1.Kapitel: Sturm
Stille lag über dem einsamen Wirtshaus Zum Grünen Henker, das an einer Passstraße über das Drachengebirge lag. Für gewöhnlich war dies kein schlechter Platz für ein Wirtshaus. Viele Reisende, welche die Berge überquerten, rasteten hier über Nacht, und doch, in jener stürmischen Nacht waren kaum Gäste zugegen. Sicher, der alle fünf Jahre einsetzende Götterwinter nahte heran, und bald würde der Wirt ohnehin mit seiner Familie und der Dienerschaft hinunter in die Stadt ziehen, um dort den Winter zu verbringen. Trotzdem hätte er seine momentanen Biervorräte gerne noch verkauft, ehe er das Wirtshaus dicht machte. Die Fässer konnte er unmöglich mitnehmen, und über die bevorstehenden zehn Wintermonate würde das Bier mit Sicherheit seinen Geschmack verlieren.
In dieser Nacht war einzig ein Händler mit seiner Frau, die merklich jünger war als er selbst, und seinen zwei Dienern hier eingekehrt. Auch er wollte noch in die Hauptstadt, bevor der Schnee die Pässe schloss. Eigentlich wollte er mit seinem Gefolge und seinen zwei vollbeladenen Wägen sofort weiter als er am Nachmittag angekommen war. Auf Anraten des Wirts beschloss er jedoch, den Abstieg, der im Dunklen durchaus gefährlich werden konnte, auf den nächsten Tag zu verschieben. Nun saß er mit seiner Frau, die, wie der Wirt vermutete, schwanger war und wohl bald ihr Kind zur Welt bringen würde, an einem der Tische und nahm eine karge Mahlzeit, bestehend aus Eintopf und Brot, zu sich. Seine beiden Diener saßen etwas entfernt auf der Bank in der Ecke und unterhielten sich.
Zwei Tische neben dem Händlerpaar, in Richtung des Ausschanks und des Kamins in der Ecke des Raumes, saß die vierköpfige Bande von Abenteurern, die sich bereits seit zwei Wochen in dieser Taverne befanden, und es sich zur Aufgabe gemacht hatten, dem Wirt zu helfen, indem sie ihn doch noch seines Bieres entledigten, auch wenn sie nicht wussten, dass dieser noch eineinhalb weitere große Fässer voll im Keller hatte, aus denen er das Fass im Schankraum des Nachts nachfüllte. Sie saßen um den Tisch, tranken ihren dritten Krug Bier an diesem Abend, zu dem sich noch einige weitere hinzugesellen würden, und spielten Karten um die Silbermünzen, welche sie drei Wochen zuvor in einem Trohlhort gefunden und anschließend unter sich aufgeteilt hatten.
Gerade, als der Wirt sich auf seinen Hocker setzen wollte, öffnete sich knarzend die alte, schwere Eingangstüre. Im selben Moment brach aus den Wolken ein ohrenbetäubendes Donnern los, das alle Anwesenden erschaudern ließ. Ein leicht gebückt gehender, hochgewachsener Mann, in einem langen grüngrauen Kapuzenmantel, der vor Nässe triefte, trat ins Licht des Schankraums. Mit der Rechten stützte er sich auf einen langen, mit eisernen Beschlägen versehenen Wanderstab, in den seltsam anmutenden Symbole eingeritzt waren. Er sah sich kurz um und ging dann zielstrebig auf den Ausschank zu. Erst jetzt bemerkte der Wirt, dass der Mann unter seiner Kapuze eine schwarze Augenbinde trug. Nach kurzem Stutzen fuhr er seinen Sohn, der bei den Abenteurern gesessen und deren Geschichten gelauscht hatte, an, dem Herrn gefälligst behilflich zu sein. Sein Sohn Casper sprang erschrocken auf, sah sich schnell um, und lief dann zu dem Neuankömmling. Nachdem er die Augenbinde bemerkt hatte, nahm er die Hand des Fremden und sprach:
„Lasst mich euch helfen, Herr!"
Der Fremde blieb stehen, löste seine Hand behutsam aus der des verwunderten Jungen und antwortete:
„Danke, ich komme zurecht."
Seine Stimme klang zwar freundlich, hatte aber einen kalten, harten Unterton, der den Jungen erschaudern lies.
Er setzte seinen Weg fort, machte einen Bogen um einen Tisch, und setzte sich dann auf einen der Hocker am Tresen. Der Wirt brach die inzwischen eingetretene Stille und sprach den Mann an:
„Guten Abend, Herr", der Wirt pflegte für gewöhnlich einen höflichen Umgangston mit seinen Gästen anzustimmen, „Ihr seid wohl neu in der Gegend? Ich habe euch hier noch nie gesehen. Sagt, was führt euch zu dieser Jahreszeit hierher? Wollt Ihr hinunter in die Hauptstadt?"
„Ihr seid sehr neugierig, guter Mann. Gegen eine gesunde Portion Neugier gibt es sicherlich auch nichts einzuwenden, sie mag bisweilen sogar recht hilfreich sein. Und doch, ist die Grenze, die zwischen gesunder Neugier und gänzlich ungesund-aufdringlichem Verhalten liegt, beizeiten recht klein, sodass überlegt werden sollte, ob eine Frage laut ausgesprochen, oder doch lieber nur gedacht werden sollte. Gleichwohl, ich will eure Fragen gerne beantworten, da ich nichts zu verbergen habe, und auch keinen Groll gegen die Neugier an sich hege. Eure Annahme, ich sei neu in dieser Gegend, ist in soweit richtig, als sie sich auf einen längeren, oder mehrere kürzere, Aufenthalte meinerseits bezieht. Allerdings war ich sehr wohl schon einmal hier, um genau zu sein, ich saß am Fenstertisch dort drüben. Aber es wundert mich nicht, dass Ihr euch nicht mehr an mich erinnert, denn das war vor knapp vierzehn Jahren, und ich selbst war zu diesem Zeitpunkt etwa ebenso alt. Eure andere Vermutung kann ich hingegen vollständig bestätigen. Ich bin auf dem Weg in die Hauptstadt. Wie euch sicher nicht entgangen ist, wütet draußen ein beachtlicher Sturm, sodass ich froh war, das Licht eures Kaminfeuers durch die Fenster hinaus in die Dunkelheit scheinen zu sehen. Da ich eure Neugier nun ja schon ein wenig einschätzen kann, weise ich euch zugleich daraufhin, dass Ihr gar nicht erst zu fragen braucht, was mich in die Hauptstadt hinunter führt, das ist meine Sache, und sie wird es auch bleiben. Stattdessen könnt Ihr mir lieber einen Becher mit eurem stärksten Gebräu füllen, und mir ein Zimmer für die Nacht herrichten lassen. Hier, ich denke dass sollte genügen."
Mit diesen Worten schloss er seinen Vortrag, dem der Wirt mit sprachlosem Erstaunen, und auch etwas verlegen aufgrund seiner eigenen Neugierde, gelauscht hatte. Gleichzeitig kam seine Linke aus den Tiefen seines Mantels hervor, legte sich auf die Bar, öffnete sich, und verlies diesen Platz wieder, so schnell, wie sie hervor gekommen war, jedoch nicht, ohne zwei große glänzende Goldstücke dort zurückzulassen.
Nachdem der Wirt das Gold kurz gemustert, und dann unter dem Tresen verschwinden lassen hatte, nahm er seinen größten Krug vom Regal, und begann ihn mit seinem Jörgtaler Bärentöter zu füllen, auch wenn er dem Fremden nicht zutraute, diesen Becher lebendig an einem Abend leeren zu können. Allerdings wollte er ihn, mit der Aussicht auf noch mehr Gold auch nicht verärgern, indem er ihm von diesem Gebräu, das seinen Name völlig zurecht trug, abriet.
Währenddessen streifte der Fremde seine Kapuze ab, sodass der Wirt ihn nun zum ersten Mal richtig mustern konnte. Nach seinen Worten zu urteilen schien er um die achtundzwanzig Jahre alt zu sein, aber sein Gesicht sah deutlich älter aus. Der Wirt hätte ihn wahrscheinlich auf vierzig oder sogar noch älter geschätzt. Von seiner rechten Stirn zog sich eine ansehnliche, alte Narbe quer über sein Gesicht bis zum Kinn. Sie mochte wohl auch der Grund sein, warum der Fremde seine Augenbinde trug, welche aus edlem tiefschwarzen Echsen-, oder gar Drachenleder bestand. Seine ebenfalls tiefschwarzen Haare trug er kraus und unordentlich abstehend als ob sie ihm völlig gleichgültig wären.
Als der Wirt den Krug gefüllt und seiner Tochter aufgetragen hatte, ein Zimmer für den Fremden herzurichten, begab er sich wieder zu diesem höchst interessanten Mann, der augenscheinlich blind, auch wenn er behauptet hatte, die Lichter des Wirtshauses gesehen zu haben, was bei diesem Wetter ohnehin nicht möglich gewesen wäre, allein und mit recht viel Gold des Nachts im Gebirge umherzog, statt sich irgendeiner Reisegruppe oder Karawane anzuschließen. Er stellte den Krug vor dem Fremden ab, doch noch bevor er eine Andeutung machen konnte, es mit diesem Trunk nicht zu übertreiben, erhellte sich die Miene des Fremden sichtbar und er sagte:
„Ah, Jörgtaler Bärentöter! Solch einen Schatz hätte ich hier nicht erwartet. Na dann, guter Mann, immer ran damit."
Dann nahm er den Krug, und trank, unter den entsetzten und ungläubigen Blicken des Wirts und der Abenteurer, die sich zwischenzeitlich wieder ihrem Kartenspiel zugewandt hatten, und bei diesem, fast freudigen, Ausruf erstaunt die Köpfe hoben, den halben Krug auf einmal, bevor er ihn wieder absetzte und Luft einsog. Nachdem der Wirt die Bitte des Fremden entgegen genommen hatte, ihm nach diesem ersten, noch einen weiteren Krug zu füllen und dieser nachgekommen war, zog er sich aus dem Schankraum zurück und lies den seltsamen Fremden allein an der Theke sitzen. Dieser schien ebenfalls nicht besonders auf weitere Gesellschaft erpicht und blieb deshalb mit seinen Gedanken alleine.
Inzwischen war nun knapp eine halbe Stunde vergangen. Die Abenteurer spielten immer noch Karten, der Händler und seine Frau hatten ihr Mahl beendet und saßen jetzt schweigend an ihrem Tisch. Der Fremde hockte immer noch auf seinem Sitz an der Theke, wobei er gedankenverloren die dahinterliegende Wand anzustarren schien dabei gelegentlich einen Schluck aus seinem zweiten Krug nehmend, was dem Wirt hin und wieder ein Kopfschütteln entlockte. Er selbst war dazu übergegangen die benützten Gläser und das dreckige Geschirr zu putzen.
Plötzlich wurde die Türe des Gasthauses aufgestoßen. Sofort wandten sich alle Köpfe der Türe und den Neuankömmlingen entgegen, bis auf den des Fremden, der überhaupt nicht reagierte. Die restlichen Anwesenden beobachteten, wie nacheinander zwei grimmig dreinblickende und ein dritter, auffällig selbstsicher lächelnder Mann das Wirtshaus betraten. Die zwei Ersten sahen sich ähnlich, wie ein Ei dem anderen. Augenscheinlich waren sie Zwillinge. Beide waren recht klein und etwas untersetzt, nichtsdestotrotz konnte man unter ihren schmuddeligen grauen Hemden ihre Armmuskeln spielen sehen. Beide trugen je eine große, schwer aussehende Holzkeule in der einen, und einen rauen Sack in der anderen Hand. Als sie die erstaunten und teilweise verängstigten Gesichter der Anwesenden wahrnahmen, fingen sie beide an dümmlich zu grinsen. Dann traten sie einen Schritt auseinander, und ließen den dritten zwischen sich hindurchtreten. Er war wohl an die zwei Meter groß, und damit etwa zwei Köpfe größer als seine beiden Gefährten. Außerdem war er gänzlich anders gekleidet als sie. Er trug eine rote, weit ausladende Robe, die mit goldenen Brokatstickereien verziert war. An den Füßen trug er zwei kniehohe, schwarze Stiefel, und um seinen Hals hing etwas, was wohl am besten als Schal aus grüner, glänzender Seide bezeichnet werden konnte. Ein Ende des Schals hing ihm über der rechten Schulter bis zum Gürtel, der die Robe zusammenhielt, hinunter, und das Licht, das sich auf ihm brach, bildete faszinierend anzuschauende Reflexionen. An seiner linken Seite hing ein Dolch an seinem Gürtel. Er sah sich kurz im Raum um, und wandte sich dann mit einem ruhigen, selbstsicheren und ein wenig spöttischen Tonfall an die Anwesenden:
„Meine sehr verehrten Damen und Herren, dies ist ein Überfall. Bitte bleiben Sie ruhig, und händigen Sie alles von Wert an meine beiden Brüder aus, die gleich zu Ihnen kommen werden. Danke."
Er lächelte noch einmal in die Runde, bevor er seine Brüder mit einem Fingerschnipsen dazu veranlasste auf die Tische der Abenteurer und des Händlerpaars zuzugehen. Als sie losliefen, sprangen die vier Abenteurer wie auf ein Zeichen hin gleichzeitig von Ihren Stühlen auf, und zwei von ihnen zogen ihre Schwerter. Die beiden Zwillinge blieben stehen und wandten sich zu ihrem älteren Bruder um. Dieser lächelte wieder und schüttelte leicht den Kopf:
„Aber, aber. Wer wird denn gleich?"
Mit diesen Worten schoss sein rechter ausgestreckter Arm nach vorn. Seine Hand zeigte mit dem Zeige- und dem Mittelfinger auf den Bierkrug, den einer der Abenteurer noch in der Hand hielt. Gleichzeitig umfasste seine linke Hand das Handgelenk seines ausgestreckten Armes. Nach einem kurzen Moment der Stille, zerbarst der Bierkrug mit einem ohrenbetäubenden Knall. Die Scherben flogen sirrend durch den Raum, und prasselten gegen die Wand, ebenso wie das Bier, das noch im Krug gewesen war. Der Abenteurer, der den Krug gehalten hatte, lies erschrocken den losen Henkel fallen, den er immer noch festhielt und betrachtete seine zerschnittene Hand. Ein Zweiter der Vier war nicht ganz so glimpflich davongekommen. Er kreischte auf vor Schmerz, lies sein Schwert fallen, ging auf die Knie, und presste seine Hand auf sein linkes Auge, unter der bereits Blut hervorquoll. Der Händler hatte sich schützend vor seine Frau geworfen, und der Wirt war hinter der Theke abgetaucht, von wo er jetzt wieder hervorkam. Die Zwillinge waren schon bei der ersten Handbewegung ihres Bruders auf die Knie gefallen und hatten ihre Säcke vor ihre Köpfe gehoben. Nun standen Sie wieder auf und sahen sich um. Während die zwei unverletzten Abenteurer versuchten ihren Kameraden zu helfen, erhob der offensichtliche Magier wieder seine Stimme:
„So, jetzt gibt es hoffentlich keine Schwierigkeiten mehr, sonst platzen als nächstes Köpfe. Kard! Fann! Macht weiter!" Seine beiden Brüder machten sich wieder auf den Weg und sammelten das Silber der Abenteurer ein, die sie grimmig anstarrten, sich jedoch nicht mehr zur Wehr setzten. Dann nahm sich Kard das Händlerpaar vor, während Fann auf den Fremden zuging, den er jetzt entdeckt hatte. Als er bei diesem angekommen war, dieser jedoch nicht reagierte, brüllte er ihn an:
„Hey, alter Mann! Du bist blind, das sieht man, aber bist du etwa auch taub, dass du nicht reagierst? Los, antworte!"
Er stieß den Fremden an, dieser blieb jedoch immer noch völlig regungslos sitzen. Da erschallte wieder die Stimme des Magiers.
„Fann, was ist los bei dir?"
„Der Blinde hier reagiert nicht! Was soll ich machen?", kam Fanns Antwort zurück.
„Durchsuch ihn und mach dann mit dem Wirt weiter!"
„Wie du meinst, Chimm!"
Fann besah sich den Fremden genauer. Geldbeutel schien dieser keinen zu haben, allerdings bemerkte Fann bei einer genaueren Betrachtung, dass er an seiner linken Seite etwas am Gürtel trug, dass wie ein kunstvoll geschmiedeter, silberner Schwertgriff ohne Schneide aussah. Quer durch die Seiten des Griffes zogen sich feine schwarze Linien, die von einem schwarzen Material herrührten, das an der unteren Seite des Griffes, an der normalerweise die Schneide sitzen müsste, eine langgezogene, glatte Sechseckform beschrieb. Anscheinend hatte die Schneide ursprünglich ebenfalls aus diesem Material bestanden und war dann irgendwann abgebrochen.
„Ha! Das Ding da sieht wertvoll aus. Dafür sollten wir einen schönen Batzen Gold bekommen."
Mit diesen Worten wollte Fann seine Hand nach dem Griff ausstrecken, um ihn vom Gürtel zu lösen. Als sich seine Hand langsam auf den mysteriösen Gegenstand zu bewegte, zeigte der Fremde zum ersten Mal eine Reaktion auf die drei Räuber. Kurz bevor Fann den Schwertgriff berührte, sagte er leise aber auffallend deutlich:
„Das würde ich an deiner Stelle lieber nicht tun."
Fann hielt inne, und sah ihn an:
„Du kannst ja sprechen,"
rief er spottend, um seine Verunsicherung darüber, dass der Blinde ihn überhaupt bemerkt hatte, und anscheinend sogar genau wusste, was er gerade tun wollte, zu überspielen. Dann griff er zu.
Die Zeit schien anzuhalten. Im selben Augenblick, in dem Fann den Griff berührte schien alles Licht aus dem Schankraum verschwunden zu sein, einzig ein schwaches Leuchten, das von den beiden Gestalten am Tresen ausging, war zu erkennen. Dann war der Spuk auch schon vorbei und sowohl Zeit, als auch Licht machten wieder das was sie normalerweise tun sollten. Im Gasthaus war es vollkommen still geworden und niemand bewegte sich, bis Fann vornüberkippte und regungslos liegenblieb.
Sofort lies Kard seinen Sack fallen und rannte zu seinem Zwillingsbruder. Zuerst rüttelte er ihn an der Schulter, dann drehte er ihn auf den Rücken. Erstaunt stellte er fest, dass sein Bruder keineswegs, wie angenommen, bewusstlos war, sondern eine völlig ausdruckslose Miene aufgesetzt hatte und überhaupt nicht mehr auf seine Umwelt zu reagieren schien. Kard stand auf. Er drehte sich zu dem Fremden, der gerade einen Schluck aus seinem Krug nahm, und Kard gar nicht beachtete:
„Hey, du! Was hast du mit ihm gemacht?"
Kard hob Fanns Keule vom Boden auf, und holte damit aus, um dem Fremden den Schädel einzuschlagen. Doch als das schwere Holz die Stelle erreichte, an der der Fremde gesessen hatte, war dieser nicht mehr dort, sodass der Schlag ins Leere ging. Stattdessen stand der Fremde neben Kard hinter seinem Hocker. Kard wunderte sich zwar, wie dieser blinde Mann so schnell ausweichen konnte, holte jedoch noch einmal mit der Keule aus. Diesmal würde er ihn nicht verfehlen. Noch während sein Schlag auf den Fremden zuflog rammte ihm dieser mit erstaunlicher Geschwindigkeit und Stärke seinen eisenbeschlagenen Wanderstab in den Bauch, woraufhin Kard seine Keule fallen lies und röchelnd zusammenbrach.
An der anderen Seite des Raumes fing Chimm an zu schreien, dann fasste er sich wieder etwas, und rief dem Fremden zu:
„Dafür wirst du büßen, du Hund!"
Sein Arm streckte sich in Richtung des Fremden aus, und seine Hände nahmen dieselbe Stellung ein, wie zuvor, als er den Bierkrug platzten lies. Die Anwesenden hielten den Atem an, doch diesmal platzte nicht etwa der Kopf des Fremden, sondern ein fast kopfgroßer Feuerball flog von den Fingerspitzen des Magiers auf den Fremden zu. Dieser drehte sich in Chimms Richtung und verschränkte blitzschnell seine Hände vor der Brust, bevor der Feuerball ihn erreichte. Knapp einen Zentimeter vor dem Kopf des Fremden zerstob der Feuerball in tausende Funken um den Fremden herum, ohne ihn zu berühren.
„Aber, das",
stammelte Chimm, fassungslos, was gerade passiert war. Er starrte den Fremden an, der nun seinerseits die Hand in Chimms Richtung durch die Luft stieß, die Finger weit auseinander gespreizt. Chimm spürte, wie ihn eine unsichtbare Kraft von den Füßen riss, und ihn mit ausgestreckten Armen und Beinen gegen die hinter ihm liegende Wand drückte, wo er knapp einen halben Meter über dem Boden, kurz unter der Decke, wie angenagelt hängen blieb. Einzig seinen Kopf konnte er noch bewegen, sodass er beobachten konnte, wie der Fremde langsam auf ihn zulief, und die staunenden Abenteurer sich wieder zu rühren anfingen und seine beiden Brüder banden.
Als der Fremde direkt vor ihm stand, und ihn ansah, fragte Chimm ihn gepresst, da er Probleme beim Atmen hatte, weil er immer noch von unsichtbarer Macht gegen die Wand gedrückt wurde, und sein Brustkorb deshalb schmerzte:
„Wer..seid..ihr?"
„Mein Name ist Tradon Klihgaahn. Vielleicht hast du schon mal von mir gehört."
Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf Tradons Gesicht aus, als Chimm bei diesem Name ungläubig aufkeuchte.
„T..T..Tra..Tradon? D..das kann nicht wahr sein. Ihr seid wirklich Tradon, der Schüler unseres ehemaligen Khirgaahns, Meister Sariano vom goldenen Berg?"
Tradon musterte ihn misstrauisch:
„Was soll das heißen, ehemaliger Khirgaahn? Willst du damit etwa sagen, dass...?"
„Ihr wisst noch nichts davon? Aber,... seid ihr etwa nicht benachrichtigt worden? Euer ehemaliger Lehrer und Meister der Magie, ist vor bereits über fünf Wochen verstorben."
Also doch... , dachte Tradon. Vor eben etwas mehr als fünf Wochen hatte er gespürt, dass er zu seinem Meister zurückkehren sollte, und sich daraufhin auf den Weg in die Hauptstadt gemacht, die er nun bald erreichen würde.
...Aber warum wurde ich nicht benachrichtigt, wie es eigentlich Vorschrift wäre. Vielleicht hatte sie ja ihre Finger dabei im Spiel, um mich fernzuhalten... , dachte er weiter.
„Wann und wie genau ist es geschehen?"
„Vorgestern waren es genau fünf Wochen. Wie es geschehen ist, ist nicht bekannt. Angeblich soll er einfach so, im Schlaf verstorben sein. Aber es gibt Gerüchte, dass er ermordet wurde. Auch wenn das natürlich völlig ausgeschlossen ist, immerhin war er der mächtigste Magier dieser Existenzebene. Niemand hätte ihn töten können."
Außer vielleicht... , diesen Gedanke wollte Tradon lieber nicht weiterverfolgen, zumindest nicht jetzt. Es würde sich früh genug herausstellen, was wirklich passiert war.
Tradon drehte sich zum Wirt um:
„Hey, Wirt, hast du vielleicht ein Pferd, oder ein sonstiges Reittier?"
„Ein Pferd wohl nicht, aber einen Reitdrache. Hier oben im Gebirge ist das bei weitem praktischer als ein Pferd. Warum fragt ihr edler Herr?"
„Ich werde mir den Drache ausleihen. Nimm das Gold für das Zimmer als Pfand, und behalte es sobald ich ihn zurückgeschickt habe. Ich nehme an, er steht im Stall, oder?"
Mit diesen Worten wandte sich Tradon um, und ging auf die Türe zu, die in den Hof und zu den Ställen führte, wobei er die sprachlose Miene des Wirtes nicht zur Kenntnis nahm. Dieser wollte zwar Einspruch erheben, dass der Fremde sich so einfach seinen Drache leihen wollte, noch dazu in solch einer Nacht, bei der nicht sicher war, ob Drache und Reiter überhaupt heil im Ziel ankommen würden. Jedoch sagte er nichts, da er an das Gold des Fremden dachte, und er sich so ebenfalls die Belohnung für die Rettung vor dem Räuberpack sparen würde. Das erhaltene Gold war zwar bei weitem nicht genug für den Drache, jedoch, sollte der Fremde den Drache wirklich, wie behauptet, heil zurückschicken, so wäre es ein ansehnlicher Gewinn. Außerdem musste er natürlich bedenken, dass dieser Fremde ein Magier, noch dazu ein recht mächtiger, auch wenn ihm dessen Name nichts gesagt hatten, aus solchen Dingen hielt er sich lieber raus, war. Mit Magiern jedenfalls lies man sich am besten gar nicht ein. Und anlegen sollte man sich mit ihnen erst recht nicht.
Beim Durchqueren des Raumes richtete Tradon noch einmal das Wort an die Abenteurer:
„Haltet euch bereit. In ein paar Minuten, wenn ich etwas weiter entfernt bin, wird der Zauber nachlassen. Dann könnt ihr ihn von der Wand holen."
Damit verließ er den Schankraum und suchte den Stall auf.
Dort angekommen fand Tradon den Lehrling des Wirtes im Stroh liegen und dösen. Er fuhr erschrocken hoch als der schwere Riegel der Drachenbox dumpf auf dem Boden aufschlug.
„He, Ihr da! Was habt I..."
Der Rest seines Ausrufs ging im ohrenbetäubenden Kreischen des Drachen unter. Tradon stand dem Drache ruhig gegenüber, der versuchte, diesen Fremden mit Drohgebärden einzuschüchtern. Er hatte sich fast vollständig aufgerichtet, den Kopf mit den drei spitzen Hörnern nah unter der Decke des drei Meter hohen Raumes. Sein Schwanz zuckte unablässig hinter ihm durchs Stroh und schlug, peitschengleich, gegen die Wände. Er versuchte seine majestätischen Flügel auszubreiten, was ihm in der Box nicht ganz gelang, nichtsdestotrotz bot er einen imposanten Eindruck. Seine grünen Augen funkelten Tradon aus einem inneren Glanze heraus an. Dieser schien den Blick des Drachen direkt zu erwidern. Nach einem langen Augenblick erlosch das Feuer der Drachenaugen. Er senkte den Kopf und legte sich auf den Strohboden und faltete die Flügel wieder an seiner Seite zusammen.
Tradon machte einen Schritt in die Box, woraufhin der Drache aufschnaubte, den Kopf jedoch demütig gesenkt hielt. Tradon wandte sich um:
„Wie heißt sie?",
fragte er den Junge. Dieser war noch ganz erstaunt über den ungewöhnlichen Fremden, und dessen Umgang mit dem Drachen. Jedoch ließ der Tonfall des Fremden keinen Zweifel daran offen, dass er kein zweites Mal fragen würde, also schluckte er seinen Unwillen hinunter und antwortete mürrisch:
„Pien-Kahr, das heißt gr..."
„...Grüner Stern, ein passender Name", schloss Tradon, mit einem Blick auf den wundervollen grün geschuppten Leib des Drachen, die begonnene Erklärung des Jungen, mit der dieser eigentlich den Fremden belehren wollte. Doch dass nun auch das nicht geklappt hatte, machte ihn noch wütender. Als er sah wie Tradon auf Pien-Kahr zuging, glaubte er nochmals eine Chance zu haben, um den Fremden zu verärgern. Er rief:
„He, stopp! Sie mag zwar den Kopf gesenkt haben, aber nur weil sie das Interesse an Euch verloren hat. Wenn Ihr ihr zu nahe kommt wird sie Euch den Eurigen abreißen! He! Hört Ihr mich nicht? Sie tötet Euch, Ihr Einfaltspinsel!"
Mit starrer Miene beobachtete er, wie Tradon ihn völlig ignorierte, und weiter auf den Drache zuging. Seine Wut wandelte sich langsam in Sorge und Angst um den seltsamen Fremden. Wenn diesem etwas zustieße würde der Wirt mit Sicherheit ihn dafür verantwortlich machen, denn er hatte den Fremden nicht daran gehindert, die Box zu öffnen und zu betreten. Sein Mund öffnete sich. Er wollte noch eine Warnung rufen, doch es war bereits zu spät. Tradon hatte Pien-Kahr erreicht und ihr seine Hand auf den Kopf gelegt. Doch diese ließ sich das ruhig gefallen. Sie gab mit keinerlei Regung zu erkennen, dass sie es überhaupt bemerkt hatte. Verwirrt, aber auch erleichtert, stieß der Junge den zuvor angehaltenen Atem wieder aus.
„Hey, Bursche, öffne das Tor!"
Der Junge verkniff sich einen Widerspruch und öffnete murrend das große Stalltor, das hinaus in die sturmgepeitschte Nacht führte. Schnell kauerte er sich in die Ecke des Raumes neben dem Tor, um nicht von den Windböen durchnässt zu werden, die den Regen in den Stall trieben. Er sah, wie Tradon auf Pien-Kahr aus der Box geritten kam, und sie auf das offene Tor zutraben ließ. Als er dabei war das Tor zu passieren, brüllte der Junge ihm gegen den Wind ankämpfend zu:
„Das ist Wahnsinn!"
Dann glitt Pien-Kahr lautlos, grün-schimmernd hinaus in die Nacht. Kopfschüttelnd verschloss der Bursche das Tor hinter ihnen.
Draußen erhob sich Pien-Kahr in die Luft. Hin und wieder gegen eine Windböe ankämpfend, begann sie ihren Weg hinunter ins Tal. Im Gegensatz zu ihr schienen Wind und Regen Tradon nichts auszumachen. Er schien den Sturm nicht mal zu bemerken. Mit grimmigem Gesichtsausdruck trieb er Pien-Kahr unerbittlich vorwärts. Nach wohl einer halben Stunde Fluges mit halsbrecherischem Tempo hörte der Regen schlagartig auf. Die Wolken verzogen sich und der sternenübersäte Nachthimmel kam zum Vorschein. Nachdem der Regen aufgehört hatte, ließen sich nun unten im Tal die Lichter von Rarahndis, der Hauptstadt des Königreichs von Unkur, erkennen.
Eine Weile flogen sie über einen ausgedehnten Wald hinweg auf die näher kommenden Lichter zu, bis unter ihnen der Fluss Karnahr auftauchte. Tradon wusste, dass Karnahr, der hier oben den Bergen entsprang, unten im Tal Rarahndis durchquerte. Also beschloss er dem Fluss bis hinunter zu folgen.
Nach einer weiteren dreiviertel Stunde erreichten sie die äußeren Bereiche von Rarahndis. In dieser Richtung reichte der Stadtkern, der von einer fünf Mann hohen Mauer umschlossen wurde, bis an den Fuß der Berge. In die anderen Richtungen schloss sich direkt an die Stadtmauer ein ausgedehntes Gebiet von Wohnhäusern und Handwerksbetrieben an, das die eigentliche Stadt darstellte. Das Stadtbild wurde von den gelblichen Steinen geprägt, aus denen ein Großteil der Häuser gebaut waren. Diese Steine wurden täglich in großen Mengen aus den Ebenen südöstlich des Landes herbei geschafft. Sie bildeten im ganzen Land das bevorzugte Baumaterial für Häuser, mit Ausnahme der Berge und der nördlichen Inseln, da sie einfach zu bearbeiten und dennoch robust waren, und sie hielten die Häuser gut isoliert, sodass die Wärme im Sommer draußen und im Winter drinnen gehalten werden konnte. Außerdem waren sie billig in der Anschaffung, da die Arbeiter in den Steingruben der Ebenen täglich Hunderte davon aus dem Boden schlugen. An dieses Gebiet an, das sich in einem Bogen von circa zweitausendfünfhundert Metern Radius um den Stadtkern herum zog, schlossen sich weitläufige Ländereien. Wohl die Hälfte dieser Gebiete gehörte den Adligen und Grundbesitzer der Stadt. Der Rest befand sich im Besitz von teils freien, teils leibeigenen Bauern, die hier inmitten ihrer Felder und Weiden mit ihren Familien und ihrer Dienerschaft auf ihren Höfen lebten, und je nach Entfernung zur Stadt, meistens kaum etwas mit dieser zu tun hatten, jedoch allesamt als Einwohner zählten und Steuern an die Stadtherrn und den König abtraten. Momentan lagen die Felder und Weiden in Erwartung des bevorstehenden Drachenwinters kahl und brach da.
Tradon flog auf die Stadtmauer zu. Natürlich waren die Tore geschlossen, schließlich war es mitten in der Nacht, doch das störte ihn nicht weiter. Er ließ Pien-Kahr etwas höher steigen und segelte einfach über die Mauern hinweg.
Er wusste, dass sein ursprüngliches Ziel, der Palast der magischen Ordnung, nun, nach dem Tod des Khirgaahn bis zur Bestimmung seines Nachfolgers, leer stehen würde. Also lenkte er Pien-Kahr zielstrebig auf die magische Akademie der Stadt zu.
Kurz darauf erreichten sie das Akademiegelände, dass wiederum von einer separaten Mauer umgeben war. Da Tradon wusste, dass die Akademie magisch geschützt sein würde, ließ er Pien-Kahr vor dem Tor auf der Straße aufsetzen. Er stieg ab und beruhigte Pien-Kahr. Dann wandte er sich dem schweren Tor in der Mauer zu und pochte dreimal laut mit seinem Stab dagegen. Kurz darauf öffnete sich in Kopfhöhe eine kleine Klappe im Tor, hinter der ein Gesicht zum Vorschein kam, das Tradon mürrisch musterte.
„Was ist?", fragte ihn der Torwächter.
„Ich verlange den Akademieleiter zu sprechen."
„Tss. Komm morgen Früh wieder." Damit wollte der Wächter die Klappe bereits wieder schließen, doch Tradon schrie:
„Nein, jetzt sofort!" Seine Wut, die sich während dem Flug etwas gelegt hatte, entflammte neu.
„Nachts haben nur Magier Zutritt. Und jetzt verschwinde endlich."
„Ich bin Magier", rief Tradon ihm zu.
„Magier also, hmm? Und welchen Ranges?"
„Rang Vier."
„Ha, Rang Vier reicht nicht, um um diese Zeit noch Einlass zu fordern. Wenn du unbedingt rein willst, kannst du das Tor ja aufbrechen."
Dieser Äußerung ließ der Wächter schallendes Gelächter folgen. Dann schlug er die Klappe zu. Tradon konnte das Gelächter von jenseits der Mauer jedoch immer noch hören. Er wusste, dass das Tor aus einer Legierung von Silber und Karandit bestand, und natürlich magisch gegen Eindringlinge abgesichert war. Aber er wusste auch, dass ihn das in seiner Wut nicht aufhalten würde. Er legte seine rechte Handfläche gegen das Tor und spürte die Kräfte, die durch das magische Metall flossen. Mit einem Schrei ließ er seinen Willen in das Tor strömen. Er sah, wie seine Willenskraft durch das Tor floss, und dabei die Schutzzauber einfach hinfort spülte. Nach einem kurzen Moment der Stille zersprangen, wie auf ein geheimes Kommando hin, gleichzeitig alle vier Scharniere, die das Tor bisher mit der Mauer verbunden hatten. Mit lautem Krachen fiel es in den Innenhof der Akademie, den Tradon über das zerstörte Tor hinweg betrat. Nachdem er sich kurz umgesehen hatte, lenkte er seine Schritte auf den Haupteingang zur Akademie, ohne den sprachlos auf das Tor starrenden Wächter zu beachten.
Tradon durchquerte die Eingangshalle der Akademie, trat durch eine Türe im hinteren Teil der Halle in einen Seitengang und bestieg die Treppe an dessen Ende, die zu den privaten Gemächern des Akademieleiters führte. Am oberen Ende der Treppe lag wiederum ein Gang, von dem sowohl links, als auch rechts fünf Türen abgingen. Tradon zögerte kurz und überlegte, wo er den Akademieleiter finden würde. Während er noch nachdachte, hörte er leises Kichern aus der dritten Türe der rechten Seite kommen. Nachdem er diese Türe geöffnet hatte, stand er im Schlafgemach des Akademieleiters. Dieser räkelte sich auf seinem riesigen Himmelbett, wo er gerade dabei war, sich mit drei kaum bekleideten, jungen Mädchen zu vergnügen. Angewidert richtete Tradon das Wort an die Mädchen:
„He, ihr. Lasst uns allein!"
Erschrocken hörten die Mädchen auf zu kichern und sahen fragend zum Akademieleiter, ob den Worten dieses Fremden Folge zu leisten sei. Der Akademieleiter selbst war recht ungehalten über die plötzliche Unterbrechung, und warf Tradon einen zornigen Blick zu. Dann sprach er beruhigend zu den Mädchen:
„Achtet nicht auf das, was er sagt, und macht ruhig weiter, meine Täubchen."
Er streichelte einem der Mädchen über die langen braunen Haare, und beachtete Tradon nicht weiter. Tradon indes machte dieses dekadente Verhalten des Akademieleiters immer wütender. Er hob seine rechte Hand und schnippste dreimal. Woraufhin sich vor den überraschten Augen des Akademieleiters die drei Mädchen eine nach der anderen in schneeweiße Tauben verwandelten, die den Raum gurrend durch das offene Fenster verließen.
„W...Was soll das? Wer bist du?", stammelte der Akademieleiter.
„Bantolo, du fette Kugel von einem Akademieleiter. Hast du mich etwa vergessen, kaum dass ich ein paar Jahre fort war?", donnerte Tradon ihn an.
Er machte ein paar Schritte auf ihn zu und kam vor dem Bett zum Stehen. Bantolo setzte sich erschrocken auf und musterte ihn, dann stammelte er:
„Tradon,...,wenn ich gewusst hätte, dass du kommst..."
„Hör auf dich einzuschmeicheln!"
„Ich wollte ni..."
„Vielmehr interessiert mich, warum ich nicht über den Tod meines Meisters informiert worden bin. Das wäre deine persönliche Aufgabe gewesen. Also?"
„Natürlich, aber Mahnine..."
„Mahnine? Dacht ich's mir doch. Und wie hat sie dich überredet? Hat sie dich bedroht, oder bestochen? Vielleicht hat sie dir ja eine Nacht mit ihr angeboten. Es wäre dir zuzutrauen, all deine Prinzipien für solch niedere Gelüste aufzugeben."
Bantolo stockte der Atem. Er wollte nach Luft schnappen, doch irgendetwas hinderte ihn daran. Erneut versuchte er tief Luft zu holen, doch es gelang ihm nicht. Er geriet in Panik, denn er spürte, dass ihm die Luft bereits knapp wurde. Entsetzten machte sich in seinem Gesicht breit und er begann zu röcheln. Plötzlich, ohne Vorwarnung, löste sich die unsichtbare Barriere in seinem Hals auf und er sog gierig die Luft ein. Vor sich hörte er Tradon ein verächtliches Schnauben ausstoßen.
„Wie erbärmlich. Wenn du auch nur halb so viel Aufwand in deine Aufgaben stecken würdest, wie du für dein Vergnügen aufbringst, wäre dir das grade wohl erspart geblieben."
Bantolo blickte auf, und sah Tradon aus hasserfüllten Augen an, während er sich den Hals rieb. Er flüsterte:
„Was willst du von mir?"
„Nun, zunächst erwarte ich, dass du mich in spätesten drei Minuten unten im Saal empfängst, wie es sich gehört, und mir dann ausführlich berichtest, was sich zugetragen hat."
Damit drehte sich Tradon um und verließ das Schlafgemach des Akademieleiters.
Zurück in der großen Eingangshalle der Akademie wandte Tradon sich der großen Türe gegenüber dem Eingangsportal zu, die in den Hauptgang und das Treppenhaus der Akademie führte. Dort nahm er die zweite Tür auf der rechten Seite und betrat damit den Sitzungssaal des magischen Rates zu Rarahndis. Da erhob sich eine schläfrige Stimme:
„W...was? Ihr stört die Vers...oh, was zum? Nur ein Traum."
Die Stimme gehörte zu einem weißhaarigen Alten, der in einem großen Lehnstuhl in der Nähe des erkalteten Feuers geschlafen hatte, und beim Geräusch der Türe hochgeschreckt war. Nun schien er Tradon entdeckt zu haben, denn er rief ihm zu:
„He, ihr da! Wer seid ihr, und was wollt ihr hier?"
Dann brach er in ein gewaltiges Husten aus. Als er sich wieder gefangen hatte, tastete er nach seiner Brille, setzte sie auf seine runzlige, spitze Nase, und beäugte den Neuankömmling argwöhnisch. Plötzlich hellte sich seine Miene auf. Ein ungläubiges Lächeln trat an die Stelle seines vormals misstrauischen Gesichtsausdruckes. Er erhob sich bedächtig von seinem Stuhl, ohne Tradon aus den Augen zu lassen, dann streckte er sich und ächzte laut auf, als seine alten Knochen laut knackten. Er machte ein paar wackelige Schritte auf Tradon zu. Tradon selbst verfolgte das Schauspiel ebenfalls erstaunt und amüsiert. Ein leichtes Lächeln war in seinem Mundwinkel erschienen. Als der Alte schließlich genau vor ihm stand, musterte er ihn erneut, wobei er seinen Kopf in den Nacken legen musste, denn Tradon war knapp zwei Köpfe größer als er selbst. Dann erhob er erneut seine krächzende Stimme.
„Tradon, Junge, du bist es tatsächlich. Ich dachte du wärst, ... nun ja, in fernen Ländern weit über Naknar hinaus. Welch eine Freude. Doch sag, hast du die schlechte Botschaft denn bereits vernommen?"
Bei diesen Worten trübte sich der Blick des Alten und sein Lächeln erstarb.
„Ja, leider. Deswegen bin ich auch mitten in der Nacht hier aufgetaucht. Ich war bereits bei Bantolo. Er wird gleich herunter kommen, um mir Rede und Antwort zu stehen."
„Ich verstehe,...", murmelte der Alte.
„Weißt du de..." Tradon hielt inne, drehte sich zur Türe um und rief:
„Alles, was ich sage, ist hier drinnen ebenfalls zu vernehmen, Bantolo! Du musst also nicht vor der Türe stehen bleiben."
Die Türe öffnete sich und Bantolo trat mit zerknirschtem Gesicht ein.
„Ich wollte euch nicht stören", grummelte er vor sich hin. Dann fuhr er fort:
„Aber bitte setzt euch doch. Und Euch, Meister Samahtas muss ich leider bitten den Raum zu verlassen, wir haben wichtige vertrauliche Gespräche zu führen. Ich bin sicher Ihr versteht das."
„Aber sicher. Ich werde euch nicht weiter stören." Damit wollte Samahtas den Raum verlassen, doch Tradon hielt ihn zurück und sprach:
„Ich denke, das wird nicht nötig sein. Samahtas ist ein enger Freund von mir und Mitglied des Rates. Ich habe nichts dagegen, dass er hier bleibt, Bantolo."
Tradon setzte sich auf einen der großen schwarzen Stühle, die rund um den Versammlungstisch angeordnet waren. Samahtas ließ sich neben ihm nieder. Bantolo nahm ihnen gegenüber Platz. Nach einigen Momenten der Stille, in denen sie sich angestarrt hatten, begann Tradon zu sprechen:
„Nun, Bantolo, wie ich vorhin oben bereits erwähnte, würde ich nun gerne von dir erfahren, warum ich nicht vom Tod meines Meisters Sariano vom goldenen Berg, seines Zeichens Hüter des göttlichen Rechtes und Khirgaahn, oberster Meister der Magie, informiert wurde? Also, ich warte."
„Nun ja, ...also,...wie du weißt, wird in solch einem Fall der Magische Zirkel, aus den Mitgliedern der Akademieräte und den obersten Magiern des Palastes, einberufen. Ebenso dieses Mal. Im Zirkel wurde dann offiziell beschlossen, den neuen Khirgaahn durch ein Turnier der Magier zu bestimmen, wie es seit Jahrhunderten Tradition ist."
Bantolo sah Tradon an, und hoffte, dass dieser damit zufrieden wäre. Tradon indes wandte sich an Samahtas:
„Samahtas, du als Mitglied des Rates von Rarahndis wirst mir Bantolos Behauptungen sicher bestätigen können, oder?"
Bantolo sog hörbar den Atem ein.
„Prinzipiell ja. Allerdings hat er einige wichtige Details ausgelassen, möchte ich meinen. Doch mögen mich meine alten Ohren getäuscht haben. Hat er denn von den zusätzlichen Beschlüssen des Zirkels berichtet?"
Tradon sah zu Bantolo:
„Hast du?"
„Dazu wollte ich gerade kommen", sagte dieser schnell.
„Der Zirkel hat auf Vorschlag eines Mitglieds hin über einige Änderungen abgestimmt."
„Und die wären?", warf Tradon ungeduldig ein.
„Zum Einen wurde der erforderliche Rang zur Teilnahme am Turnier auf Fünf angehoben."
„Was?", donnerte Tradon, und sprang dabei so heftig von seinem Stuhl auf, dass dieser laut polternd nach hinten stürzte. Nach einem Moment der Stille antwortete Bantolo:
„Ja,... also,... es ist so, dass der Zirkel der Meinung ist, dass zu viele Magier der Ränge Drei und Vier existieren, als dass sie alle zum Turnier zugelassen werden sollten. Viele der niederen Magiern sind nach Ansicht des Zirkels nicht zum Posten des Khirgaahn geeignet."
Er hielt inne und sah Tradon gespannt an. Dieser starrte ihn ungläubig und wütend an, machte jedoch keine Anstalten etwas zu erwidern. Nach einigen Augenblicken begann Bantolo wieder zu sprechen:
„Außerdem hat der Zirkel daraufhin beschlossen, auch auf die Benachrichtigung der Magier niederer Ränge als Fünf zu verzichten, um den nötigen Aufwand zu reduzieren."
Tradon wartete, bis Bantolo geendet hatte, nickte, richtete seinen Stuhl wieder auf, und setzte sich.
„Ich hätte noch eine Frage an dich. Von welchem Mitglied des Zirkels stammten diese Vorschläge?"
Bantolo schluckte:
„Nun, ähh,... also, die Vorschläge,... der Zirkel,..."
„Ich höre?"
„Mahnine. Die Vorschläge kamen allesamt von Mahnine", sagte Samahtas. Bantolo warf ihm einen zornigen Blick zu. Tradon seufzte. Dann wandte er sich erneut an Bantolo:
„Du kannst gehen Bantolo. Wenn noch etwas ist, lasse ich dich holen", sprach er und winkte ihn hinaus. Bantolo erhob sich zerknirscht und verlies dann den Raum, ohne sich noch einmal umzusehen.
Nach ein paar Minuten des Schweigens fing Tradon an vor sich hin zu murmeln:
„Ich wusste es... ich hab es genau gewusst. Dieses hinterhältige Miststück." Die letzten Worte hatte er wütend herausgebrüllt und gleichzeitig mit der Faust auf den Tisch geschlagen.
„So beruhige dich doch, Tradon, Junge."
„Und was jetzt? Sie versucht ganz offensichtlich mit allen Mitteln mich vom Turnier fernzuhalten."
„Hmm..."
„Aber ich werde teilnehmen, ich muss... Und ich werde herausfinden, ob Mahnine irgendetwas mit dem Tod meines Meisters zu tun hatte."
„Dabei kann ich dir nicht helfen, Junge, aber ich hätte da eine Idee, wie du am Turnier teilnehmen könntest."
„Wirklich? Wie?" Tradons Tonfall hellte sich ein bisschen auf. Trotzdem klangen immer noch Anspannung und Wut in seiner Stimme mit.
„Nun ja, wie du ja weißt, war es bisher allen Magiern ab Rang Drei erlaubt, am Turnier teilzunehmen. Es war also eines der speziellen Privilegien, ab Rang Drei teilzunehmen. Dieses Privileg wurde jetzt vom Zirkel aufgehoben. Allerdings bringt neben dem Rang auch der Status gewisse Privilegien mit sich. So genießt ein eingetragener Lehrmeister ebenfalls das Privileg, am Turnier teilzunehmen. Verstehst du, Junge?" Samahtas lehnte sich zurück, atmete tief durch, und sah Tradon erwartungsvoll an. Tradon starrte einige Augenblicke still vor sich hin, dann erwiderte er:
„Du meinst also,... nein, nein. Es muss einen anderen Weg geben."
„Aber das ist doch perfekt. Du suchst dir einen Schüler und kannst doch am Turnier teilnehmen."
Tradon stand auf und wandte sich in Richtung der Tür:
„Es ist spät. Wir sollten zu Bett gehen. Wir sehen dann morgen weiter. Aber ich bin keinesfalls begeistert von dem Gedanken."
„Ja, du hast wohl recht," Samahtas sah Tradon ratlos an und flüsterte fast, „aber du solltest es dir noch einmal überlegen, Junge. Nun komm, ich sorge dafür, dass du ein Zimmer bekommst."
Die beiden verließen den Sitzungssaal. Tradon folgte Samahtas bis zu den Quartieren der Bediensteten. Dort weckten sie einen Diener, den Samahtas anwies, Tradon ein Gästezimmer für den Rest der Nacht herzurichten. Dann verabschiedete sich Samahtas von ihm und machte sich auf zu seinem eigenen Zimmer. Der Diener indes führte Tradon zu einem bereits für unvorhergesehenen Besuch vorbereiteten Gästezimmer. Er wünschte ihm angenehme Nachtruhe und ließ ihn dann allein in seinem Zimmer zurück. Die Einrichtung war einfach gehalten und bestand neben einem schmucklosen Holzbett aus einem kleinen Tischchen, das neben der Türe stand und einem dazugehörigen Stuhl.
Tradon ließ sich auf das Bett sinken, ohne sich die Mühe zu machen, Stiefel oder Mantel abzulegen. Seinen Stab lehnte er neben dem Bett an die Wand.
Seine letzten Gedanken bevor er einschlief beschäftigten sich mit dem, was ihm bevorstand:
Einen Schüler also, hmm. Ich hasse es, wenn so etwas passiert.
