Ich stand vor dem offenen, verzierten und definitiv verrosteten Tor meiner neuen Schule und fühlte wie mir das Herz in die Hose rutschte. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ein Blick über meine Schulter. Meine Mutter stand neben mir und versuchte mir vorzuspielen das sie bedrückt war weil ich sie und meinen Vater gleich verließ. Als sie meinen Blick bemerkte lächelte sie mir aufmunternd zu und sagte: „Keine Sorge Lilith-Schatz, ich begleite dich noch mit hinein." Was übersetzt ungefähr bedeutete: „So ich komm jetzt mit rein, gebe dich ab und mach mich dann schnell wieder aus dem Staub damit ich dich keine Sekunde länger sehen muss". Ein tiefes Seufzen entrang sich meiner Kehle. So waren meine Eltern seit ich meine neue ‚Begabung' entdeckt hatte. Es war ganz plötzlich passiert, ohne Vorwarnung. ich hatte Vaters Hand gehalten und plötzlich wurden meine Augen weiß und ich wirbelte durch seinen Verstand. Erinnerungen, Wortfetzen aus längst vergangenen Gesprächen und grauenvolle Momente des Krieges. Nur ein paar Sekunden mehr nicht doch ich wusste alles. Darauf brach ich vor Erschöpfung zusammen. Von da an hegten meine eigenen Eltern Hass gegen mich. Keiner von Beiden wusste das ich es wusste aber, wisst ihr, Blicke sprechen ihre eigene Sprache. Das war einer der Nebeneffekte meines ‚Talents'. Ich wurde sehr sensibel für Gefühle und Stimmung meiner Mitmenschen. Das ‚Augenlesen' wie ich es nannte war nur eine Anwendung des ‚Memorie Exposion' Ja das war meine Gabe. Ich konnte durch Berührung die gesamten Erinnerungen meines Gegenübers anzapfen. Oder auch einfach ‚in seinen Augen lesen'. Leider konnte ich es nicht abschalten. Immer wenn ich jemanden mit meinen Händen berührte las ich seine Erinnerung. Das war der Grund dass ich in der Schule keine Freunde hatte und immer dünne Handschuhe trug. Wahrscheinlich wäre ich früher oder später aufgrund der Ablehnung verrückt geworden, hätte nicht drei Monate später ein Abgesandter des ‚CFTP' (oder lang: College For Talented People) vor unserer Tür gestanden. Er meinte mir sei ein Stipendium angeboten worden und gab uns ein Prospekt. Eine Chance mich los zu werden sehend, nahmen meine Eltern prompt an. Und hier stand ich also: gerade 17, mit weiß gefärbten Haaren (Ja das habe ich wegen meinem Namen getan. Hallo? Lilith = Lilie?), einem Koffer, einer Sporttasche voller CDs und einer ungewissen Zukunft. Abermals seufzend drehte ich mich um und schritt durch das immer offen stehende Tor, meine ach so liebevolle Mutter im Schlepptau, meine schokobraunen Augen auf mein kommendes Schicksal gerichtet. Aber schlimmer konnte es doch nicht werden. Oder?
Hatte ich behauptet es könne nicht schlimmer werden? Ich denke ich habe gelogen denn von – in etwa - dreihundert Jugendlichen angestarrt zu werden ist definitiv schlimmer als wenn man dich komplett ignoriert. Ich stand mit Mutter, Koffer und Sporttasche in der Eingangshalle und versuchte verzweifelt mich zu orientieren. Meine Mutter war mir dabei keine große Hilfe. „Hey, ich soll dich zur Rektorin bringen!" Es war klar das ich gemeint war also sah ich mich nach dem Rufer um, konnte ihn in der Menge aber nicht identifizieren. „Man ich muss dir danken. Wegen dir wurd' ich für den Rest des Tages von Unterricht freigestellt." Der muskulöse Junge der mich zuvor gerufen hatte trat nur ein paar Schritte entfernt aus einer Gruppe Gleichaltriger und grinste mich nun an. Unter seiner Baseballkappe blitzten silbern glänzende Haare hervor und violette Augen musterten erst mein Gesicht, dann meine Oberweite und dann meine Mutter. Bei letzterem verzog er angewidert den Mund und entblößte dabei zwei Fangzähne die mich nicht im Mindesten erschreckten, meiner Mutter allerdings einen Schauer über den Rücken jagten. Ich betrachtete ihn genauer. Er passte mit seiner Kleidung (graues Tanktop, Armeehose, Chucks und einem kleinen Namensanhänger mit Nummer wie Soldaten sie haben) perfekt in mein Bild des LA-Gansters. Sein amerikanisch gefärbtes Englisch bestärkte mich in dieser Annahme noch. „Ich bin Hidan. Du bist Lilith?" Bevor ich etwas erwidern konnte schaltete meine Mutter sich ein: „Ja das ist sie, wolltest du uns nicht zur Rektorin bringen?" Hidan fletschte einmal seine – spitzen! – Zähne in ihre Richtung führte uns dann aber die Treppe an der Seite des Raumes hinauf. Die kleinen Grüppchen Jugendlicher im Raum interessierten sich nicht weiter für uns und kehrten zu ihren Gesprächen zurück. Ich ging neben Hidan, der mir meinen Koffer abgenommen hatte und ihn trug als wöge er nichts. Wir unterhielten uns ein bisschen über nichts im Besonderen und ich erfuhr dass er 19 Jahre alt war, und tatsächlich aus Los Angeles kam. Aus South Central um genau zu sein. Meine Mutter schien langsam anzufangen sich darüber aufzuregen das Hidan sie komplett ignorierte, und um ehrlich zu sein fand ich das ganze überaus lustig. Unser Führer leitete uns durch ein paar Gänge bis wir schließlich vor einer großen Eichentür stehen blieben. „Ich warte draußen.", meinte Hidan und warf meiner Mutter einen letzten giftigen Blick zu. Mit klopfendem Herzen öffnete ich und trat ein. Eine große Frau mit ausladendem Busen erhob sich von ihrem Platz hinter dem riesigen Schreibtisch der mitten im Raum stand und kam auf mich zugerauscht. Bevor ich mich versah wurde ich von ihr umarmt. Warm, mütterlich. So wie meine Mutter mich schon lange nicht mehr umarmt hatte. Sie zog sich zurück und hielt mich auf Armeslänge von sich. „So. Es ist wundervoll dass du da bist, Lilith. Ich bin Tsunade, die Rektorin und jemand den du nicht oft sehen willst. Setz dich, setz dich. Und sie können sich auch setzen.", meinte sie zu meiner Mutter. Wir setzten uns beide und Tsunade ließ sich uns gegenüber nieder. „Also, wie sie schon wissen hat Tochter Lilith eine überaus interessante Gabe. ‚Memorie Exposion' nicht wahr?" Ich nickte. „Uns ist zu Ohren gekommen das sie aufgrund ihrer höchst beeindruckenden Gabe in ihrer alten Schule nicht sonderlich beliebt war. Deshalb gibt es das CFTP. Hidan hat sie hergeführt oder?" „Ja dieser freche Bengel hat sich über mich lustig gemacht!" Mir entging nicht wie Tsunade krampfhaft ein Grinsen unterdrückte als sie sich zurücklehnte. „Nun, Hidan ist ein praktisches Beispiel für das was ich eben gesagt habe. Sehen sie, er hegt ein tiefes Misstrauen gegenüber Außenstehenden, besonders gegenüber Erwachsenen. Sein Verhalten ist eine Abwehrreaktion. So, aber es geht hier ja um Lilith." Sie schenkte mir wieder ein warmes Lächeln „Sie müssen sich keine Sorgen machen, ihre Tochter ist bei uns gut aufgehoben."
Über eine halbe Stunde lang musste Tsunade meine Mutter bequatschen bis sie endlich ging. Ich begleitete sie zur Tür des Büros und umarmte sie zum Abschied. Dann verschwand sie den Gang hinunter.
„Endlich" murmelte Hidan der neben der Tür stand und eine Zigarette rauchte.
„Ich hätt sie noch angefallen wenn sie länger geblieben wär." Ich schaute dem Zigarettenqualm nach als er langsam emporstieg und sich in der Luft kringelte.
„Ja diesen Effekt hat meine Mutter oft auf andere."
