Pairing: Ennis/Jack
Rating: M
Disclaiming: Ich bin nicht Annie Proulx und werde es leider auch nie
sein - daher gebührt jeder Respekt und jede Anerkennung für die wunderbaren
Original-Charaktere von Ennis und Jack ihr und nur ihr alleine. Ich borge mir
die beiden Helden nur aus und gebe sie danach wieder zurück, versprochen.
Selbstverständlich verdiene ich mit meinen Geschichten kein Geld ich vertreibe
mir mit ihnen vor allem die Zeit.
Feedback: Ja, bitte!
19. März 2001, 9:00 ET
„David, verdammt noch mal ! Wir haben doch schon tausend Mal darüber gesprochen. Ich versteh einfach nicht, was in letzter Zeit mit Dir los ist !"
„Was mit mir los ist? Jack, ich spreche mittlerweile mit Deinen Zimmerpflanzen, ich höre das Gras wachsen, ich unterhalte mich mit meinem eigenen Echo in Deiner Wohnung, das ist mit mir los. Du bist dauernd unterwegs. Kongress hier und Messe da, dann da ein Geschäftsessen und dort eine Präsentation. Ich hänge hier jeden verdammten Tag allein in Deiner schicken Wohnung rum und spiel mit mir selbst."
„Wie gern wär ich Dein Schwanz. Ich kann nicht behaupten, dass meiner Deine Aufmerksamkeit bekommt, we..."
„Das liegt daran, dass Du NIE DA BIST!!!"
„Davy, ich ertrag Dein Gejammer nicht mehr. Ich bin der verdammte Sales-MANAGER und kann es mir um VERRECKEN nicht aussuchen, wie viel ich wann und wo zu arbeiten habe, KANNST DU DAS NICHT VERSTEHEN ? Und es ist ja nicht so, dass Du das nicht wusstest, als wir uns kennen gelernt haben, oder?"
„Jack ... vor drei Jahren, als wir uns getroffen haben hab ich Dich deutlich häufiger gesehen als vier Stunden pro Monat. Und Du hast mir versprochen, dass Du kürzer trittst. Jack, ich hab einfach keine Lust mehr, so zu leben. Da ist jeder Telefonsex befriedigender."
„Telefonsex?! Scheiße, Dave, dann weiß ich jetzt auch, warum die letzte Rechnung so exorbitant hoch war. Siehst Du? Ein Grund mehr, warum ich arbeiten gehen muss. Du wirst langsam teuer, Freund."
„Phh, als ob Geld Dich kitzelt, Jack. Und hey, lass mir das bisschen Befriedigung, wenn ich mich schon fühle, wie Deine kleine Hure, die nach der Arbeit auf Dich wartet."
„DAVID ! HÖR AUF ! Halt den Mund ! Ich habe Dich NIE gebeten, auf mich zu warten. Geh selbst arbeiten, tu was für Dich, leb Dein eigenes Leben. ... Und geh online – das ist billiger als telefonieren."
„Jack, Du bist ein echtes Arschloch weißt Du das? Du ka ..."
Das Knallen der Tür unterbrach die beginnende Hasstirade und Jack Twist, seines Zeichens Sales-Manager der Firma Newsome's mit Hauptsitz in New York, stieg mit Magenschmerzen, zitternden Händen und vor Wut rauchend in den Aufzug, fuhr vom 14. Stock seiner Apartment-Wohnung in Manhattan ins Erdgeschoss und musterte sich auf der 20-sekündigen Fahrt im goldhinterlegten Spiegel. Ein Meter achtzig, Anfang Dreißig, schlank, durchtrainiert, kurze schwarze Haare, leichte Grauansätze an den Schläfen - nichts, was sein Friseur Alfredo nicht korrigieren kann - schwarzer Anzug, mit Weste, hellblaues Hemd, das seine Augen zur Geltung brachte, beigefarbene Krawatte. Er sah gut aus, yeah !
Mann von Welt in den besten Jahren, erfolgreicher Harvard-Absolvent, summa cum laude 1998, im Anschluss Einstieg ins Sales-Management bei Newsome's, Computer-Industrie, direkter Wettbewerber von Microsoft und verdammt, unter seiner Führung haben sie Bill das Fürchten gelehrt. Seit einem Jahr Manager der Direktionen USA und Kanada, zuständig auch für den Geschäftsaufbau in Übersee, vor allem in Europa.
Sein Arbeitstag hat sechzehn Stunden, seine Arbeitswoche mindestens zehn Tage, sein Mobiltelefon klingelt unablässig. David hat vorgeschlagen, es direkt an sein Ohr zu implantieren, um beim Annehmen eines Gesprächs Zeit zu sparen. Er hat sich während Jack's letzter Geschäftsreise nach Toronto die Mühe gemacht auszurechnen, wie viel Zeit er pro Jahr dadurch sparen würde. Er ist auf drei Stunden gekommen. Drei verdammte Stunden ! In einem Jahr !
Exakt die gleiche Zeit, die David gebraucht hatte, die Zahlenkolonnen zu erstellen und Jack hat ihm dann in Sekunden vorgerechnet, dass drei gewonnene Stunden seiner Zeit mit drei verschwendeten Stunden von David's für einen solchen Blödsinn auf plus minus Null herauskommen, weswegen alles beim Alten blieb, außer, dass Jack David an diesem Abend bis zum Totalausfall sämtlicher Gehirnaktivitäten vögelte, was aber mehr daran lag, dass Jack einfach keinen hoch bekam.
Doch was im Business klappt, klappt auch zu Hause und Jack Twist wäre ohne sein Naturtalent zur Schauspielerei niemals so erfolgreich im Verkauf. Und so schlief David schließlich mit der Gewissheit ein, sie beide hätten den Fick des Jahrhunderts durchlebt.
Wenigstens ein Mal konnte er den Mann, mit dem Jack Twist seit drei Jahren Tisch, Bett und zu seinem Leidwesen auch sein Bankkonto teilte, zufrieden stellen. Jack seufzte und fragte sich auf dem Weg ins Erdgeschoss nicht zum ersten Mal, wie um alles in der Welt er an David Miller gelangen konnte und warum zur Hölle er es nicht fertig brachte, einen Schlussstrich unter eine Beziehung zu setzen, die nicht einmal mehr ein Zustand war, sondern für beide Seite schlichte Quälerei.
Die Antwort war einfach – aber unbequem. Jack Twist hasste die Einsamkeit, er hasste es, nach seinem Arbeitsmarathon alleine in seiner Wohnung zu sitzen, sich auszuwringen und dabei Selbstgespräche zu führen. Das war nicht das, was er sich unter einem schönen Leben vorstellte –Jack war ein Genussmensch und er liebte die Gesellschaft.
Außerdem – bei Tageslicht betrachtet: wann zur Hölle sollte er einen alternativen Lebenspartner auftreiben? Zwischen dem Meeting mit dem Vorstand und seiner Frühstückspause, auf dem Weg ins Büro oder in einer seiner Pinkelpausen? Unmöglich, das war auch für einen Jack Twist nicht zu schaffen.
Die Ironie seiner Lebens- und Partnersituation war allerdings: Angebote hatte er genug. Frauen, die ihm zu Füßen lagen, angefangen bei seiner 50-jährigen Sekretärin, notorische Single mit dem Hang zu destruktiven Partnerschaften bis hin zu den Stewardessen auf seinen zahlreichen Business-Trips, die ihm zwar reihenweise kostenfreie Drinks offerierten aber bei weitem keine körperliche Befriedigung boten, denn Jack Twist war schwul. Frauen gehörten nicht auf seine Agenda. Und das war das Problem.
Wie oft schon hatte er mit mühsamen und mitunter haarsträubend-peinlichen Ausflüchten massivste Annäherungsversuche abwehren müssen, wie oft schon eindeutigen Angeboten zweideutig aus dem Weg gehen müssen – er hatte irgendwann aufgehört zu zählen.
Das schlimme war, dass sein Boss, LD Newsome langsam aber sich er auch die Uhr ticken hörte und mittlerweile mit mehr Nachdruck als früher versuchte, Jack mit seiner zwar bildhübschen und klugen Tochter Lureen zu verkuppeln aber auch ihr fehlte das für Jack Twist wichtigste Attribut einer möglichen körperlichen Anziehung: das Y-Chromosom.
Und so verbrachte Jack Twist mehr Zeit damit, die Freiheit seines Ringfingers zu verteidigen, als sich konstruktiv um die Wiederherstellung seines momentan desaströsen Privatlebens zu kümmern.
Mit einem sanften Ruck kam der Fahrstuhl im Erdgeschoss an und Jack nahm seinen metallic glänzenden Samsonite Koffer und seine schwarz-lederne Aktentasche in dem er den neuesten Schrei eines Mini-Notebooks mit W-Lan verstaut hatte, prüfte den Sitz seines Mobiltelefons, steckte den iPOD in seine Anzugtasche, ging durch die grau marmorierte Eingangshalle, dem Tagesportier ein „Hey Phil, was machen die Enkelkinder? Bin wieder für ein paar Tage weg. See you later alligator." zurufend und auf der Straße nach Luft schnappend, als die dicke New Yorker Märzluft für Sekunden seinen Sauerstoffgehalt im Blut auf ein Null-Level reduzierte.
Ein energischer „TAXI"-Ruf und ein lebensmüder Schritt auf die vierspurige Straße bringen ihn seinem Ziel näher: John-F.-Kennedy Flughafen New York.
19. März 2001, 11:00 ET
Taxi bezahlen, Koffer schnappen, Telefon klingelt. Mein neuester Klingelton ist die Titelmelodie von "Stargate". Kommt extrem gut an - und ich steh auf Rick Anderson. Cooler Typ. Von McGyver zum Weltraumflottenkommando. Das nenn ich Karriere. Könnte mir auch gefallen.
„Ja, Mr. Newsome, bin auf dem Weg, stehe vor dem Haupteingang, checke gleich ein. ... Nein ... nein, der hat sich nicht bei mir gemeldet. Geben Sie Grace Bescheid, sie soll ihn für mich abfangen. Bin die nächsten zehn Stunden nicht erreichbar. ... Nein ... ok ... nein, es geht um ein Geschäftsvolumen von 500.000 Dollar. Jepp. Peanuts, richtig. ... In Ordnung, ich melde mich bei Ihnen, sobald ich angekommen bin."
Blick auf die Uhr, verdammt, das wird knapp, schnell in Richtung Eingang.
„STOP, Sir, Sie müssen mich noch bezahlen." – oh Scheiße ja, wo ist mein Portemonnaie? Verflixt, ich weiß doch genau, dass ich es ... ah, hier ist es.
„Wie viel macht das?"
„45 Dollar."
„45 Dollar? Du meine Güte, die Inflation schlägt ja gnadenlos zu. Letzte Woche hab ich 35 bezahlt." „Dieses Mal war der Service besser, Mister."
Service, haha, der Mann gefällt mir. Ich geb ihm 50, wechseln dauert eh zu lange.
Jetzt aber rein, Schalter suchen, Business-Class, direkte Abfertigung, einer der wenigen Vorteile von Vielfliegern.
„Guten Tag Mr. Twist. Wie geht es Ihnen heute?" – oh nein, nicht die schon wieder, die hat so eine Art ... das ertrag ich nicht ... Verdammt, das ist der Nachteil der Vielfliegerei. Das Bodenpersonal im Check-In kennt mich mittlerweile besser als meine eigene Ma.
„Danke gut, Kate. Und selbst?"
„Kann nicht klagen. Wo wollen wir denn heute hin, Mr. Twist?" – ich sag's doch, nicht zum Aushalten.
„ICH fliege heute nach Hannover."
„Hanover in Idaho, Michigan, Illinois, Massachusetts oder in Minnesota, Pennsylvania …" – ich staune. Wusste gar nicht, dass so viele Städte in den USA Hannover heißen.
„Honey, nichts von alle dem. Hannover in Deutschland, Europa, der alte Kontinent."
„Oh. Oh? Was tun wir denn da Mr. Twist? – na, was sag ich? UNERTRÄGLICH.
„Business, Ma'm. Cebit, weltgrößte Messe für Computer- und Informationstechnologie" – jetzt hab ich sie …
„Oh, wie … aufregend … Mr. Twist. Nun ja, dann einen guten Flug – und besuchen Sie uns bald wieder." – oh nein, dieser Augenaufschlag, lächeln Twist – und jetzt nichts wie weg.
Schnelle Orientierung. Transatlantikflüge, Europa, immer geradeaus, dritte Kurve links – das übliche Spiel. Erneuter Blick auf die Uhr, Boarding Time ist in zwei Minuten abgelaufen. Verdammter Mist, Kate, diese ewige Sabbelei …
„Letzter Aufruf für Mr. Jack Twist, Flug FRA 2988. Ich wiederhole: Letzter Aufruf für Mr. Jack Twist."
Scheiße, das hat mir gerade noch gefehlt. Ich renne. Ich hasse rennen am Flughafen. Wie unwürdig.
Noch 300 Meter. Zum Glück laufe ich jeden Morgen meine fünf Kilometer. Ich bin fit. Und ich schwitze trotzdem.
„Ah, Guten Tag Mr. Twist. Nun, so sehr hätten Sie auch nicht hetzen müssen. Das Flugzeug wäre nicht ohne Sie gestartet." - Das sagt sie mir JETZT?
„Gut zu wissen, Ma'm. Dann lass ich mir beim nächsten Mal mehr Zeit."
Ab durch die Sicherheitskontrolle, dauert nur Sekunden. Frag mich immer wieder, ob das alles so seine Richtigkeit hat. Mein Notebook und mein Handy haben die nicht gecheckt. Wie einfach wäre es, mal eben einen Riegel Dynamit mit ins Flugzeug zu schmuggeln und der nächstbesten Stewardess, die an meinen Ringfinger will drohend unter die Nase zu halten.
Ha, die Vorstellung amüsiert mich.
Rein ins Flugzeug. Wie ich die Dinger hasse. Ich habe Flugangst. Trotz meiner 700.000 Meilen Flugkilometer, die ich bestimmt schon angesammelt habe und von deren Kunden-Bonuspunkten ich mir wahrscheinlich mittlerweile eine Villa in Florida Beach kaufen könnte.
Flugzeuge ängstigen mich. Ich versteh nicht, wie ein Haufen Metall in der Luft bleiben kann. David hat während einer meiner längeren Abwesenheitszeiten mal darüber was gelesen. Sein Referat war gut ausgearbeitet, zugegeben. Und er wollte mir helfen, akzeptiert – aber verstanden hab ich es trotzdem nicht und die Angst ist geblieben.
Diese enge Hülle, das ewige Sitzen auf einem Fleck, die komplette Isolation von allen modernen Kommunikationsmitteln, die Ruhe, die auf einmal aufkommt – und die Gedanken, die anfangen zu fließen… Ich merke jetzt schon, wie die Beklemmung in mir hochsteigt.
Schnell ein Super-Pepp Reisekaugummi eingeworfen, hastig drauf rumkauen, Sitz suchen. Reihe S, Platz 45. Hab nie verstanden, wie die Nummerierung in den Flugzeugen funktioniert. Ich hab mal auf einem Kurzstreckenflug die Sitze gezählt und die Alphabetisierung nachgestellt. Hat nicht geklappt. Aber mit Zahlen hab ich es auch nicht so. Ich bin Verkäufer. Auf hohem Niveau – aber ein Verkäufer.
Reihe S, Platz 45. Fensterplatz. Super ! Stoßgebet an Grace, meine Sekretärin. Sie weiß, was mir gut tut.
Verdammt, der Platz daneben ist belegt. Manchmal, wenn LD gnädig ist oder ich einen guten Abschluss gemacht habe, dann überrede ich Grace, mir zwei nebeneinander liegende Plätze zu buchen. Ich hasse Sitznachbarn. Ich hasse das Gequatsche – vor allem auf den Langstreckenflügen.
Diesmal hab ich kein Glück. Der Typ auf theoretisch meinem zweiten Platz liest Zeitung. Huh, ein ganz schlaues Kerlchen, was? Na ja, das kann er jetzt erst mal vergessen, ich muss da nämlich durch.
„Entschuldigen Sie, Sir. Dürfte ich eben mal auf meinen Platz?"
Der Kerl blickt hoch. Dunkelbraune Augen mit einem Goldkranz um die Iris. Wo gibt's denn so was? Du meine Güte, was für ein Blick … uh …
„Mr. Twist?" Oh mein Gott, was für eine Stimme. Tief und sanft vibrierend, rau und von ganz unten kommend. Musik in meinen Ohren.
„Äh, ja, woher wissen Sie …?"
„Der Ausruf."
„Der Ausruf? Welcher Ausruf?"
„Am Flughafen. Bin zwei Minuten vor Ihnen am Schalter gewesen und hab es gehört. Sie sind der letzte, der ins Flugzeug gekommen ist – ergo …" Vielsagend blickte er mich an und ein leichtes Lächeln erschien in seinem Gesicht, das mir direkt bis auf die Lenden schlägt. Schnell setzen …
„Äh, dürfte ich dann mal …?"
„Wie .. oh ja .. klar."
Zusammenfalten der Zeitung. Sorgfältiger Mensch. Ich hätte das Papier irgendwie auf ein kleineres Format gebracht, er nimmt sich die Zeit und legt die Lagen aufeinander. Sexy, irgendwie. Er steht auf. Ein Meter fünfundachtzig – Pi mal Daumen, grob geschätzt, vielleicht auch ein oder zwei Zentimeter mehr. Mathematik ist nicht so mein Ding, das sagte ich ja schon und im Schätzen war ich auch immer schon ziemlich schlecht. Breite Schultern, schmale Hüfte, und seine Beine … Heilige Mutter Gottes … METERLANG … Diese Beine um meine Hüfte geschlungen … Setzen, schnell hinsetzen.
An ihm vorbei. Leichtes After-Shave. Davidoff? Tabacc? Keine Ahnung, aber er riecht verführerisch gut. Ich presse mich an ihm vorbei. Becken einziehen, es wäre zu peinlich, wenn er merkt, dass ... Ich hasse Flugzeuge, das habe ich schon mal gesagt. Diese Enge – selbst in der Business Class.
Ich steh jetzt direkt vor ihm. Braunes Jackett, beigefarbenes Hemd, der oberste Hemdknopf steht offen, weiche, leicht gebräunte Haut schimmert ... TWIST ! Ok, was noch? Jeans, er trägt Jeans, Levi's 501, so wie es aussieht. Knackig. EXTREM knackig. Scheiße, ich brauch dringend was zu trinken. Ich weiß nicht, wann mein Mund zuletzt so trocken war. Elende Lauferei, verdammte Klimaanlage im Flugzeug, das wird's sein. Ganz bestimmt.
Wir blicken uns an. Wir lächeln. Oh, wie sexy .. strahlend weiße Zähne und so viele Lachfältchen. Und diese Augen. Hab ich vorhin gesagt, sie sind dunkelbraun? Bei näherer Betrachtung tippe ich auf einen Mokkaton – oder doch eher zimtfarben? Es könnte auch Erdbraun sein ... nein, das nicht, das ist zu ordinär ...
„Gentlemen, würden Sie bitte Platz nehmen? Wir starten gleich."
Oh, Platz nehmen, ja richtig. Wir schauen weg. Leichte Röte überzieht sein Gesicht. Wie süß ist das denn bitte?. Ich setz mich hin. Verstohlen wisch ich mir meine Hände an der Hose ab. Seit wann leide ich unter schwitzenden Extremitäten?
Mein Telefon summt. Das darf doch nicht wahr sein. Schneller Blick auf das Display. David. Oh nein ... !
„Ich hier, wer da?"
„Jack, Honey. Ich wollte mich nur noch mal von Dir verabschieden. Es tut mir leid, wie wir ..."
„Dave... Ich kann jetzt nicht sprechen. Neben mir steht eine reizende Stewardess, die mit der Menükarte bösartig fuchtelnd vor mir steht. Ich muss das Handy ausmachen. Wir reden, wenn ich gelandet bin."
Wegdrücken. Das Telefonat und das schlechte Gewissen. Ist ja nett, dass er anruft, aber David hat grüne Augen ... und braune blicken mich gerade irritiert an.
„Bösartig fuchtelnde Stewardess? Womit sind Sie denn kürzlich geflogen? Mit einer Privatmaschine des Mossad?"
Haha – noch so ein Witzbold. Aber ich kann nicht anders, ich muss lachen ! Ehrlich, ich liebe trockenen Humor.
Der Mann gefällt mir. Er gefällt mir sehr. Ich strecke meine Hand aus und halte sie ihm hin.
„Jack Twist."
Er erwidert meinen Händedruck. Fest und warm und ... oh mein Gott, es passiert schon wieder. Der Handschlag geht ohne Vorwarnung durch meinen Magen und von dort direkt in meinen Schwanz. Der freut sich. Ich mich nicht. Was geht hier vor?
„Del Mar." Und wieder diese Stimme. Sexy as hell ...
"Uh, haben Ihre Eltern Ihnen keinen Vornamen geschenkt?"
„Ennis."
„Schön, Sie kennen zu lernen, Ennis del Mar."
Ich schaue auf meine Uhr.
11:35 ET.
Noch genau zehn Stunden und 45 Minuten Flugzeit. Danke, Grace. Danke, danke, danke, dass Du mir dieses Mal keinen zweiten Platz gebucht hast.
Du weißt eben, was mir gut tut ...
19. März 2001, 11:37 ET
„Ladies und Gentlemen. Wir begrüßen Sie hier an Bord der Boeing 747 der American Airlines auf unserem Flug nach Frankfurt. Die Flugzeit beträgt zehn Stunden und dreißig Minuten. Wir dürfen Sie nun bitten, auf Ihren Sitzen Platz zu nehmen, sich anzuschnallen, die Tische hochzuklappen, die Sitzlehnen waagerecht zu stellen und das Rauchen einzustellen.
Wir möchten Sie um einige Minuten Ihrer Aufmerksamkeit bitten, damit wir Sie mit den üblichen Sicherheitsvorkehrungen vertraut machen können ..."
Blablablahhhhh ... Das ist ein weiterer Nachteil der Vielfliegerei. Die ewige Dudelei der Sicherheitsmaßnahmen – nur dass man hier nicht vorspulen kann, wenn man das Programm schon kennt. Und ich kann es mitsprechen. Ich träume davon.
Ich habe in einem Anflug total verzweifelter Frustration mal überlegt, ob ich eine der Stewardessen einfach bewusstlos küsse und dann ihren Platz einnehme. Ich könnte das, ganz sicher ... Bei mir würde das ganze nur etwas ehrlicher klingen.
„Unter ihrem Sitz finden Sie – wenn Sie Glück haben – die Schwimmweste. Versuchen Sie, diese im Notfall anzuziehen, ich wünsche Ihnen viel Glück dabei, denn ich habe keine Ahnung, wie das gehen soll. Probieren Sie's und wenn Sie es geschafft haben, geben Sie mir Bescheid, ich stelle einen Eilantrag für das Guiness-Buch der Rekorde. Anziehen einer Schwimmweste im taumelnden Sturzflug auf 3,5 Quadratzentimeter und das genau innerhalb von 30 Sekunden. Respektable Leistung, wenn Sie mich fragen. Und nun noch ein paar Anmerkungen in eigener Sache: Im Falle des plötzlich abfallenden Kabinendrucks pressen Sie als erstes Daumen und Zeigefinder auf Ihre Nase und versuchen Sie durch die Ohren auszuatmen, um dem Ohrendruck entgegen zu beugen. Erst dann, wenn Sie wieder im Vollbesitz aller Ihrer Sinnesorgane sind, folgen Sie den Anweisungen des Personals. Die von der Kabinendecke herabfallenden Sauerstoffmasken helfen Ihnen, Ihr Leben in einer Situation zu verlängern, in der sie sich wünschten, der Tod würde schnell und barmherzig zuschlagen..."
Ja, ich habe Flugangst und ich traue hier niemandem, nicht einmal mir selbst. Röhrende Motoren kündigen meinen nahenden Untergang an. Eiskalte – und immer noch verschwitzte – Hände klammern sich halt- und hilfesuchend an ein unschuldiges Stück Plastik, das sich Armlehne schimpft und so niedrig angebracht ist, dass ich nach jedem Flug mit einer akuten Wirbelschieflage aus dem Flieger steige.
Uhh, Moment, Plastik? Links ja, rechts ... nein ... Oh wie peinlich.
„Sorry", murmele ich und ziehe meine Hand zurück, die sich panisch an Mr del Mar's Linker festgeklammert hat. Ich hasse Sitznachbarn. In solchen Sekunden brauche ich definitiv einfach ZWEI Armlehnen. Ich habe zwei bedürftige Hände, die nach Halt suchen und ...
„Oh, ... vielen Dank ... das ist ... sehr ... nett."
Kann der Mann Gedanken lesen? Mit einem schüchternen Lächeln hat er seinen Arm von SEINER Armlehne genommen und sie mir überlassen. Einfach so. Wow. Ich lächele zurück. Einfach so und ich sehe, wie er errötet. Herr im Himmel ... hab Erbarmen ...
Ok, wo war ich sehen geblieben? Festkrallen, ja genau. Die Maschine bewegt sich. Ohgotttohgott ... Es geht schon wieder los. Das flaue Gefühl im Magen ... Spucktüte griffbereit, überhaupt vorhanden?? Ja, gut. Sehr gut. Aber nein, ich übergebe mich nicht, nicht mit diesem Samariter neben mir, der mir seine Armlehne überlassen hat. Ich habe auch meinen Stolz.
Tief durchatmen, Augen schließen. Ich bin ein ganz großer Verfechter der Verdrängung. Im Business sowieso. Und im Privatleben auch. Ich muss nicht alles wissen und ich muss nicht alles sehen. Meistens ist das so. Und keine Ausnahme mache ich in der Startphase eines Flugzeugs. Ich muss nicht sehen, dass die Räder den Boden nicht mehr berühren, es reicht mir, dass ich es spüre.
Und wie ich es spüre. Mein Frühstück rumort in meinem Magen, ein Toast hätte dann doch gereicht ... Das Anpressen an den Sitz und jetzt das Abheben, das kurze Flattern der Maschine, wenn die Räder den Bodenkontakt verlieren, als würden auch sie protestieren. Dann noch ein kurzer Anschub, Ohrendruck – klar, wie sollte es auch anders sein, nur dass ich meine Hände gerade nicht lösen kann, um durch die Ohren auszuatmen. Und dann, endlich, langsam kommt das Flugzeug in die Waagerechte und wir schweben in den Himmel über New York, auf zu neuen Ufern. New York von oben entschädigt für alles ...
Ok, alles klar. Tief Luft holen, das Schlimmste ist über ...
„Das ist wie Sex."
...standen.
„WAS?" – schnell durch die Ohren ausatmen. Das MUSS ich eben missverstanden haben. Plopp. Prima, alle Sinne wieder beieinander.
„Das ist wie beim Sex." Ist nicht wahr ! Ich hab mich nicht verhört.
„Huh?" Du meine Güte, ich hab auch schon mal intelligenter Konversation betrieben.
„Das Abheben des Flugzeugs", erklärt er mir geduldig mit seiner tiefen, samtenen Stimme. „Ich finde, das ist wie beim Sex. Das Kribbeln im Bauch und dann die große Erleichterung, wenn der Anstieg geschafft ist."
„Aha." Kurze Denkpause. „So hab ich das noch nie betrachtet. Wissen Sie, beim Sex kralle ich mich aber normalerweise nicht ängstlich an allem fest, was mir unter die Finger kommt", versuche ich zu scherzen und grinse ihn verlegen an.
Er lacht. Gütiger Himmel. Was für ein Ton ! Von ganz tief drinnen bahnt es sich seinen Weg nach draußen und sein Gesicht leuchtet dabei – faszinierend. Unwiderstehlich, um genau zu sein. Ich bräuchte DRINGEND etwas zu trinken.
„Fliegen ist ziemlich ungefährlich. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Flugzeug abstürzt liegt bei eins zu einhunderttausend – oder waren es eintausend? Na, ist auch nicht so wichtig", erklärt er mir. Nicht so wichtig. Nicht so wichtig ?? Gut, ich bin ein mathematischer Volltrottel aber der Unterschied zwischen drei und sechs Nullen ist sogar mir geläufig – und der ist EKLATANT ...
„Um sich vorwärts zu bewegen, muss das Flugzeug mittels des Antriebs Vortrieb erzeugen, um den Widerstand, der die freie Vorwärtsbewegung hemmt, zu überwinden. Der Luftwiderstand eines Flugzeuges ist zum einen vom Formwiderstand, auch parasitärer Widerstand genannt, bedingt durch die Reibung der Luft am Körper des Flugzeuges und zum anderen vom Auftrieb abhängig."
Oh bitte, könnte jemand meinen Unterkiefer vom Fußboden aufkratzen? Ich habe gerade kein Wort verstanden.
„Woher ... wieso ... wissen Sie das alles?", frage ich ihn krächzend und ich fühle mich so dumm ...
Er grinst mich an. „Wikipedia. Hab's auswendig gelernt. Hab gehofft, es hilft mir. Ich hab auch Flugangst."
Puhh, Glück gehabt, dieser Astralkörper ist kein zweiter Einstein. Ich atme tief aus und grinse ihn erleichtert an.
„Hat es geholfen?"
Wieder lacht er. „Wikipedia? Nein, es hat nicht geholfen, ich hab's ja nicht mal verstanden. Heute hatte ich Glück."
„Glück? Wieso?"
„Ich sitze neben Ihnen und Ihre Angst schein größer zu sein als meine. Das hat mir ein bisschen Auftrieb gegeben."
Aha. Wie nett. Blass lächle ich ihn an. Die Luft wird jetzt doch etwas dünn hier oben. Ich löse meinen Krawattenknoten, öffne den obersten Hemdknopf und die Knöpfe meiner Weste. Besser, viel besser.
Sexy Hexy blickt mich an – und täusche ich mich, oder haben sich seine Augen verdunkelt? Ahh, Twist, mach Dir keine falschen Hoffnungen. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser verkappte Cowboy neben Dir, die Reinkarnation der puren Männlichkeit, auf kernige Männerkörper steht, steht bei eins zu einhunderttausend ... oder waren es tausend ...? Der Unterschied wäre auch in diesem Fall EKLATANT.
Wir blicken uns an und ich weiß nicht was, aber irgend etwas passiert zwischen uns. Die Luft knistert und ich hab das Gefühl, jemand hat mich gerade an einen Stromgenerator angeschlossen und jagt 1.000 Volt durch meinen Körper. Geiles Gefühl ... mein Gehirn konzentriert gerade alle Aktivitäten auf meinen Unterleib. Böse Falle...
„Fliegen Sie zum ersten Mal?" fragt er mich mit leiser Stimme.
Ich schüttele den Kopf. Gehirn an Stimmbänder – sprechen ... ich räuspere mich. Ein Anfang. Immerhin.
„Nein", sage ich ihm. „Der JFK-Flughafen ist mein zweites Zuhause. Ich fliege wöchentlich irgendwo hin."
„Uh. Und trotzdem Flugangst? Das ist hart", sagt er mitfühlend und irgendetwas zerspringt in mir. Hart, so habe ich das noch nie betrachtet, aber er hat Recht. Dieses Fliegen ist bei mir mit mehr Stress verbunden als ich manchmal ertragen kann und ich bin nach diesen Reisen immer so ausgewrungen, dass ich mich am liebsten für die nächsten sechs Monate in das nächstbeste Naherholungsheim einliefern lassen würde. Hart, ja, das stimmt ...
„Das ist mein Job", sage ich leise und blicke ihm in die Augen. So warm, so ein offener Blick. Wie wohltuend, aber kaum auszuhalten. Schnell schaue ich wieder weg.
„Was ist Ihr Job?"
„Ich bin Sales-Manager. Zuständig für die Departments USA, Kanada und für den Aufbau von Europa."
„Wow, dann verstehe ich, das Sie viel rumkommen. Muss Spaß machen", sagt er.
„Meistens ja." Kurze Pause, wieder Blickkontakt. Das tut so gut. Verdammt, wann kommt endlich die Stewardess mit den Kaltgetränken. Mühsam versuche ich, meine Lippen mit meiner Zunge zu befeuchten. Und wieder ... doch ! Jetzt bin ich mir sicher ! Da passiert etwas mit seinen Augen. Schneller Blick auf seine Hände. Kein Ring. Muss nichts heißen, gibt mir aber Anlass zu Hoffnung, dass die Wahrscheinlichkeit doch eher bei eins zu eintausend liegt.
„Was machen Sie beruflich?" frage ich, um mich abzulenken – und weil es mich interessiert, merke ich erstaunt. Ich bin ziemlich gut im Small-Talk. Ich kenne alle Fragen auswendig, die man Menschen stellen kann, um sie unverfänglich zum Plaudern zu bringen. Und ich beherrsche die Kunst meisterhaft. Ja, man kann sagen, ich bin ein Virtuose des Small-Talks – und meistens gehen mir die Antworten am Arsch vorbei. So nichtssagend, so unverbindlich. Ich habe gelernt, interessiert zu gucken, aktiv zuzuhören und den Datenmüll meiner Mitmenschen unverdaut wieder auszuscheiden.
Aber nicht jetzt, nicht in diesem Moment.
„Mir gehört eine Ranch in Wyoming. Eine Pferderanch. Hab sie von meinen Eltern geerbt und führe sie weiter aus Nostalgiegründen. Ist seit über 100 Jahren im Familienbesitz, wirft nicht viel ab, aber reicht zum Leben. Nebenbei programmiere ich. Ich hab Informatik studiert und einige Programme entwickelt, die ich jetzt auf ihre Marktreife testen will. Und es gibt keine bessere Gelegenheit dafür als die weltgrößte ..."
„Cebit? Sie fliegen auch nach Hannover?"
„Jupp, Sie auch?" Ich nicke nur. Ich kann mein Glück nicht fassen. Danke, LD Newsome für meine Beförderung zum Manager, danke, dass Du mir neben all dem Scheiß, den ich in meinem 24-stündigen Tag abarbeiten muss auch noch die Projektleitung für diese Messe gegeben und mich bis vor ein paar Minuten damit bis an den Rand des totalen Nervenzusammenbruchs getrieben hast. Danke, Grace, dass Du mir diesen Flug und diesen Sitzplatz gebucht hast und wenn es einen Gott gibt - ich weiß, ich weiß, ich hab mich ziemlich rar gemacht in den letzten dreißig Jahren, aber wenn es Dich gibt, und Du mich nur ein klitzekleines bisschen magst, dann sorge dafür, dass auf der Ranch in Wyoming kein Frauchen auf diesen Mann wartet...
19. März 2001, 12:40 ET, irgendwo über dem Atlantik
Nach Stunden, endlich, erscheint der Bord-Service. Meine Zunge ist mittlerweile rau wie Schmirgelpapier.
Ich nehme eine Flasche Wasser und zur Feier des Tages einen Whiskey. Er nimmt das selbe. Wir prosten uns zu, wieder dieser Blick in seine Augen. Whiskeyfarben, genau. Warum ist mir das nicht gleich aufgefallen ... Zum Ertrinken und ich bin kurz davor.
Der Mist ist, ich habe überhaupt keine Erfahrung mehr im Flirten. Drei Jahre monogame Beziehung und man verlernt die wesentlichen Dinge des Lebens. Hätte ich gewusst, dass ich auf meinem Transatlantikflug auf die Basics der Beziehungsanbahnung zurück greifen muss – ganz ehrlich, ich hätt mir mindestens die Men's Health und die Cosmopolitan gekauft, um mich wieder einzulesen.
Ich bin so. Ich muss immer gut vorbereitet sein, damit ich spontan auf mögliche Eventualitäten reagieren kann. Und im Augenblick bin ich es nicht, gar nicht, in keinster Weise.
Wäre Mr. Del Mar kein Ennis sondern eine, sagen wir, Enigma, dann wäre das Spiel viel einfacher. Geradezu simpel. Mann und Frau flirten doch quasi automatisch. Da sind im Regelfall die Rollen klar verteilt und das Ziel gesteckt: romantische Anbahnung bis zur Hochzeit, Kinder, mit viel Glück gemeinsam alt werden und mit weniger Glück nach einigen Jahren der nächste Gang, diesmal zum Scheidungsrichter. Ordentliche Abfindung kassieren, streiten um Hund, Haus und Kinder, das pure Leben halt.
Aber bei mir? Nach meinem letzten Blick in den Spiegel habe ich das „Hallo, ich stehe auf Männer, bitte sprich mich an" noch nicht auf die Stirn tätowiert, obwohl ich mir große Mühe gebe, dem Bild von einem Mann neben mir Signale zuzusenden. Aber, unter uns gesprochen, jedes Signal, das ich vermeintlich aussende, wird irgendwie so zurück reflektiert, dass mein Gehirn auf Sparflamme steht und mein Schwanz zu mir spricht. Irritierend. Das hatte ich noch nie – und um Himmels Willen, es nimmt mir meine Leichtigkeit.
Ich muss mich so darauf konzentrieren, dass ich nicht wie ein Berserker über ihn herfalle und ihm die Luft aus der Lunge küsse, ich muss den letzen verbleibenden Gehirnaktivitäten unter Einsatz meiner puren Willenskraft den Befehl erteilen, meinen erogenen Zonen die höchste Sensibilität zu nehmen. Und das schlägt sich fatal nieder. Auf mein Sprachzentrum. Und auf meine Intelligenz.
„Guter Stoff", sagt er.
„Huh?" sage ich, blicke auf meinen Anzug und frage mich, wie er das beurteilen kann, er hat mich ja noch gar nicht angefasst.
Er lacht – oh BITTE, nicht schon wieder dieses Lachen. Tief Luft holen.
„Den Whiskey meine ich." Ah, danke für die Erklärung.
„Ja, in der Tat, schmiert den Weg zum Magen." Er lächelt.
„So, und was genau, verkaufen Sie nun?", fragt er mich nach einer Weile.
Business-Talk, ok, das kann ich. Und ich erkläre es ihm. Hole aus, erzähle ihm von Bits und Bytes, Festplatten und Terminals, Lauffunktionen und Steuerungssysteme und warum das alles mit unserer Software besser funktioniert als mit der vom alten Bill. Er hört mir zu, stellt Fragen, klar, er kennt sich aus.
Und wir reden. Und es macht Spaß. Ich wusste gar nicht, wie angenehm das ist, wenn man jemanden hat, mit dem man über seinen Job reden kann, ohne dass das Lamentieren und die Vorhaltungen anfangen, die bei David jedes Mal damit enden „Jack, weißt Du was, es interessiert mich eigentlich alles nicht. Der ganze Scheiß mit Deinem Job hat zu Hause nichts verloren. Und überhaupt: es war Deine Entscheidung, den Manager-Posten anzunehmen, jetzt lebe mit den Konsequenzen." Blablablahhhh.
Tja, damit ist dann auch jedes zukünftige Gespräch per se im Keim erstickt. Smalltalk wollte ich zu Hause nicht führen, tiefschürfende Gespräche über Gott und die Welt standen irgendwie nie an und da sich mein Tag bei Newsome's abspielte (wovon David nichts hören wollte) und seiner zu Hause (worüber es nichts zu erzählen gab), plätscherte unsere Beziehung dahin, unterbrochen durch ein paar halbherzige Ficks und immer wieder belebt durch böse Streitereien, die zu keinem Ergebnis führten.
Ich habe es so satt, so dermaßen satt !
Und jetzt hier, mit ihm – wir reden, als würden wir uns seit Jahren kennen.
„Sag mal, Jack (nach dem zweiten Whiskey sind wir zum „Du" übergegangen). Wenn ich Dir von meinen Programmierungen und Systemen erzähle, die ich entwickelt habe, würdest Du Dir zutrauen, die zu verkaufen?" fragt er mich ernsthaft nach einer Weile.
„Ich ...äh ... verkaufen?"
„Ja, nachdem, was Du mir alles so erzählst, bist du doch ein ziemlich guter Sales-Manager. Und jemand, der Bill einige Marktanteile abkämpft, hat bei mir immer ein Stein im Brett" erklärt er mir augenzwinkernd und in diesem Moment würde ich mich an den Teufel verkaufen, wenn er meint, das würde seinem Geschäft helfen.
„Klar", stammele ich. „Aber ich lebe in New York und steh in Lohn und Brot bei LD. Und ich sag's Dir, mein Vertrag ist böse verhandelt worden. Ich darf eigentlich nicht..."
„Hey," meint er. „Ich könnte Dich eh nicht bezahlen (ok ...), aber wenn Du mir, sagen wir mal als eine Art persönlicher Consultant zur Verfügung stehst?"
„Kostenfrei." Vermute ich jetzt mal so und grinse ihn an.
Er beugt sich zu mir – oh Himmel nein, mein Körper fing gerade an, sich zu entspannen – blickt mir tief in die Augen und sagt verschwörerisch:
„Kostenfrei ist Auslegungssache. Wann hast Du das letzte Mal Urlaub gemacht und Dich so richtig entspannt, Jack?"
Was für eine Frage ... Mein Herz rast und er ist mir so nahe, dass ich sein After-Shave riechen kann (ich tippe auf Tobacco, diese raue männliche Note – absolut erregend...).
„Urlaub", krächze ich leise. „Urlaub hatte ich im letzten Leben und Entspannung kenn ich nur vom Hörensagen." Und das ist nicht gelogen.
Ernst blickt er mich an. „Das dachte ich mir. Ich mach Dir einen Vorschlag, Jack. Deine Beratungsleistung gegen unbezahlte und unvergessliche Ferien auf meiner Ranch in Wyoming, was sagst Du dazu?"
Tja, was soll ich dazu sagen? Abgesehen davon, dass Ennis del Mar der erste Mensch auf diesem Planeten ist, der mich sprachlos erlebt, habe ich soeben die beste Einladung meines Lebens erhalten, sexy verpackt in ein Meter achtzig großer Männlichkeit mit Augen, die meine Eingeweide zum Schmelzen und mein Herz zum Stottern bringen.
Ich halte ihm meine Hand hin (ich lasse keinen unverfänglichen Körperkontakt ungenutzt).
„Das ist ein Deal", sage ich und er schlägt ein.
19. März 2001, 13:20 ET, immer noch irgendwo über dem Atlantik
Gut, da meine nächstes Reiseziel jetzt feststeht, beschäftigen mich zwei Fragen:
1. Wie bekomme ich LD dazu, mir möglichst schnell – am besten nach der Messe – Urlaub zu geben?
2. Was tut man auf einer Ranch im Nirgendwo am Arsch der Welt?
Die Beantwortung der ersten Frage entzieht sich jeglicher Kenntnis und kann nicht einmal spekulativ erörtert werden. In den drei Jahren meiner Knechtschaft für LD habe ich noch keinen regulären Urlaub beantragt. Keine Zeit, keinen Mitreisenden und als dann das Problem gelöst war keine Lust mehr. 24 Stunden Dauerstress mit David ist nicht das, was ich mir unter Erholung vorstelle.
Die zweite Frage richte ich direkt an Ennis, der mich verständnislos anschaut.
„Was man auf einer Ranch macht? Arbeiten, arbeiten, arbeiten, Jack. Ab morgens um fünf bis abends um sieben. Jeden Sonntag, an jedem Feiertag."
Na, ganz toll. Die Vorfreude steigt ...
„Und ... äh ... wo ist da die Erholung? Ich meine, hey, Ennis, Du musst mir Deine Ranch schon schmackhaft machen, wenn du im Gegenzug auf meine Beraterleistung zurück greifen willst. Ich bin nämlich ziemlich teuer, so auf's Jahr umgerechnet." Frech grinse ich ihn an.
„Teuer, huh? Wie viel?"
„Pro Jahr? 250 Riesen plus Provisionen und Firmenwagen."
Ich sehe, wie Ennis schluckt und füge hastig hinzu: „Hey, keinen Stress. Das sind bloß Zahlen und in Mathe bin ich ganz schlecht. Mit 25 Riesen bin ich auch zufrieden – und ein unvergesslicher Urlaub ist unbezahlbar, Ennis. Zumindest für mich." Und das stimmt.
Er lächelt wieder und blickt mich gedankenverloren an. „Ein unbezahlbarer Urlaub", sagt er sinnierend. „Lass mich mal überlegen. Wie wäre es damit: morgens mit einer Tasse frisch aufgebrühtem Kaffee auf der Veranda stehen, über die Prärie schauen und den Sonnenaufgang beobachten. Zusehen, wie die ersten Sonnenstrahlen den Nebel aufwirbeln, dem Aufwachen der Vögel lauschen, dem Schnauben der Pferde in den Ställen. Dann in Ruhe frühstücken, bei frisch gebackenem Brot und selbstgemachter Marmelade, anschließend die Pferde satteln und in die Berge reiten, den Tag am Fluss verbringen, angeln, baden, am späten Nachmittag ein Lagerfeuer anzünden, Fleisch braten und Stockbrot backen und abends hundemüde nach Hause kommen..."
... und sich dann im Bett lieben bis der Arzt kommt, ergänze ich in Gedanken, als ich Ennis ruhiger Stimme mit glänzenden Augen lausche und der Appetit auf ihn und seine Ranch mit jedem Wort größer wird.
Jetzt schlucke ich und er fügt hastig hinzu: „Ok, ok, so ist es nicht immer. Wenn Du da bist, müssen auch Tiere gefüttert, Ställe ausgemistet und Weidezäune repariert werden."
Ok, Trouble in Paradise, das klingt nach Arbeit. Ich nicke, verständnisvoll aber wenig enthusiastisch.
Da fällt mir was ein. „Hey," sage ich. „Bei der ganzen Arbeit, wann kommst Du denn dann zum Programmieren?"
„Abends. Nachts."
Noch so ein Arbeitstier mit Schlafstörungen. „Das ist hart", sage ich und er nickt. „Weißt Du, ich wollte die Ranch nicht aufgeben, aber dort, wo meine Urgroßeltern sich damals niedergelassen haben, gibt es weit und breit nichts. Der nächste Ort ist 30 Meilen entfernt, die nächsten Nachbarn 10. Es ist sehr einsam dort und die New Economy hat bei uns noch keinen Einzug gehalten. Also musste ich mir selbst behelfen. Zum Glück gibt es das Internet, da ist es egal, von wo aus man arbeitet."
„Bewirtschaftest Du die Ranch alleine?" – stelle ich jetzt die 250 Millionen Dollar-Frage...
„Nein." – verdammt, verdammt, verdammt, ich hab's gewusst. So ein Prachtexemplar von Mann KANN einfach kein Single sein. Ich versuche, mir meine bittere Enttäuschung nicht anmerken zu lassen und verfalle in meinen gewohnten Business-Smalltalk. Interesse vorgaukeln, die Antworten verdrängen.
„Wie viele Leute sind auf der Ranch?"
„Zwei Cowboys, die sich um unsere Rinderzucht kümmern, meine Schwester und ich haben die Pferde unter unserer Ägide und dann noch die beiden Kinder meiner Schwester." Oha, die Informationen lassen sich zu meinen Gunsten verwerten...
„Keine Frau?"
„Keine Frau."
„Keine Ex?"
„Keine Ex."
„Keine ... keine Freundin?"
„Nein, auch das nicht."
„Wie alt bist Du?"
„32"
„Ich auch. Also, keine Frau und keine Ex, keine Freundin und auch niemanden sonst so?" Er schüttelt den Kopf und ein leichtes Grinsen umspielt seinen Mund. Ok, was stimmt mit dem Mann nicht? Gedankenverloren pule ich an meiner Unterlippe.
„Wer ist David?", fragt er mich auf einmal und ich habe das Gefühl auf der Stelle und ohne weitere Vorankündigung an einem akuten Herzversagen zu sterben.
„Ähhh ... David?" stottere ich mit hochrotem Kopf. Mein Gott, das kann doch nicht wahr sein. Jack, reiß Dich zusammen. Du bist ein erfolgreicher Mann, der mitten im Leben steht. Kein Grund, infantiles Verhalten an den Tag zu legen, wenn ein nahezu unbekannter Mann neben Dir im Flugzeug die alles entscheidende Frage stellt, auf die Du selbst seit Wochen eine verbindliche Antwort suchst.
„David ist ... äh ... eine Mann", versuche ich es halbherzig und hoffe, damit das Thema vom Tisch zu haben. Weit gefehlt. Mein Gesprächspartner ist nicht dumm und unterschätzen sollte ich ihn nicht, das wird mir klar, als ich seinen berechnenden Gesichtsausdruck wahrnehme.
„Ein Mann. Und wessen Mann ist er, Jack?"
„Woher weißt Du von David?", kontere ich mit einer Gegenfrage, denn langsam wird er mir unheimlich.
„Dein Mobil-Telefon, Jack."
„Was ist damit?"
„Es hat geklingelt, kurz vor dem Start. Und Deine Kopfhörer waren noch auf aktiv gestellt, als Du abgekommen hast."
„Du hast gelauscht? Du hast meine private Konversation abgehört? Bist Du nebenbei noch Agent beim CIA? Stehe ich unter Verdacht? Schämst Du Dich nicht?" Langsam aber sicher echauffiere ich mich.
„Es tut mir leid, Jack. Ich wollte Dir nicht zu nahe treten, aber ich hab ganz gern klare Verhältnisse", versucht er mich zu beruhigen und irgendetwas in seiner Stimme und an seinen Worten lässt mich aufhorchen und ich schaue ihn an.
Sein Blick ist ernst und er beugt sich zu mir. Hypnotisiert schaue ich in seine Augen als er seine Frage leise wiederholt: „Wer ist David, Jack?"
Was soll's, denke ich mir. Schlimmer geht's nimmer und seine gesamte Körpersprache signalisiert mir, dass ihm die Antwort auf diese Frage extrem wichtig ist. Ist es ihm wichtig, dann ist es das für mich auch und so hole ich tief Luft, wappne mich gegen das Unabänderliche und sage ihm:
„David wohnt seit zweieinhalb Jahren in meiner Wohnung, isst an meinem Tisch und lebt von meinem Geld. Manchmal haben wir Sex, es ist nie besonders gut und die ehrliche Antwort auf Deine Frage ist, dass ich im Augenblick nicht weiß, wer David für mich ist."
So, das war's, denke ich mir und blicke aus dem Fenster auf federweiße, weiche Wolken. Jetzt kommt das übliche. Der Dank für das nette Gespräch, er wird seine Zeitung wieder hervorkramen und sich für den Rest des Fluges dahinter verkriechen. Ich taste schon mal nach meinem iPOD als er leise zu meinem Hinterkopf spricht:
„Meine letzte Beziehung hatte ich in der Uni", sagte er mir mit rauer Stimme. „Das ist vier Jahre her und er war mein Mitbewohner."
