche sie sprechen musste.
Die Verdrängung war der Kälte der Realität gewichen. Sie hatte niemals geträumt.
Sie hatte nicht mehr geschlafen seit jener Nacht. Es schien nicht mehr notwendig.
Zudem hatte sie Angst. Angst wieder von
ihr zu träumen. Von ihrem Lächeln, ihren Augen, ihrem Haar.
Den Tagen mit ihr, welche voller Liebe und Wärme gewesen waren.
Tage, welche es nun nicht mehr geben würde.
„Es
ist mein Leben!"
„Er
wird dein Herz erneut brechen! Sei vernünftig! Du bist zu alt
für dieses Verhalten!"
Tränen
rannen über ihre blassen Wangen. „Du hast es nie
verstanden..."
Schluchzend war sie in das Auto eingestiegen und gefahren. Sie sollte niemals zurückkommen.
Sie war ihr nicht gefolgt. Hatte sie nicht angerufen. Den Rat ihres Herzens nicht befolgt.
Das Läuten des Telefons schien in jener Nacht anders zu klingen als sonst. Schriller, eindringlicher.
Die Kälte hatte ihr Herz erfasst, bevor sie den Hörer ergriffen hatte.
Sie hatte die stockenden Worte kaum wahrgenommen.
Der Boden des Wohnzimmers war kalt gewesen. Ihre Glieder hatten geschmerzt, ihre Augen gebrannt.
„...Sie hatte keine Chance mehr gehabt. Der Lastwagen war von der Spur abgekommen und hatte sie erfasst..."
Sie war stets vorsichtig gefahren. Doch ihre Achtsamkeit hatte ihr in jener Nacht nicht geholfen.
Sie waren im Streit, unter Tränen
auseinander gegangen.
Möglicherweise wäre es niemals
soweit gekommen, hätte sie anders auf die Worte ihrer Tochter
reagiert. Diese wäre schon einige Minuten früher auf dem
Highway gewesen. Wäre dem betrunkenen Fahrer vielleicht niemals
begegnet.
Sie wäre außerdem konzentrierter gefahren.
Ohne Tränen in den Augen. Ohne wild pochendem Herzen.
Sie
hatte sich selbst das Liebste genommen, was sie besessen hatte.
Ihre
Tochter. Ihre beste Freundin. Ihre Seelenverwandte.
Niemals würde
sie mehr ihr Lächeln sehen können. Ihre strahlenden
Augen.
Niemals würde sie die junge Frau wieder in die Arme
schließen, mit ihr reden und lachen können.
Es war
zu spät.
Sie war nicht einmal mehr dazugekommen ihr zu
sagen, wie sehr sie die harten Worte bereut hatte. Es war ein harter
Tag im Dragonfly gewesen. Sie hatte zudem einen Streit mit Luke
gehabt. Sie war bereits voller Wut gewesen, bevor ihr ihre Tochter
die Herzensentscheidung mitgeteilt hatte.
Sie spürte die Hand auf ihrer Schulter, hörte die sanfte Stimme nicht.
Sie
war der Kälte schon vor Monaten erlegen. Vielleicht waren es
auch Jahre.
Zeit schien keine Bedeutung mehr zu haben.
Sie
war der Kälte erlegen um es nicht mehr spüren zu
müssen.
Den schmerzenden Druck, welcher ihr Herz umschlungen
und ihr zunehmend den Atem genommen hatte.
Der zunehmend
ertaubende Körper, welcher aufgegeben hatte.
Den Verlust
ihrer Seele, die mit ihrer geliebten Tochter gegangen war.
Der größte Schmerz einer Mutter ist der Verlust des eigenen Kindes.
Ich habe dich der Welt gegeben. Nun hat sie dich mir genommen.
Die zarte Berührung ließ sie plötzlich zusammenzucken. Sie wich zurück.
„Lorelai..."
Die Stimme schien
aus einer fernen Vergangenheit. Immer und immer wieder nannte sie
ihren Namen.
„Es ist nicht deine Schuld. Niemand trägt die Schuld an diesem Unfall, außer der betrunkene Fahrer!"
„Ich liebe dich, Mummy!" Das kleine Mädchen strahlte über das ganze Gesicht und blies die Kerzen ihrer Geburtstagstorte aus.
„Sie hat dich geliebt. Sie hat uns alle geliebt. Glaubst du denn, dass sie uns nicht genau wie dir fehlt?"
„Du
bist meine Lieblingstochter."
„Das
sagst du allen deinen Töchtern."
„Aber
nur bei dir meine ich es ernst."
„Lorelai! Nun sieh mich doch an! Das hat keinen Sinn! Wir dürfen die Schuld nicht bei uns suchen!" Eine Hand ergriff ihre. „Deine Finger sind ganz kalt. Lass uns nachhause gehen. Du wirst dich noch erkälten."
Zuhause. Wie könnte es nun noch ein zuhause geben? Ohne den Menschen, der mir alles bedeutet hat.
Die andere Stimme klang zuerst stockend, heiser. „Ich habe sie von Herzen geliebt. Sie war alles für mich. Ich war erst so spät fähig, ihr das mitzuteilen. Hätte ich sie an jenem Tag nicht angerufen, wäre sie niemals in das Auto gestiegen. Glaubst du, wie ich mich fühle? Wie es mir geht? Der Gedanke daran bricht mir jeden Tag aufs neues mein Herz. Sie war meine große Liebe. Der erste Mensch, welcher mich zu verstehen geschienen hatte. Es war mir wie ein Wunder vorgekommen, dass so ein strahlender Engel fähig ist jemanden wie mich zu lieben! Verdammt, ich hatte sie gebeten zu mir zu kommen! Wenn jemand Schuld an ihrem Tod trägt, dann bin ich es!"
Ihre Lippen schienen ausgetrocknet. Sie waren unfähig ein Wort zu formen.
„Verdammt, Lorelai!
Sag doch etwas!" Er fasste sie etwas gröber an den Armen. Ihre
Augen brannten. Sie begannen ihr Umfeld wahrzunehmen.
„Lorelai..."
Lukes Augen waren gerötet. Er zog sie sanft an sich. „Ich
liebe dich doch. Du kannst nicht einfach aufhören zu leben, weil
sie gegangen ist. Das darfst du nicht. Was ist mit den anderen
Menschen in deinem Leben? Mit deinen Eltern? Deinen Freunden? Mir?
Glaubst du, das ist in ihrem Sinne? Denkst du, sie wollte dass du
dein Leben einfach aufgibst? Sie hat dich geliebt. Mehr als alles
andere! Denkst du, sie wollte, dass ihre geliebte Mutter dem Leben
entsagt?"
„Jess?" Ihre Stimme war leise, kaum hörbar.
Doch
der junge Mann nickte und trat näher.
Sie löste sich
zitternd aus Lukes Armen. „Du...du bist nicht Schuld. Sie war so
glücklich..." Ihre Stimme stockte. „Sie hat mir deine langen
Briefe gezeigt und von deinem Anruf erzählt...Jess, sie wollte
nichts lieber als zu dir zu fahren um dir zu sagen, wie sehr sie dich
liebt. Dass sie niemals damit aufgehört hat. Es nicht gekonnt
hatte. Sie war so glücklich gewesen, ihre Augen hatten
gestrahlt. Ein wunderschönes Lächeln hatten ihre Lippen
umspielt..." Zum ersten Mal seit vielen Wochen spürte sie die
heißen Tränen wieder, welche über ihre Wangen rannen.
Sie fröstelte. „...Jess, ich hatte ihr diese Glückseligkeit
genommen. Sie hatte geweint. Ihre Augen waren voller Schmerz gewesen.
Und Enttäuschung. Enttäuschung über ihre eigene
Mutter, welche sie nicht verstehen konnte. Nicht verstehen
wollte...Kinder...Kinder sollten nicht vor ihren Eltern gehen...mit
ihrem Tod ist auch ein Teil meiner selbst gestorben. Ich sehe keinen
Sinn mehr darin, noch zu leben."
Jess Augen tränten. Er war
unfähig etwas zu erwidern.
Luke drückte die Hände
seiner Ehefrau und seines Neffen. „Sie war wie eine Tochter für
mich. Es gibt keinen Tag, an welchem ich nicht an sie denke. Genauso
sollte es auch sein. Menschen gehen erst wirklich, wenn sie vergessen
worden sind. Doch Rory...sie wird niemals vergessen sein..."
Sie löste sich aus seinem Griff. Ihre Beine zitterten, als sie auf das Grab zuging.
Lorelai Leigh Gilmore
Geliebte
Tochter, Enkeltochter und Freundin
Geboren
08.10.1984, Gestorben 12.08.2009
Ruhe
in Frieden
In unserem Herzen wirst du ewig sein
Sie
schüttelte den Kopf. „Nein..." Tränen tropften auf das
Meer von Blumen, welche das Grab schmückten. „Warum?" Ihre
Stimme bebte. „Warum nur?" Schrie sie. „Warum hast du mir das
getan? Warum hast du mich alleine gelassen? Warum hast du das getan?"
Ihr Körper zitterte. Sie spürte wie der Schmerz erneut
Gewalt über sie ergriff. Der Schmerz, welchen sie zu vergessen
versucht hatte. Der Schmerz, welcher immer existiert hatte und ihrem
Körper nicht mehr weichen würde.
Sie sank auf das
feuchtkalte Gras. Ihre Nägel bohrten sich in ihre Handflächen.
Schwere Seile schienen ihr Herz zu umklammern. Es mit sich in die
Tiefen des reißenden, dunklen Ozeans zu reißen. Sie rang
nach Atem. „Du hast dich nicht verabschiedet! Du hast nicht Lebe
wohl gesagt.
Du bist einfach gegangen und hast mich zurück gelassen. Ich
hätte dich aufhalten müssen. Du hättest niemals in das
Auto steigen dürfen!" Blut rann über ihr Handgelenk. Sie
lockerte die Faust nicht. „Ich hätte dich beschützen
müssen! Es tut mir leid! Es tut mir so leid!" Ihre Stimme
wurde erneut von Heiserkeit ergriffen. „Ich...ich hätte an
deiner Stelle gehen sollen..." Die letzte Kraft entwich ihrem
Körper. Sie ließ den Tränen freien Lauf.
Luke
zog sie sanft hoch und drückte ihren leblosen Körper an
sich. Er strich über ihren Rücken. „Lass es raus. Lass es
endlich raus."
„Ich werde schon mal vorausgehen." Sagte Jess
leise an seinen Onkel gewandt. Seine Augen tränten erneut, als
er dem Grab seiner großen Liebe einen letzten Blick zu warf.
„Ich liebe dich." Formten seine Lippen tonlos.
Wenn Menschen sterben, lassen sie mehr zurück als nur die Erinnerung an sie.
Sie nehmen jedoch auch etwas von den Menschen, die sie liebten, mit sich.
