Geheimnis um den Weihnachtsbaum


„Sieh mal, Mammi, es hat geschneit!", rief Betti begeistert, als sie die Treppe hinunter hüpfte, gemächlich gefolgt von ihrem Bruder Flipp, der sich für derlei Hopsereien zu alt fühlte.

„Ja, das habe ich schon bemerkt", erwiderte ihre Mutter lächelnd. „Ich habe die Küchenhilfe vorhin angewiesen, vor der Tür Schnee zu schippen und Salz zu streuen, weil der Milchmann bereits auf den glatten Stufen ausgerutscht ist."

Die Kinder setzten sich an den Frühstückstisch und Betti begann hastig, auf ihrem Toast herumzukauen.

„Schling doch nicht so, Betti!", tadelte sie ihre Mutter.

„Tut mir leid", sagte Betti verlegen. „Ich will bloß möglichst schnell aufessen, damit ich draußen meinen ersten Schneemann in diesem Jahr bauen kann."

„Der Schnee läuft dir schon nicht weg", meinte Flipp und biss genüsslich in sein Marmeladenbrötchen.

„Ganz und gar nicht", bestätigte die Mutter. „Heute Mittag soll es außerdem weiterschneien, so hieß es jedenfalls im Wetterbericht."

„Oh, toll!", freute sich Betti. „Dann können wir einen Schneemann bauen und später eine Schneeballschlacht mit Dicki und Gina und Rolf machen!"

„Da bin ich dabei", nickte Flipp und nahm einen Schluck Saft. „Mal sehen, ob Dicki bei einer Schneeballschlacht noch genau so große Töne spuckt wie in allen anderen Dingen."

„Du bist doch bloß sauer, weil Dicki dich in den Herbstferien im Tischtennis geschlagen hat", entgegnete Betti, die es nicht mochte, wenn jemand etwas Unangenehmes über ihren heißgeliebten Dicki sagte, der nicht gerade an mangelndem Selbstbewusstsein litt und sich nur zu gern vor anderen mit seinen Fähigkeiten brüstete. Die Weihnachtsferien hatten gestern begonnen und bisher hatten die Hillmann-Geschwister keine Gelegenheit gehabt, ihre Freunde Rolf und Gina und natürlich auch Dicki zu treffen. Das sollte sich bald ändern, denn Flipp und Betti hatten die drei eingeladen, sie am heutigen Vormittag zu besuchen.

„Hallo, Betti, hallo, Flipp!", begrüßte Dicki die beiden und umarmte Betti. Flipp schüttelte er die Hand, während Purzel aufgeregt um alle herumtanzte.

„Das ist ja wirklich ein feiner Schneemann in eurem Garten. Habt ihr den gebaut?"

Betti lief rot an vor Stolz.

„Ich hab ihn gebaut, Dicki. Flipp war das zu kindisch", sagte sie mit einem Seitenhieb auf ihren Bruder.

„Ich hab in der Schule bereits einen gebaut", protestierte Flipp. „Dort lag vorgestern nämlich schon Schnee."

Betti war das einzige der fünf Kinder, das nicht in der Kreisstadt aufs Internat ging, was sie manchmal ein bisschen traurig machte, weil sie dadurch ihre Freunde nicht sehr oft sehen konnte. Deshalb war die Ferienzeit umso kostbarer für sie.

Kaum hatten es sich die drei im Wohnzimmer bequem gemacht, da läutete es schon und sie sprangen auf, um Rolf und Gina zu begrüßen. Während die beiden noch im Flur ihre nassen Schuhe, Mützen und Mäntel ablegten, hörten sie einen Schrei von der offenen Haustür her, die Frau Hillmann für den Briefträger geöffnet hielt. Als sich die Kinder umwandten, sahen sie, dass der Briefträger mitsamt seiner Tasche am Boden lag und nun mühsam versuchte, sich aufzurappeln.

„Oh Gott, Herr Smith, haben Sie sich verletzt?", rief Frau Hillmann und eilte ihm zu Hilfe, wobei sie sehr seltsam stakste, um nicht auch noch selbst auszurutschen.

„Nein, ich glaube nicht", ächzte der Briefträger und blickte an seiner schneebedeckten Uniform herab.

Frau Hillmann reichte ihm seine Tasche und half ihm, sich den Schnee von den Kleidern zu klopfen.

„Kommen Sie doch einen Moment herein und trinken auf den Schreck eine Tasse Tee", schlug sie vor. „Es tut mir furchtbar leid, dass Ihnen das passiert ist. Ich habe heute Morgen schon den Schnee entfernen lassen, doch offensichtlich geschah das nicht gründlich genug."

„Ach nein, ist schon gut, Frau Hillmann", wehrte Herr Smith ab. „Der Sturz sah wohl schlimmer aus, als er ist und außerdem war es auch ein wenig meine eigene Schuld. Ich war noch ganz in Gedanken und habe nicht aufgepasst, wo ich hintrete. Da fällt es mir wieder ein… Haben Sie schon von dem Weihnachtsbaumdiebstahl gehört?"

„Dem was?", fragte Frau Hillmann verblüfft, während die Kinder die Ohren spitzten und Herrn Smith erwartungsvoll von der Diele her ansahen.

„Jemand hat letzte Nacht den Weihnachtsbaum am Königinnendenkmal gestohlen", erklärte der Briefträger mit verschwörerischem Blick. „Einfach weg, komplett mit Lichterketten und dem ganzen Schmuck! Und das einen Tag vor Heiligabend!"

Die Spürnasen sahen sich betroffen an. Der Baum war nicht nur irgendein Weihnachtsbaum, sondern er war unter anderem mit handbemalten Glaskugeln geschmückt gewesen, die man kaufen konnte und deren Erlös einem guten Zweck zugeführt werden sollte. Die Kugeln waren von den Einwohnern von Peterswalde bemalt worden. Auch Betti hatte sich an einer versucht und war sehr stolz gewesen, als sie sie persönlich am Baum aufhängen durfte. Die anderen waren nicht mehr rechtzeitig zu Hause gewesen, um selbst an der Aktion teilzunehmen, doch Betti hatte Flipp am Telefon davon erzählt und so erfuhren es schließlich auch Dicki, Gina und Rolf.

„Kümmert sich die Polizei um den Fall?", fragte Frau Hillmann jetzt.

„Ja, Frau Edwards sagte mir, die Polizei sei informiert und müsste gerade auf dem Weg zum Tatort sein. Das heißt, es wird sich wohl nur Herr Grimm damit beschäftigen. Für so eine Bagatelle schicken sie bestimmt niemanden aus der Stadt her", antwortete Herr Smith bedauernd. „So eine Schande, wo die Kugeln doch für eine gute Sache verkauft werden sollte!"

„Es ist wirklich niederträchtig", stimmte Frau Hillmann kopfschüttelnd zu. „Ich hoffe, sie finden die Täter bald – und die Weihnachtsbaumkugeln dazu!"

„Das hoffe ich auch, Frau Hillmann. Aber jetzt muss ich langsam weiter, sonst werde ich nicht rechtzeitig mit meiner Post fertig. Auf Wiedersehen also!"

„Auf Wiedersehen, Herr Smith", sagte Flipps und Bettis Mutter und schloss die Tür. „Habt ihr das gehört, Kinder? Der Weihnachtsbaum wurde gestohlen, zusammen mit Bettis und all den anderen Kugeln!"

„Das ist tatsächlich ein dicker Hund", murmelte Dicki.

„Wau!", sagte Purzel entrüstet.

„Entschuldige, Purzel, dich habe ich nicht gemeint, obwohl du in letzter Zeit wirklich ein wenig zugenommen hast…"

„Wer klaut denn einen Weihnachtsbaum?", fragte Gina ratlos. „Ausgerechnet etwas, das so schwer zu transportieren ist."

„Vielleicht wollte sich jemand einen Scherz machen", meinte Frau Hillmann. „Aber ich bin sicher, dass der Baum wieder auftaucht. Die Diebe werden wohl eingeschüchtert sein, wenn sie hören, dass nun sogar die Polizei ermittelt."

Damit ließ sie die Kinder allein, die nachdenklich ins Wohnzimmer zurückkehrten.

„Betti hat vorhin vorgeschlagen, eine Schneeballschlacht zu machen", begann Flipp. „Wie wäre es, sollen wir das später mal in Angriff nehmen?"

„Ja, sicher", stimmte Rolf sofort zu. „Ich muss dir schließlich noch den Schneeball heimzahlen, den du mir vorgestern in den Nacken gedrückt hast, Flipp."

„Was haltet ihr davon, wenn wir stattdessen erst mal zum Königinnendenkmal gehen?", fragte Dicki unvermittelt. „Der Fall mit dem Baum interessiert mich. Allein schon, weil Wegda die Sache aufklären soll."

„Du traust wohl Wegdas kriminalistischen Fähigkeiten nicht?", erwiderte Flipp grinsend.

„Sagen wir, ich traue den Fähigkeiten der Spürnasen mehr", sagte Dicki, ebenfalls grinsend. „Wir haben bisher noch jedes Geheimnis aufgeklärt. Herr Grimm nicht."

„Dann sollten wir uns aber beeilen, wenn wir ihn noch am Tatort erwischen wollen", meinte Gina. „Vielleicht können wir nämlich mithören, wenn Wegda Zeugen befragt."

„Du hast Recht. Lasst uns besser gleich aufbrechen." Dicki stand hastig von seinem Sessel auf. Ohne Widerrede folgten die übrigen vier seinem Beispiel, und auch Purzel sprang auf und wedelte vor Freude über den unerwarteten Spaziergang.

Normalerweise wären die Spürnasen mit dem Fahrrad zum Königinnendenkmal gefahren, doch im Schnee mit dem tückischen Glatteis darunter war Radfahren einfach zu riskant; also gingen sie zu Fuß. Als sie sich der langgezogenen Verkehrsinsel mit dem Marmordenkmal von Queen Victoria näherten, sahen sie schon von Weitem Herrn Grimms massige Gestalt in der dunklen Uniform, die sich deutlich vom weißen Schnee abhob. Beim Näherkommen erkannten sie auch sein Gesicht, das vor Anstrengung ganz rot war, denn er erhob sich gerade aus der Hocke. Er schien etwas im Schnee begutachtet zu haben, doch jetzt wandte er sich einem kleinen Mann mit Halbglatze und Brille zu, der neben Herrn Grimm besonders klein und zerbrechlich wirkte.

„Sie meinen, diese Spuren gehören zu dem Fahrzeug, dass Sie heute Nacht gehört zu haben glauben?", fragte Herr Grimm und musterte den Mann argwöhnisch. Hinter ihnen befand sich eine mit rotem Filz ausgelegte, schneefreie, runde Fläche, auf der bis zum Vortag noch der Weihnachtsbaum von Peterswalde gestanden hatte, wie Betti erkannte. Außer ein paar grünen Nadeln und einem Abdruck im Schnee, der wohl durch das Umkippen des Baumes verursachte wurde, konnten sie nichts Genaues sehen.

„Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ob es die Diebe waren, aber Motorengeräusche mitten in der Nacht sind hier in der Straße so ungewöhnlich, dass ich jedes Mal davon aufwache", erklärte der Mann und rieb seine Hände gegeneinander, um sie zu wärmen.

„Er hätte Handschuhe anziehen sollen", sagte Betti leise zu den anderen, unglücklicherweise jedoch laut genug, dass Herr Grimm sie hörte und zu den fünf Kindern herumwirbelte. Sein Schnurrbart erzitterte unheilverkündend.

„Ihr schon wieder!", blaffte er. „Was habt ihr hier zu suchen? Hier sind polizeiliche Ermittlungen im Gange, das ist nichts für Kinder! Ihr zerstört noch wichtige Spuren. Wegda!"

Er scheuchte sie mit wedelnden Händen zurück wie eine Schafherde. Die Kinder wichen ein paar Schritte zurück, als sie Herrn Grimms gewichtige Erscheinung auf sich zukommen sahen.

„Wir haben doch gar nichts Unrechtes getan", sagte Rolf verärgert zu den anderen. „Außerdem hat er den Tatort nicht abgesperrt, woher sollen wir wissen, wo wir nicht hintreten dürfen?"

„Ich habe eine Idee", flüsterte Dicki. „Bleibt ihr hier, ich laufe nur schnell zu mir nach Hause, komme aber gleich wieder."

„Was hast du vor, Dicki?", fragte Flipp mit glänzenden Augen.

„Wartet's ab. Und lenkt Wegda ab, sodass sich seine Arbeit möglichst lange hinzieht. Betti, würdest du so lange auf Purzel aufpassen?"

„Sicher. Komm her, Purzel, bleib bei mir. Bis gleich, Dicki."

Purzel sah Dicki erstaunt nach, als dieser ohne ihn davonging, doch da er die anderen Kinder gut kannte, blieb er ohne Widerrede bei ihnen zurück. Die Spürnasen überlegten nun fieberhaft, wie sie Herrn Grimm möglichst lange beim Denkmal festhalten konnten, ohne dass er Verdacht schöpfte, sie würden ihn auf den Arm nehmen.

„Das sieht ja merkwürdig aus", begann Flipp aus sicherer Entfernung, nämlich vom Bürgersteig gegenüber der Verkehrsinsel. „Es scheint, als würde auf der roten Fläche etwas fehlen. Wurde dort etwas gestohlen, Herr Grimm?"

Herr Grimm schnaufte missbilligend und wandte sich Flipp zu.

„Frag doch nicht so scheinheilig! Oder willst du mir erzählen, du hättest dieses Viermeterungetüm von Weihnachtsbaum bisher übersehen?"

„Ach, hier stand ein Weihnachtsbaum?", fragte Gina unschuldig. „Wurde etwa der Baum gestohlen? Wie seltsam!"

Herrn Grimms Gesicht wurde noch röter als es ohnehin schon war.

„Ihr Rotznasen versucht wohl, mich zu veräppeln! Das werde…"

„Wir sind Spürnasen, keine Rotznasen", unterbrach ihn Betti tapfer, obwohl sie Angst vor dem Polizisten hatte, und zwar besonders, wenn er wie jetzt rot anlief und seine Augen aus den Höhlen traten.

„Wir veräppeln sie nicht, wir haben den Baum tatsächlich noch nie gesehen", stellte Rolf kühl fest. „Wir sind nämlich erst gestern angekommen. Wir gehen in der Stadt zur Schule."

Herr Grimm starrte ihn überrascht an. Die Kinder gingen in der Stadt zur Schule? Er hatte bisher immer das Gefühl gehabt, sie würden sich das ganze Jahr über in Peterswalde herumtreiben und ihm bei der Arbeit dazwischenfunken.

„Ja, natürlich, hier gibt es schließlich keine weiterführende Schule", bemühte sich Herr Grimm, Haltung zu bewahren. „Trotzdem hättet ihr ihn gestern schon sehen können, als ihr ankamt."

„Nein, gestern haben wir unsere Oma besucht", erklärte Gina treuherzig. „Sie freut sich immer so, wenn wir kommen."

„Ja, ja", brummte Herr Grimm. Diese Bälger trieben ihn noch in den Wahnsinn.

Der Mann mit der Brille, der sich immer noch die rotgefrorenen Hände rieb, sah der Unterhaltung irritiert zu.

„Entschuldigung, Herr Grimm, brauchen Sie mich noch? Ich muss eigentlich gleich los, weil ich einen dringenden Termin beim Zahnarzt habe und…"

„Schon gut, schon gut, gehen Sie nur! Es sei denn, Sie haben mir noch etwas Wichtiges mitzuteilen, dann sagen Sie es am besten jetzt."

Die Spürnasen lauschten gespannt.

„Nein, ich glaube, Sie wissen schon alles." Der Mann schüttelte bedauernd den Kopf.

„Na schön, Herr Jenning. Falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an. Einen schönen Tag noch."

Herr Jenning blickte ihn verständnislos an. „Ich bekomme gleich eine Wurzelbehandlung, aber ich werde sehen, was ich tun kann. Fröhliche Weihnachten, Herr Grimm." Er nickte dem Polizisten zu und wandte sich zum Gehen.

„Fröhliche Weihnachten", stotterte Herr Grimm.

Die Kinder kicherten.

„Was gibt es denn da zu lachen?", polterte Herr Grimm. „Ihr seid wirklich freche Kinder. Ich sollte mich bei euren Eltern…"

„Verzeihung, können Sie mir sagen, wo der Peterswalder Weihnachtsbaum steht?", fragte jemand.

Herr Grimm drehte sich leicht aus dem Konzept gebracht um – und rang nun erst recht um Fassung. Vor ihm stand der Weihnachtsmann. Oder zumindest ein Weihnachtsmann. Er trug einen roten Mantel mit dazu passender Zipfelmütze und einen prächtigen, weißen Rauschebart. Zu seinen Füßen stand ein gut gefüllter Jutesack. Er sah aus, als wäre er gerade einem Bilderbuch entstiegen, abgesehen davon, dass sich Herr Grimm den Weihnachtsmann immer etwas größer vorgestellt hatte.

„Wer sind Sie denn?", war das Erste, was ihm einfiel.

„Ist das nicht recht offensichtlich?", fragte der Weihnachtsmann zurück und blickte an sich herab.

„Äh, ja, schon, aber was tun Sie hier?"

„Nun, ich wurde von der Gemeinde beauftragt, heute als Weihnachtsmann für Unterhaltung zu sorgen und für den Kauf der Weihnachtsbaumkugeln zu werben. Das geht aber nur, wenn ich auch den entsprechenden Baum dazu habe. Wo ist er also?"

„Hat man Sie nicht informiert? Der Weihnachtsbaum ist letzte Nacht gestohlen worden." Herr Grimm beäugte den Weihnachtsmann misstrauisch.

„Das ist ja kaum zu glauben!", rief der Weihnachtsmann und schüttelte den Kopf.

„So ist es. Aber keine Sorge, die Polizei ist ja bereits vor Ort", antwortete Herr Grimm wichtig.

Gina flüsterte den anderen Spürnasen zu: „Schaut mal auf die Schuhe des Weihnachtsmannes! Die sind ziemlich klein und sie sehen aus wie…"

„…Dickis", vollendete Flipp.

„Es ist Dicki!", hauchte Rolf. „Er hat sich verkleidet und führt Wegda an der Nase herum. Hoffentlich merkt der nichts! Der Jutesack verdeckt zwar Dickis kleine Füße, aber auch sonst ist Dicki ja kleiner als ein Erwachsener."

„Wau, wau!", sagte Purzel vernehmlich und wedelte mit dem Schwanz. Ihm konnte man nichts vormachen: Er hatte Dicki trotz der Verkleidung sofort erkannt.

„Leise, Purzel, du verrätst Dicki noch!", flüsterte Betti und nahm den Scotchterrier auf den Arm, bevor er noch zu Dicki hinüber stürmte und dessen Maskerade auffliegen ließ. Purzel sah sie verständnisvoll an und schnaufte leise. Sein Bellen jedoch erinnerte Herrn Grimm daran, dass sich diese Kinder immer noch am Tatort herumtrieben und ihn bei der Arbeit störten. Ärgerlich wandte er sich ihnen zu.

„Ihr habt jetzt genug gesehen! Geht nach Hause und tut etwas Sinnvolles! Los doch!" Zur Bekräftigung seiner Worte wedelte er erneut mit den Händen, um die Kinder endlich zu verscheuchen.

„Ich glaube, wir können gehen", murmelte Flipp. „Auch wenn ich zu gern gesehen hätte, wie Dicki Wegda hereinlegt."

Scheinbar widerstrebend traten die Spürnasen den Rückzug an. Betti schaffte es nur mühsam, nicht laut loszuprusten, als der Weihnachtsmann ihnen zum Abschied nachwinkte.

„Mögen sie Kinder nicht?", fragte der Weihnachtsmann Herrn Grimm, als die Spürnasen um die nächste Ecke verschwunden waren.

„Es geht nicht darum, ob ich Kinder mag. Es sind diese Kinder dort! Sie sind frech und respektlos und stören mich ständig bei der Arbeit."

„Sie machten auf mich einen ganz munteren Eindruck", erwiderte der Weihnachtsmann. „Aber ich kenne sie ja auch nicht so gut wie Sie, Herr Grimm."

„Das ist richtig. Ich könnte Ihnen ein paar Geschichten erzählen…" Er schüttelte vielsagend den Kopf.

„So kann man sich täuschen", nickte der Weihnachtsmann. „Aber was ist denn nun mit dem Weihnachtsbaum geschehen? Sind Sie den Tätern schon auf der Spur?"

„Ehrlich gesagt, halte ich es für einen Dummejungenstreich. Wer würde schon einen Weihnachtsbaum stehlen? So ein Baum ist nicht viel wert und auch der Schmuck daran bringt nur ein paar Pfund ein, wenn er zugunsten der Hilfsaktion verkauft wird. Nein, ich denke, es waren Jugendliche oder ein paar Dorfbewohner, die zuviel getrunken haben und sich einen Jux machen wollten."

„Tatsächlich? Haben Sie denn schon Beweise?", fragte der Weihnachtsmann interessiert.

„Es gibt bislang keine Beweise, aber ein Indiz", sagte Herr Grimm bedeutungsvoll.

„So?"

„Ich habe einen Handschuh am Tatort gefunden, einen Kinderhandschuh", verriet Herr Grimm dem Weihnachtsmann.

„Einen Kinderhandschuh… Meinen Sie, ein Kind hätte den Baum schultern und davontragen können?"

Herr Grimm begann sich zu fragen, ob dieser Weihnachtsmann ein wenig begriffsstutzig war. „Natürlich nicht ein Kind allein. Der Baum ist vier Meter hoch, den zu tragen schafft kaum ein Erwachsener. Außerdem könnte der Baum gezogen werden können, das wäre viel leichter."

„Ja, schon, aber hätte das nicht Schleifspuren hinterlassen? Und solche kann ich hier nirgendwo entdecken, es gibt nur den Abdruck des umgekippten Baumes und einige Fußspuren."

Herr Grimm sah verblüfft hin. Vielleicht war der Weihnachtsmann doch nicht so langsam, wie er gedacht hatte.

„Und was ist dies hier drüben?", fuhr der Weihnachtsmann fort. „Reifenabdrücke, zu denen ziemlich große Fußspuren hinführen. Das sieht mir nicht gerade nach Kindern aus."

„Nein, das nicht…"

„Haben Sie die Fuß- und Reifenabdrücke schon abgezeichnet und Schuhgröße und Automarke ermittelt?", fragte der Weihnachtsmann und betrachtete die Spuren aus der Nähe.

„Nein, das hab ich nicht. Ich glaube auch nicht, dass das nötig sein wird. In welches Auto würde schon ein so großer Weihnachtsbaum hineinpassen?" Herr Grimm fing an, sich über den Weihnachtsmann zu ärgern. Wie frech dieser sich anmaßte, ihm Ratschläge zu erteilen!

„Außerdem gibt es kein Motiv! Es war ein Kinderstreich, und damit basta! Ich muss nur noch das Kind finden, dem der Handschuh gehört. Dann findet sich auch der Weihnachtsbaum."

Der Weihnachtsmann sah ihn skeptisch an.

„Na, dann wünsche ich ihnen viel Erfolg bei der Suche. Es gibt ja sicher nicht allzu viele Kinder in Peterswalde. Sie müssen sie nur noch alle den Handschuh anprobieren lassen und schon haben sie den Übeltäter."

„Genau", antwortete Herr Grimm patzig.

„Sehr schön. Ich bin sicher, wir sehen uns bei der persönlichen Belobigung durch den Bürgermeister für ihre Verdienste bei der Wiederbeschaffung des Weihnachtsbaumes. Auf Wiedersehen, Herr Grimm und frohes Fest!"

„Frohes Fest", sagte Herr Grimm mürrisch und sah dem Weihnachtsmann nach, der, den Jutesack auf dem Rücken, davonstapfte. So gelungen auch das Kostüm war, so unpassend waren die bunten Winterschuhe, die unter der schwarzen Hose hervorlugten. Wer sich wohl hinter der Maske verbarg? Herr Grimm überlegte, welcher Einwohner von Peterswalde klein genug war, um dafür in Frage zu kommen. Er wurde durch ein fröhliches Bellen von seinen Gedanken abgelenkt und schaute auf. An der nächsten Ecke tanzte ein kleiner schwarzer Scotchterrier um den Weihnachtsmann herum, der vergeblich versuchte, den aufgeregten Hund zu beruhigen.

„Potztausend, das ist doch die Töle von Dietrich Kronstein!", dachte Herr Grimm. Laut rief er: „Seien Sie vorsichtig, ich kenne diesen Hund! Er beißt mit Vorliebe in Hosenbeine."

„Keine Sorge, ich kenne mich mit Hunden aus", kam die gedämpfte Antwort durch den Rauschebart. „Bemühen Sie sich nicht, mir zu helfen."

„Helfen? Lieber nicht, bei meiner Erfahrung mit diesem Tier", dachte Herr Grimm und besann sich wieder auf die Spurensicherung. Hm, da waren ja doch Kinderspuren im Schnee. Ob die wohl dem Täter gehörten? Entsetzt hielt Herr Grimm inne. Das war doch die Stelle, an der der Weihnachtsmann gestanden hatte! Kein Zweifel, auch der Sackabdruck war deutlich sichtbar. In Herrn Grimms Kopf setzten sich nun alle Puzzleteile zusammen: der Hund, die kleinen Abdrücke, der kleine Weihnachtsmann und sein aufdringliches Gebaren…

„Dietrich Kronstein", stöhnte er bestürzt. „Ich habe mich von Dietrich Kronstein an der Nase herumführen lassen!"

Blitzschnell dreht er sich zur Straßenecke um, doch der Weihnachtsmann war verschwunden.

Zwei Straßen weiter kamen die Spürnasen nicht mehr aus dem Lachen heraus. Purzel freute sich mit ihnen und wedelte eifrig, während er von einem zum anderen sprang.

„Mensch, Dicki, das hast du ja wieder toll hingekriegt!", keuchte Flipp, während er sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel wischte.

„Genial, Wegda als Weihnachtsmann verkleidet auszufragen. Er hat nicht einmal Verdacht geschöpft", lachte Rolf.

„Ich dachte schon, Purzel verdirbt alles, als er plötzlich auf mich zugeschossen kam", schnaufte Dicki, der den weißen Bart abgenommen hatte und übers ganze Gesicht grinste.

„Er ist mir leider vorhin entwischt", gab Betti kleinlaut zu. „Er hat sich aus meinem Arm gewunden und ist wie der Blitz losgerannt."

„Na ja, es ist ja alles gutgegangen", beruhigte sie Gina. „Oh Dicki, deine Verkleidung ist wirklich prima! Du hast sogar daran gedacht, dir Wangen und Nase rot zu pudern!"

„Ja, ich dachte, Wegda durchschaut den Schwindel sonst noch und erkennt mich", nickte Dicki. „Aber was den Geschenkesack angeht, muss ich euch leider enttäuschen: Da sind keine Geschenke, sondern nur leere Pappkartons drin…"

„Woher wusstest du bloß, dass wir seit zwei Tagen einen ehrenamtlichen Weihnachtsmann haben, der Werbung für die Hilfsaktion macht?" fragte Betti neugierig.

„Das wusste ich gar nicht. Es war einfach eine spontane Idee", lächelte Dicki.

Dann erzählte er den anderen fünf Spürnasen – auch Purzel lauschte andächtig – was er von Herrn Grimm erfahren hatte.

„So ein Quatsch, als ob Kinder einen Weihnachtsbaum stehlen würden", sagte Flipp verächtlich. „Ich finde es auch wahrscheinlicher, dass jemand den Baum in sein Auto geladen hat und weggefahren ist."

„Aber warum sollte jemand das tun?", fragte Gina verwirrt. „Wie Herr Grimm schon sagte, der Baum hat keinen materiellen Wert."

„Nur weil wir das Motiv nicht kennen, heißt das nicht, dass es keins gibt", belehrte sie Dicki. „Ich bin dafür, wir finden erst mal den Baum und dann kümmern wir uns um das Motiv."

„Einverstanden", stimmte Rolf ihm zu. „Ich bin dabei. Was ist mit euch anderen?"

Natürlich waren alle Spürnasen mit von der Partie und so spähten sie ein paar Minuten später vorsichtig um die Straßenecke beim Königinnendenkmal. Herr Grimm war nirgendwo zu sehen. Er hatte es wohl aufgegeben, nach weiteren Spuren zu suchen. Die Kinder liefen zu der einsamen roten Filzdecke und dem Häufchen Tannennadeln, die wie Schokoladensprenkel überall im Schnee verteilt lagen.

„Seht, hier sind die Reifenabdrücke." Dicki zeigte den anderen die Spuren. „Und dort sind die Schuhabdrücke."

„Es sieht wirklich so aus, als wäre jemand von einem Wagen aus zum Weihnachtsbaum und wieder zurückgelaufen", stellte Flipp fest. „Es können eine oder mehrere Personen sein, weil die Spuren kreuz und quer verlaufen."

„Ich finde die Reifenabdrücke viel spannender als die Fußabdrücke", meinte Dicki. „Die Fußabdrücke können wir nicht zuordnen, das könnte jeder gewesen sein, möglicherweise sogar Herr Grimm selbst, als er den Handschuh oder andere Spuren sicherte. Aber die Reifenspuren sind sehr auffällig. Sie stehen weit auseinander und weiter vorn ist mittig eine weitere, glatte und dünne Spur, so als ob vom Wagenboden etwas herabhing und mitgeschleift worden ist."

„Ja, das sieht komisch aus. Aber Dicki, wir können doch nicht unter jedes einzelne Auto in Peterswalde sehen, um herauszufinden, um welches Auto es sich handelt", sagte Rolf ratlos.

„Das ist wahr. Lasst uns trotzdem das Profil abzeichnen, man weiß nie, ob man das einmal gebrauchen kann. Gut, dass wir hergekommen sind, bevor es wieder angefangen hat zu schneien, sonst wären die Spuren ruiniert gewesen!"

„Ich male das Profil ab", verkündete Flipp und zog Papier und Stift hervor, die er vorsorglich mitgenommen hatte, als sie zur Spurensuche aufgebrochen waren. Er zeichnete das Profil maßstabsgetreu ab, während die anderen ihm dabei andächtig zusahen.

„Meine Linien werden nie so gerade und exakt", sagte Betti bewundernd.

„Rolf, vermiss du schon mal die Größe des Fahrzeugs", ordnete Dicki an.

„Ich hab aber keinen Zollstock oder Lineal", antwortete Rolf.

„Dann miss mit Hilfe deiner Schuhe. Setze immer einen vor den anderen und laufe so die ganze Breite des Wagens ab. Und miss auch den Abstand zwischen Reifen und der komischen mittigen Spur. Zu Hause messen wir deinen Schuh und rechnen die Länge mal der Anzahl der Schuhe, die du gebraucht hast, um den Wagen abzulaufen."

„Oh, das ist wirklich schlau von dir, Dicki. So machen wir's." Und Rolf begann sofort mit der Vermessung.

„Gina, Betti, kommt mal hier rüber. Wir werden im Bereich der roten Filzdecke nach Spuren suchen. Vielleicht haben die Täter etwas verloren, das Herrn Grimm entgangen ist."

Sie suchten und stocherten im Schnee herum, doch sie fanden nichts. Es begann zu schneien.

„So ein Mist", schimpfte Dicki. „Jetzt werden die Spuren bald verschwunden sein!"

„Macht nichts", strahlte Flipp. „Bitte sehr, das Reifenprofil des Fluchtfahrzeugs!"

„Und dazu die Maße in Schuhlängen", ergänzte Rolf.

„Wenigstens etwas", atmete Dicki auf.

„Lasst uns doch erst einmal nach Hause gehen", schlug Betti vor. „Es müsste bald Mittag sein und Mammi sieht es nicht gern, wenn wir zu spät zum Essen kommen. Außerdem können wir hier im Schnee nicht mehr viel ausrichten."

„Du hast recht", stimmte ihr Dicki zu. „Ich sollte außerdem nach Hause gehen und mich umziehen, bevor mich meine Mutter oder, noch schlimmer, Herr Grimm so sehen."

Die Kinder verabschiedeten sich voneinander und kamen überein, sich nach dem Essen bei den Tagerts zu treffen.