Aus den Wald der Riesenbäume heraus hatte sie noch die Euphorie getrieben. Sieg. Erfolg! Nach fünf Jahren, in denen sie auf der Lauer gelegen und nichts getan hatten! Sie war noch schneller geworden. Einfach, weil sie konnte. Ihre Riesenschritte trommelten auf den Boden ein.

Nun konnte sie nicht mehr schneller. Ihr Spurt kühlte zu einem Traben ab, und es fühlte sich scheußlich an. Annie hasste den Moment des Nachlassens, wenn jeder Schritt schwerer wurde.

Voraus lag ein weiteres Wäldchen aus Riesenbäumen. Hinter ihr fielen harte Schritte. Nicht umschauen. Umschauen brächte den Rhythmus durcheinander. Sie hob sich die Kraft lieber für das Springen auf.

Auf ihrer Zunge bewegte sich etwas. Genau jetzt wurde er wach. Es musste immer ja alles gleichzeitig passieren.

Annie erreichte die Bäume, zielte auf einen dicken Ast und sprang ab. Ihre Hände schlossen sich darum, und sie zog sich hoch, doch mit Schwung krachte ein Verfolger gegen ihre Beine. Der Stoß riss sie fast wieder herunter. Mit gestreckten Armen blieb sie hängen, während sich ein Titan an sie drängelte und sich in ihrem Unterschenkel verbiss. Sie trat mit dem anderen Fuß aus und erwischte etwas, das sich wie ein Gesicht anfühlte, doch die Hände ließen nicht los. Es kamen sogar noch mehr Hände. Und Zähne!

Annie stieg aus. Der Nacken des Weiblichen Titanen öffnete sich zu einem klaffenden Spalt, aus dem sie sich dampfend ins Freie kämpfte. Fleischfasern klebten an ihr wie Spinnweben. Sie riss das Gewebe ab und warf es weg. Sogleich musste sie um ihr Gleichgewicht kämpfen, denn die Titanen rissen mit unverminderter Hartnäckigkeit an dem Leib, der sich nun einfach geistlos an den Ast krallte.

Ein paar Momente bis zur Auflösung habe ich.

Die Idee kam spontan: Wenn ihr Gefangener schon wach war, konnte er auch mithelfen, sich zu retten. Sie schoss einen Haken ins Holz, gab Schub und kreiste um den Kopf ihrer verlassenen Hülle, mit gezogenen Klingen. Als sie heranschoss, verlagerte sie das Gewicht in den Gurten, gab sich selbst einen wirbelnden Drall und schlug die Schwerter in die Kiefermuskeln. Der Unterkiefer klaffte schräg auf, und sie landete auf der unteren Zahnreihe.

„Jäger!" Sie blaffte ins Halbdunkel hinein, mit einer tiefen Stimme, die von ganz unten aus dem Bauch heraus kam. „Aufstehen! Hoch mit dir, schnell – schnell - schnell!" Nichts brachte einen jungen Soldaten so rasch hoch wie Geschrei. Eren kämpfte sich halb blind auf die Füße, schleimbedeckt und auf der Zunge ausgleitend. Er taumelte der Gestalt, die da in der lichtdurchfluteten Öffnung stand und ihn anschrie, in die Arme.

„Festhalten!" Sie fing ihn, packte seine Hände und führte sie an die Gurte. Dann sprang sie rückwärts ab – nur einen Moment später stürzte ihr Titan wie eine Lumpenpuppe zu Boden. Vier Titanen stürzten sich sogleich auf das dampfende Fleisch, rissen es mit bloßen Händen in Stücke und stopften sich hemmungslos voll. Ein Fünfter wurde von einem Artgenossen weggestoßen und stand kurz unschlüssig herum. Dann aber spähte er nach oben und erblickte die beiden Menschen, am Kabel hängend. Wie ein Kind, das um Kekse bettelt, streckte er die Hände aus.

Annie ingorierte ihn. „Gerettet", stellte sie voller Erleichterung fest. „Gerade noch rechtzeitig."

„Annie?", fragte Eren dumpf, während er sich in die Gurte klammerte.

„Ja. Einfach festhalten." Zuerst wollte sie sicheren Boden unter den Füßen, dann konnte alles andere kommen. Sie schaute hoch, nach passenden Ankerpunkten suchend.

Eren schaute auch hoch. Er sah in ihr Gesicht, blaue Augen und wirr abstehendes, blondes Haar. Und die Gräben, die das Titanengewebe einem in die Wangen grub. Er erkannte sie. Und als ihn die Erkenntnis erbeben ließ, blickte sie ihm ins Gesicht.

Annies Augen wurden größer. „Mach keine Dummheiten."

Er schlug ihr ins Gesicht.

„Du!" Grelle Flecke explodierten vor ihren Augen, als die Faust sie traf. Er hatte natürlich einseitig losgelassen und brachte sie damit aus dem Gleichgewicht. Zudem führte er sich auf wie wahnsinnig und schüttelte sie dabei noch mehr durch.

„Du hast sie alle umgebracht!"

Er schlug sie nochmals, diesmal in den Bauch. Er hatte waghalsig weit ausgeholt, völlig ungeachtet der Leere unter ihm. Dabei rutschte seine vom Titanenspeichel glitschige Hand, mit er er sich noch festhielt, vom Gurt, und er stürzte.

Nummer Fünfs Augen leuchteten auf.

Annie fing sich, zielte kurzentschlossen und feuerte den freien Haken ab. Sie hatte auf den Fuß angelegt, aber traf seinen Bauch, schräg von unten herauf. Der Kopf des Hakens machte sich einrastend fest. Woran? Egal! Er saß fest, und der Gerettete schrie auf, ehe sich seine Augen nach hinten verdrehten und seinem Körper dies alles zu viel wurde. Er ließ sich in gnädige Besinnungslosigkeit kippen.

Besser so. Annie holte ihre Fracht ein und zog sich selbst ebenfalls weiter nach oben. Nummer Fünf hüpfte auf und ab und haschte nach Eren, vergeblich.

Sicher auf dem Ast angekommen, musterte Annie das Ergebnis ihrer Schießkünste. Der Haken war durch den Unterbauch in den Brustkasten gegangen, hatte sich zwischen den rückwärtigen Rippen hindurchgewunden und dann die Fangspitzen ausgefahren. Sie dachte nicht darüber nach, was der Haken alles durchschlagen haben musste. Dampf fädelte sich bereits aus den zwei neu geschaffenen Körperöffnungen.

„Du wirst leben", sagte sie zu dem Bewusstlosen. Dann montierte sie den Kabel vom Haken und zog die Stange zur Gänze hindurch. Es war eine Schweinerei.

Es war ganz gut so, dass er bewusstlos geworden war. Er würde sie nun nicht mehr mit Blicken töten oder anschreien. Später ja, gerade aber nicht. Es gab ihr eine Ruhepause, in der sie ihn vorsorglich mit einem Kabel fesselte und mit einem Stofflappen knebelte. In ihren Muskeln brannte der Schmerz, und ihr Schädel pochte. Während sie Eren fixierte, fiel ihr der Schlüssel, den er stets um den Hals trug, in die Hände. Sie betrachtete ihn näher. Eren nahm den Schlüssel nie ab, auch nicht bei den Übungseinheiten. Mit der Schnur hatte sie ihn schon einmal unabsichtlich gewürgt. Sie steckte ihn nach einem Moment des Betrachtens wieder unter sein Hemd zurück. Sollte er ihn weiterhin haben. Wachte er ohne den dummen Schlüssel auf, wäre es nur noch ein weiterer Grund für ihn, aus der Haut zu fahren.

Der Abend dämmerte heran. Die Sonne strahlte tief und schräg vom westlichen Horizont her. Annie aber blickte gen Norden, wo Rauch zum Himmel stieg wie eine graue Treppe zu den weißen Wolken.

Reiner stampfte über das Grasland. Der Gepanzerte Titan trug ein Pferd unterm Arm und einen Menschen auf der Schulter. Er kam direkt auf ihr Wäldchen zu, und als er die fünf Titanen sah, die ihm wie Geschenke erwartende Kinder entgegenliefen, legte er das Tier ab und nahm Fahrt auf.

Annie sah dem Zusammenstoß zu, schaute aber wesentlich interessierter zu dem Pferd. Es wieherte panisch und wand sich, kam aber nicht hoch. Offenbar hatten Reiner und Berthold ihm die Läufe zusammengebunden, damit es nicht fortrannte.

Nummer Fünf, der einzige Titan, der Berthold auf der Schulter des Gepanzerten hätte erreichen können, wurde als erster umgestoßen und niedergetrampelt. Die vier anderen warfen sich auf den massigen Körper mit den matt goldenen Rüstungsplatten. Erst brachen Finger und Nasen, dann Arme und Gesichter und Kniescheiben.

Annie hörte über das ferne Getöse die schwachen Geräusche von Stoff und Eisenkabeln. Eren hatte begonnen, sich schwach zu winden. Sie vermied jeden Blick in seine Richtung. Während sich der Gepanzerte Titan noch durch das Begrüßungskomitee kegelte, begab sie sich auf einen höheren Ast im benachbarten Baum, der weiterhin einen guten Blick auf ihren Gefangenen erlaubte.

Der Empfang war zunächst überschwänglich.

„Guter Job, Annie!" Reiner hatte überschwänglich seine Pranken auf ihre Schultern geschlagen, sodass sie ein Stück in die Knie ging. Dann warf er einen dramatisch langen Blick auf ihr Gesicht. „Du siehst schrecklich aus." So jovial, wie er es sagte, schob er diesen Spruch wohl schon eine Weile vor sich her.

Als keiner lachte, riss er sich zusammen und sah zu dem Gefangenen hinunter. Dort unten hockte er, wieder halb bei Sinnen. Ein Häufchen Elend. Die Dämmerung setzte bereits ein, doch war es noch hell genug, um Gesichter zu erkennen: Dort standen seine Freunde, und es traf ihn sicher wie ein Messer zwischen den Rippen, sie so mit einer Feindin der Menschheit zu sehen.

Reiner schien der direkte Anblick des ehemaligen Kameraden auch nicht zu behagen. Sein Blick hing kurz an dem rot durchtränkten Hemd. Rot war natürlich auch die Baumrinde um ihn herum. „Was hast du mit ihm angestellt?"

„Ihn gepfählt." Annie ließ es wie eine Banalität klingen. „Beim Erklettern des Baums stürzte er ab. Ich habe ihn mit einem Haken erwischt und hochgezogen."

Reiner riss in erneuter Dramatik die Augen auf. „Du... du hast ihn also genagelt?"

Sie wollte ihn umtreten. So, dass er vom Baum fiel. Die Sprüche waren seine Art, Dampf abzulassen. Der Tag war für sie alle wild gewesen. Dennoch wollte sie ihn einfach nur treten.

„Reiner." Berthold hielt ihn auf, mit einer Hand auf der Schulter, ehe mehr dumme Dinge aus seinem Mund purzelten. „Ist gut jetzt."

Annie blickte aus schmalen Augen zu Berthold. Sein Grinsen wurde breit und dämlich.

„Ja... ja, tut mir leid." Reiner hob in kapitulierender Geste die Hände, ehe er sich in den Schneidersitz sinken ließ. Sie alle taten es ihm gleich.

„Du hattest einen harten Kampf, nicht?", erkundigte sich Berthold nun. „Levi und Mikasa müssen dir gleichzeitig über den Weg gelaufen sein."

„Auch seine Mannschaft", fügte Annie matt hinzu. „Aber ja, die beiden gingen zusammen auf mich los."

„Wie war es?"

„Höllisch."

„Schlimmer als... Isketanium?"

Ihr Blick rutschte leicht ins Leere. „Schlimmer, ja." Die isketanischen Truppen hatten Vlad den Pfähler, und Annie dachte an Kartätschen und von Ballisten abgeschossene Bolzen. Die Mauern hatten Levi Ackermann, und sie sah nur einen silbern blitzenden Wirbel. Wäre Mikasa nicht im Übereifer in seinen Weg geraten, wie wäre die Sache dann ausgegangen?

Schweigen kam auf, von der Art, die sich ungemütlich anfühlte. Reiner wagte sich wieder mit Optimismus hervor. „Jedenfalls ist er nun in unserer Hand", erklärte er feierlich, „Der Wächter-Titan."

So nannten die drei Titanenwandler ihn seit Trost. Im Stillen hatten sie darüber eingestimmt, dass der unerwartete Wandler nicht der Gründer-Titan hatte sein können. Auch wenn die Hoffnung anfangs natürlich groß gewesen war. Doch sein Erscheinen auf dem Schlachtfeld, seine Taktiken – nichts hatte gepasst. Er war wie ein ungebetener Gast in die Feier geplatzt und von aller Welt auch genau so begrüßt worden. Nein, ein entsendeter Streiter des Mauerkönigs war er sicher nicht. Eine Chance aber war er. Eine Chance für Ergebnisse, die lang überfällig waren.

„Sie werden zufrieden sein", fügte Reiner nach einem Moment hinzu. Er war so zuversichtlich, wie es nur ein wahrhaft Verzweifelter sein konnte.

„Du feierst früh." Annie sprach tonlos. „Der Kiefer-Titan, was ist mit ihm. Wir haben ihn noch immer nicht zurück." Ihr Blick rückte erneut ab. Fünf Jahre war Marcels Tod nun her, und es grämte sie, dass ihr sein Gesicht nicht mehr so klar vor Augen stand. Er verblasste allmählich, war inzwischen kaum noch ein verstorbener Kamerad und mehr der allererste Stolperstein in einer ganzen Kette von Fehlschlägen. So betrachtete sie das alles jedenfalls: Die Operation war längst außer Kontrolle geraten. Sie glaubte auch nicht, dass das Anschleppen des Wächter-Titans viel daran ändern würde.

„Das ist zwar wahr", ließ Reiner sich nicht bremsen, „doch wir beide -" Er klapste Berthold auf die Schulter „- haben uns schon etwas ausgedacht."

„Oho?"

„Schau. Die Kundschafter wissen nun, dass es Wandler gibt. Gerade haben sie Eren verloren und werden nun verzweifelt sein. Zurückbekommen können sie ihn nicht, also können sie nur hoffen, einen Ersatz zu ergattern", führte Reiner aus. „Wir werden dafür sorgen, dass sie diesen Ersatz unter der Bevölkerung suchen. Mit Versprechungen auf eine hohe Prämie, Privilegien, einen Orden und so weiter! Irgendwo muss der Besitzer des Kiefer-Titanen schließlich sein, und wenn die Belohnung hoch genug ist, kommt er sicher aus der Deckung."

„Wahrscheinlich wird auch der Familie irgendwas spendiert, so wie bei uns daheim?"

Er hielt kurz inne. „Jep."

„Zudem", fügte Berthold hinzu, „werden wir verbreiten, dass im Königshaus ebenfalls ein Titan sein muss. Denken wir uns ein paar Gerüchte aus."

„Vielleicht taucht mein Titan auch kurz nahe des Schlosses auf, zu einem kleinen Abendspaziergang", warf Reiner unterstützend ein.

„Die Kundschafter werden nach jedem Strohhalm greifen", nahm Berthold wieder auf, erstaunlich eifrig und redefreudig heute abend. „Gehen wir es nur hartnäckig genug an, wird man dort nicht mehr ewig stillsitzen können. Wer weiß – vielleicht wird das Militär selbst aktiv."

Annie war müde, abgekämpft und schlecht gelaunt. Doch sie konnte sich der Entschlussfreude ihrer Kameraden nicht ganz entziehen. Der Plan schien nichtmals verkehrt, von einem Haar in der Suppe abgesehen.

„Ihr sagt, wir streuen diese Ideen?"

„Nee." Reiner winkte ab. „Wir werden uns ein paar Strohmänner heranziehen und ihnen diese Flöhe ins Ohr setzen."

Annie nickte langsam. Die Kundschafter würden nun in der Tat verzweifelt sein. Sie hatten eine wunderbare Waffe erlangt und wieder verloren. Sie waren so weit wie am Anfang, doch nun wußten sie, was möglich war.

„Vielleicht erwähnen wir es gegenüber Connie", schob Reiner mit leichtem Lachen nach.

Sie verdrehte die Augen. „Marley wird stolz sein."

„Hah, ja." Reiner wies mit beiden Zeigefingern auf sie. „Und du kannst auch direkt sicherstellen, dass man von unserem Plan erfährt und weiß, dass alles in Butter ist!"

Annie runzelte die Stirn. „Wie das?"

„Jemand muss Eren zum Hafen bringen." Reiner nickte zu ihrem Gefangenen. „Seien wir offen; wir kennen Eren lang genug. Wir werden nichts aus ihm herausbekommen, wenn wir es hier mit einem Verhör probieren. Also können wir ihn auch gleich auf das nächste Schiff setzen und heimschicken, wo sich Fachleute darum kümmern können." Er nickte Annie zu. „Dabei kannst du in einem Zuge Bericht erstatten. Vielleicht forderst du auch direkt Verstärkung an und kehrst erst dann wieder zurück zu den Mauern."

Ärger keimte in ihr auf. „Du machst einen Unglücksraben aus mir."

Damit hatte er offenbar gerechnet. „Du bist die Schnellste und Ausdauerndste unter uns, vergiss das nicht." Reiner wirkte, als müsse er seiner kleinen Schwester erklären, warum sie nicht mit in den nachbarlichen Obstgarten zum Äpfelklauen durfte.

Annie starrte ihn an. Hier saß er und verlangte von ihr, sich allein, nach fünf Jahren ohne Meldung, vor einen Offizier zu stellen und zu erklären, wie die Operation sich derartig in die Länge hatte ziehen können. Obendrein brachte sie zwar einen Titanen, doch Eren war wie eine ungebetene Bestellung, ein schlechter Tausch. Rein rechnerisch waren sie noch am Anfang, bloß mit so viel vergeudeter Zeit!

Sie atmete scharf ein, hielt die Luft einen Moment lang an und versuchte, ruhig zu werden. „Ich bin der Botschafter schlechter Nachrichten? Und ihr bringt derweil den Plan in Schwung, der uns den Gründer-Titan einbringt?" Sie wollte sich den Ärger nicht anmerken lassen, doch ihre Stimme war dennoch scharf. „Na wunderbar, und nebenbei wird man mich in Stohess ewig vermissen."

„Offen gestanden... glauben wir, dass deine Zeit im verdeckten Dienst ohnehin gezählt ist, Annie. Vergiss die Militär-Polizei, es ist besser für dich." Reiners Blick bohrte sich unangenehm in den Ihren. „Denk an Trost."

Ihr wurde kalt beim Gedanken an Trost. „So spricht der beste Kerl im Sandkasten. Der Spaßmacher im Sommerlager", zischte sie und blickte zu Berthold, doch der wich ihr nur aus. Plötzlich war er wieder still.

„Darüber sprachen wir ja bereits." Reiner blieb unbewegt wie ein Fels in der Brandung. Trost war ein Totschlag-Argument zwischen ihnen geworden. Er zog es selten, und offenkundig weckte es auch bei ihm nur üble Erinnerungen. Doch wenn er meinte, zu müssen, konnte er auch darauf herumreiten. „Unsere Tarnung ist einfach besser. Im Augenblick gelten Berthold und ich als verschollen. Du hast ganze Arbeit geleistet, ganz wunderbare Arbeit. Die Kundschafter sind mit ihrer Moral am Boden, und ihr Rückzug ist chaotisch. Darum werden wir auch ganz einfach in unsere Plätze zurückgleiten können, als Glückspilze und verlorene Schäfchen, die zur Herde zurückfinden."

„Und wenn ich wiederkomme, werfe ich meine Papiere weg und lebe irgendwo zwischen Obdachlosen und Bettlern, bis ihr mich wieder braucht?", warf Annie ein. Bis ich erneut durch einen Wald hetzen und Reiter jagen darf.

Reiner nickte unerschütterlich. „Es wird nicht für lang sein. Denk einfach daran: Wir tun das alles, um die Welt vor den Teufeln hinter den Mauern zu bewahren." Er erhob sich, stemmte die Brust raus und salutierte. Der Anblick war makaber, denn unbewusst tat er es wie ein Mauerteufel, einen Arm auf den Rücken und eine Faust auf dem Herzen. Einen Moment später merkte er es, tat aber dann, als wäre nichts Falsches daran.

Annie schnaubte, verbiss sich einen herzhaften Fluch und schloss innerlich die Tore. Nur noch eine Weile, und es wäre vorbei. „Fein."

„Ausgezeichnet." Reiner langte hinter sich, schwang ihr einen Rucksack vor die Füße. „Hier, Ausrüstung. Proviant, Gas, Kartenmaterial. Alles, was du brauchst."

Annie nickte, öffnete die Klappe und prüfte den Inhalt des Rucksacks eigenhändig. „Gut. Dann geht nun", knurrte sie von unten herauf. „Nutzt die Chance, in der wir keine titanische Gesellschaft haben."

Ihre Kameraden schwiegen kurz, überrascht und vielleicht auch betroffen. Sie wußten ganz genau, was sie ihr damit aufbürdeten. Die Argumente passten, doch es machte das Ganze nicht weniger ungerecht.

„Sicherlich... aber eins noch."

Annies Augen blitzten förmlich in die Höhe. „Was noch?"

„Wie willst du ihn ruhig halten?" Reiner deutete auf Eren. „Wir konnten leider keine Medikamente auftreiben, die einen Wandler längerfristig außer Gefecht setzen. Ich bezweifle sogar, dass es solche Mittel innerhalb dieser Mauern überhaupt gibt. Daher, nur aus Neugierde. Wie wirst du es machen?"

Langsam stand Annie auf und ließ eine Klinge aus dem Fach an ihrer Hüfte hervorgleiten. „Ich schlage ihm Arme und Beine ab, ehe er sich so weit erholen kann, um seinen Titanen zu rufen." Ihr Blick bohrte sich in den Reiners. „Immer wieder aufs Neue. Bis wir die Küste erreichen."

Rainer hielt den Blick, überraschenderweise. „Das", sagte er leise, „klingt pragmatisch. Gleich jetzt?"

Noch einmal Trost?

„Geht nun." Sie ließ ihn spüren, dass er es auch überreizen konnte.

Sie gingen. Reiner nickte knapp und seilte sich als Erster ab. Berthold blickte drein, als seie ihm unwohl, doch es kam nichts von ihm als ein zögerliches „Bis bald."

Annie trat an den Rand des Astes. „Ach, und Reiner!", rief sie ihm auf seinem Weg in die Tiefe nach, „Hoffentlich sage ich auch nichts Falsches! Beim Meldung machen, meine ich!"

Für einen Moment wurde das gleichmäßige Sirren des abrollenden Kabels unterbrochen. Halb rechnete sie damit, Reiner käme wieder nach oben, doch dann setzte das Schnüren wieder ein und entfernte sich.

Am Erdboden angekommen, mussten sie ein Stück durch die Dämmerung laufen, wo das Pferd im Gras lag. Sie machten es los, und das Tier wieherte schrill, weil es ihnen die vorige Behandlung noch immer übel nahm.

Der Ansatz eines Lächelns streifte Annies Mundwinkel. Hoffentlich wird er gebissen. Mit einem sanften Klirren schob sie das Schwert ins Fach zurück.

Als die ersten Sterne zu sehen waren, machte Annie sich bereit, ihren Titan zu beschören. Eren war inzwischen wach.

„Dies ist nicht zwangsläufig das Ende der Fahnenstange", erklärte sie ihm, noch ehe er beginnen konnte, mit seinen Beschuldigungen über sie herzufallen. „Es gibt viele Möglichkeiten, weißt du?" Sie entfernte den Knebel, damit er antworten konnte.

„Möglichkeiten?" Verbittert und zornig war er, doch das konnte Annie ihm auch nicht übel nehmen. „Du – du tötest meine Kameraden rechts und links wie Käfer, verschleppst mich und sagst mir dann, es gibt Möglichkeiten?"

„Das sage ich."

Er war verwirrt, verwundet, innerlich verletzt und überfordert.

„Du könntest dich uns anschließen", half sie ihm daher, „Es wäre nichtmals Verrat. Meine Heimat hat viele Feinde, weißt du? Viele Feinde, gegen die du kämpfen kannst, ohne jemanden zu verraten. Viele Möglichkeiten, deine Treue zu beweisen."

„Ich soll für Titanen kämpfen?"

Sie blinzelte. Dachte er wirklich, sie würde für Titanen arbeiten?

„Nein. Für Menschen. Und gegen andere Menschen."

Ob ihn das schockte? Zugegeben, möglich war es. Die Eldier hinter den Mauern hielten sich schließlich für die letzten von Ihresgleichen, umgeben von Monstren. Er starrte sie betäubt an, als wisse er gar nicht, welche Sterne er zuerst neu anordnen sollte. Vielleicht hielt er sie auch nur für verrückt. Das war schließlich das Einfachste. Zumindest schien er allmählich Fuß zu fassen.

„Ich soll... also Treue beweisen. Indem ich diese anderen Menschen töte?"

„Titanen haben sie nunmal nicht, diese anderen Menschen." Ein schmales Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln. „Wir schon."

„Das klingt, als würde ich mich auf deren Seite wohler fühlen."

Sie warf unvermittelt den Kopf nach hinten und lachte auf – Erens schockierter Gesichtsausdruck, als sähe er ein Gespenst, war fast schon verletzend. Das Lachen blieb ihr wieder im Halse stecken. „Du würdest dich [style type="italic"]nicht[/style] wohler fühlen", versetzte sie bitter. „Du wärst ein Sproß direkt aus der Hölle, nichts weiter." Ein Teil von ihr, den sie gerade nicht brauchen konnte, merkte an, dass es bei Marley selbst nicht unbedingt anders war.

Eren merkte, dass sie kurz abdriftete.

„Du willst mich damit nicht wirklich überzeugen?"

„Ich zeige dir Lichtstreifen am Horizont. Wege, wie du überleben kannst." Annie hielt Erens Überleben durchaus für eine echte Möglichkeit. In allererster Linie sagte sie ihm dies alles jedoch, um ihm das Gefühl zu geben, nicht vor dem unausweichbaren Tod zu stehen. Der Mut der Verzweiflung war etwas, was sie ihm unbedingt nehmen musste. „Ach, ich vergaß: Fliegen können diese anderen Menschen übrigens auch nicht." Sie klopfte auf das Manöver-Gerät. „Wie man sich daran doch gewöhnt..."

Eren schüttelte entschieden den Kopf. „Du redest im Moment so irrsinnig viel. Um mich abzulenken von dem, was heute passierte?" Er hob wieder zur alten Lautstärke an. „Du bist der Weibliche Titan!Du bist eine hundertfache Mörderin! Und Reiner und Berthold unterstützen dich auch noch!"

Den letzten Teil sprach er besonders klagend. Dann fing er richtig an. Er warf ihr Namen ins Gesicht, die kein Bild für sie hatten. Er nannte Unbekannte, er nannte an Bäumen Zerquetschte und Zertrampelte und dennoch sagte nichts davon ihr irgendetwas, abgesehen von flackernden Erinnerungen an wenige Momente.

Sie war geistig gänzlich anwesend gewesen, ja. Doch was nützte das Erinnern? Ich habe bloß fremde Menschen getötet.

Eren steigerte sich in sein Element hinein. Er nannte sie eine kalte, widerliche Verräterin, feige und hinterhältig und ehrlos und -

Annies Geduldsfaden riss. „Ja!", rief sie aus und hob die Hand wie zum Schlag, sodass er kurz den Mund hielt. „Ja! Ich bin der Weibliche Titan, und ich habe getötet! Nicht erst seit heute, nicht nur hundertfach, sodern die Hälfte meines Lebens lang, und das tausendfach! Aber ich bin keine Mörderin." Ihre Stimme senkte sich zu einem scharfen Flüstern, wie ein Gegengewicht zu seinem vorherigen Brüllen. „Ich bin eine Kriegerin. Denn ich habe in Kriegen getötet. Weil man es mir befahl. Und auch hier hat man es mir befohlen. Doch warum sage ich das dir?" Sie kam ihrerseits in Schwung. Die Maske war weg, sie konnte nun reden. „Du verstehst nichts davon. Du bist ein Kundschafter, der nur gegen dumpfgesichtige, hohlbirnige Dinger kämpft, die weder vor Wut schreien noch vor Schmerzen weinen oder im Moment des Todes um Gnade betteln. Du und deine Wut, du und deine Rache, du konzentrierst diesen Mist auf ein Etwas, das nichts davon versteht." Sie fauchte ihm ins Gesicht. „Außerdem töte ich nicht nur! Ich habe auch gerettet, in Trost. Ich habe Connie gerettet. Ich habe Jean gerettet. Ich -" habe versucht, Marco zu retten. Da stutzte sie doch. Nein, Marco würde sie nun nicht ins Spiel bringen. „Und wenn ich getötet habe", griff sie den Faden wieder auf, „dann ging es schnell. Ich war gnädig. Ich war effektiv. Ich kaue niemanden zu Tode oder was auch immer euch bei den Titanen sonst erwartet."

Außer... manchmal. Erneut kroch ihr ein Schauer über den Nacken. Als ich den Kundschafter an seiner Leine im Kreis...

Doch er hatte es auch provoziert. Hatten sie alle an diesem Ort. Sie hatten sie, den Titan, unterschätzt und sich selbst übernommen. Mit ihren dummen Leinen und Haken und Rauchfahnen und Formationen. Reiner hatte einen solchen Aufstand wegen ihnen gemacht. Oh, welch mächtige Streiter der Hoffnung sie heute doch zerlegt hatte. Und wie einfach es gewesen war.

Ruhig jetzt. Ihre Lust am Reden versiegte wieder. Sie gedachte, Eren für die nächsten Stunden mit etwas Besserem zu beschäftigen. „Oh, und noch etwas. Reiner und Bertholt unterstützen mich nicht nur."

Sie sagte, wer und was sie waren.

Anschließend schob sie ihm ganz ohne Anstrengung den Knebel wieder in den Mund, beschwor ihren Titanen und ließ sich, ihren Gefangenen in der Hand, vom Baum gleiten.

Durch die Nacht, im Dauerlauf. Unter dem Schwarz und den Sternen.

Am nächsten Morgen fühlte sie sich schlimmer als zuvor. Sie hatte erneut ein Wäldchen von Riesenbäumen angestrebt, Eren auf einer Astgabel abgesetzt und dann ihren Titan verlassen.

Im Spiegelbild einer Schwertklinge betrachtete sie die Abdrücke, welche das Titanengewebe in ihrem Gesicht hinterließ. Eine wahre Schauermaske, und je mehr sie wandelte, ohne sich richtig zu erholen, umso tiefer würden sich diese Furchen eingraben. Doch an Schlaf war nicht zu denken, bis nicht der Hafen erreicht war. Unbeaufsichtigt hatte ihr Gefangener zu viele Möglichkeiten, sich zu verletzen. Sie sicherte ihn erneut, indem sie rechts und links Schwertklingen in die Baumrinde stieß, ein Kabel aus dem Manöver-Gerät von einer Seite zur anderen spannte und ihn dabei umschnürte. Und nochmal, und nochmal.

Das Frühstück bestand für sie aus einer Art Kraftfutter: Einem Riegel, in dem sich Reis, Kaffee, Ingwer, Zitrone und irgendwelche Beeren zu einem deftigen Klumpen vereinigten, der allen Geschmacksnerven den Kampf ansagte. Immerhin, schon nach dem ersten Bissen war sie nicht mehr müde. Vielleicht wurde sie das nie mehr. So fühlte es sich jedenfalls an. Sie wollte eh nicht mehr schlafen, und wenn sie irgendwann doch wieder musste, dann wenigstens traumlos!

„Willst du auch?" Sie brach ein kleines Stück ab.

Eren starrte auf den Bissen, als handele es sich um Rattengift.

„Zauberwerk ist es keins." Sie hielt es näher. „Fürchtest du, ich gebe dir Kraft, damit ich dir nachher etwas abhacken kann?" Bisher hatte sie es unterlassen, ihm weitere Wunden zuzufügen. Sie glaubte fest, dass ihre Worte über den Silberstreif am Horizont schon ihre Wirkung tun würden. Zudem gab sie ihm sogar Essen, also sollte er sich nicht beschweren. „Keine Sorge. Dafür reicht das hier nicht."

Die Bauchwunde ihres Gefangenen sonderte nach wie vor Schlieren aus Dampf ab.

„Noch immer schwach wie ein Spatz im Winter", stellte sie nach einem langen Blick auf die Wunde fest. „Ohne dich zu wandeln, brauchst du ziemlich lang, hm? Solltest du je auf meiner Seite sein, werde ich dir hinsichtlich Heilung ein paar Übungsstunden geben."

Sie rührte Haferbrei an, während die Sonne die Titanen weckte: Ein ganzes Dutzend versammelte sich nach und nach unter ihrem Baum. Sie achtete nicht darauf. Im Felde hatte sie häufig in nächster Nähe mit den Titanen leben müssen, manchmal nur durch eine Zeltwand voneinander getrennt. Schlaft bei euresgleichen.

Eren war da anders. Er blickte fortwährend in die Tiefe.

„Durst?" Nicken. Sie setzte ihm eine Flasche an die Lippen, sodass er trinken konnte. Dabei schaute er sie an, als würde sie ihm Galle einflößen. „Genug."

„Ich mochte dich, weißt du?"

Sie erstarrte, wie vor den Kopf geschlagen. Oh, er kann reden, ohne zu schreien. Kam das, weil sie Übungsstunden erwähnt hatte? Sie kaute einen Moment lang auf der Zunge. „Von Leuten gemocht zu werden, ist Reiners und Bertholds Spiel. Ich habe es nicht darauf angelegt." Sie setzte dazu an, ihm den Brei in den Mund zu löffeln. „Sperr dich nicht. Wir überleben etliche Wunden, doch Hunger und Durst sind dennoch ein Problem."

Gerade wollte sie den ersten Löffel ans Ziel bringen – da bemerkte sie das entschlossene Funkeln in Erens Augen. Er streckte ihr bizarrerweise die Zunge heraus.

Und biss die Spitze ab.

In einer Welle aus Fleisch und Muskeln platzte er ihr entgegen!

Zuerst klatschte eine Handfläche, groß wie ein Wagenrad, vor ihre Brust und schleuderte sie rückwärts. Der Bastard hat seine Heilung unterdrückt. Sie fragte sich einen blödsinnigen Moment lang, wer ihn auf diese Idee gebracht haben mochte. Seine Finger waren zu spät dran, um den Griff zu schließen, doch der Zeigefinger schnappte vor und bohrte seinen Nagel tief in die Kuhle zwischen Schulter und Hals. Blut spritzte hoch.

Anfänger. Er hat keine Ahnung, wie er mich töten soll.

Noch ein Blitz. Zwei Leiber stürzten vom Ast, gefolgt von einer Lawine aus Dampf. Ein herumlungernder Titan wurde getroffen, zuerst von ihr, dann von ihm.

Sie rafften sich hoch und fixierten einander, während sich die Wolke legte. Beide waren nicht auf der Höhe ihrer Kraft. Abgemagert, hohlwangig und jeweils mindestens einen Kopf kleiner als gewöhnlich, standen sie sich gegenüber. Um sie herum erholten sich die Titanen von der Überraschung, vom doppelt Getroffenen abgesehen, der bereits bloß noch aus Knochen bestand. Dessen Artgenossen wankten einen Augenblick lang wie unschlüssig. Es war früh, die Sonne stand noch nicht lang am Himmel.

Annie nahm den Kampfstand ein. Was tust du, wenn du von mehreren Gegner umzingelt wirst? Eine Frage, wie ihr Vater sie gern gestellt hatte. Zuerst angreifen. Oder erahnen, wer zuerst angreifen wird. Dies zu erahnen, war nicht schwer.

Sie duckte sich unter Erens Schlag weg, drehte sich raus. Griff unter der Faust hindurch, packte den Ellenbogen. Sie zog. Und schob dann! Er raste vorbei, donnerte in den nächsten Titan und riss ihn nieder. Er wälzte über ihn hinweg, kam sogar wieder auf die Füße. Immerhin nutzte er die Chance und hämmerte schwer gegen die Kehle des auf dem Rücken liegenden Gegners, sodass die Kraft bis tief in den Nacken ging. Arme und Beine des Titanen zuckten in Todeskrämpfen.

Sofort umschwärmten Eren drei andere. Einer versenkte die Zähne in seinem Ellenbogen und verlor sie alle, als Eren ihn erst durch Vorwärts abschüttelte und dann durch Rückwärts fortprellte.

Die zwei übrigen grapschten nach ihm und wurden abgewimmelt. Doch dann kamen noch mehr, und Eren nahm eine Verteidigungshaltung ein. Zwischen den Köpfen seiner Gegner hindurch starrte er zu Annie hin.

Die Überzahl von Titanen ging auf Eren los. Annie nahm es mit einer gewissen Schadenfreue hin. Die Strafe des Schicksals, weil du angefangen hast. Mit leichter Verwunderung bemerkte sie, wie er die Schultern hob und mit dem Kopf ruckte.

Was. Ist das eine Bitte um Hilfe? Irgendwas musste die nutzlose Gestik bedeuten. Es belustigte sie fast schon. Ein feiner Ausbrecher bist du. Annie wich vor ihrem Anteil an Gegnern zurück und sprang stattdessen Eren bei. Sie krallte in einen gegnerischen Nacken, riss das Opfer daran zurück und in die ihr nachjagenden Titanen hinein. Der Gepackte stürzte, riss zwei andere von den Füßen. Zeit erkaufen. Einen nach dem anderen. Jetzt -

Als sie sich wieder umdrehte, trieb Eren seine Faust in ihr Gesicht. Ihr Genick krachte grausig, und die Knöchel schrammten durch ihre Augen. Sie konnte nichts sehen, als der nächste Schlag ihre Brust traf, dann wieder den Kopf, die Brust, den Kopf. Trommelfeuer, so eintönig wie ein Marschtakt. Selber schuld! Sie packte zu. Auf halbem Weg passte sie seine Faust ab, umschlang sein Handgelenk und zerrte ihn heran. So nah dran, dass sie ihn fast überall spürte. So nah dran, dass sein Ausholen nichts mehr brachte und sie ins Ringen kamen. Ungeschickt versuchte er, sie mit seinem freien Arm in einen Schwitzkasten zu bringen, doch sie schüttelte den lächerlichen Versuch ab.

Etwas packte sie an der Hüfte und biss zu. Sie keilte nach hinten aus und spürte Knochen brechen.

Kopfschmerz. Sie hatte Kopfschmerz. Ihr Schädel saß irgendwie schief. Direkt vor ihrem Gesicht grollte Eren auf. Und dann biss er sie! Seine Zähne schnappten knallend zu; ein Stück Wange fetzte ab, samt Knochen. Noch mehr Schmerz!

Sie zwang ihn herum, sodass er ihr den Rücken zudrehte, und riss seinen Arm zugleich nach hinten und hoch. Ihr Knie landete in seinem Kreuz und presste ihn abwärts. Er bebte und bockte und schüttelte sie durch.

Dann Licht. Das linke Auge lebte wieder. Sie hatte den Nacken genau vor sich – und schrie.

"HÖR AUF!" Diese ungeschlacht hervorkommenden Worte klangen so harmonisch wie eine Artillerie-Stellung, wenn man den Kanonendonner austauschte gegen das Kratzen tausender Fingernägel auf Schiefertafeln. Unter dem markerschütternden Brüllen, welches direkt gegen den Nacken gerichtet war, erstarrte der Wächter-Titan wirklich. Nicht, weil sie es gesagt hatte, sondern wie sie es gesagt hatte.

Annie biss zu, ohne jede Vorsicht, und riss Eren aus seinem Titanenleib hervor. Mit einer gewissen Befriedigung nahm sie zur Kenntnis, dass dabei seine Arme auf der Strecke blieben.

Jetzt habe ichs doch getan.

Klatschend wurde er, von dampfenden Fleischfetzen umgeben, zu Boden gespuckt. Annie löste sich aus dem Nacken ihres eigenen Titanen. Als Erstes die anderen! Sie jagte einen Haken hinauf in den nächstbesten Ast. Die Monster waren gleich darauf da, fielen über die leeren Hüllen her und schlugen ihre Zähne hinein. Annie rettete sich zunächst in die Höhe, während ihr Titanenleib umstürzte. Dann wendete sie und schwirrte im Kreis um den leibhaftigen Fressrausch. Beklemmend. Ein falscher Schritt, und sie könnte mittendrin stecken.

Doch es war wie Fischen in einem Teich. Die Titanen stopften sich voll, und sie drehten ihr den Rücken zu. Sie stieß runter. Es war nur ein Schlitzen – Schneiden – Hacken – Zerren – Ziehen – Sägen - Kratzen. Die Klingen wurden stumpf und stumpfer. Dampf und Blut schossen hoch. Ein Opfer schrie zu ihrem Entsetzen wie ein Kleinkind, als es verendete.

Dann war der Spuk vorbei. Annie pendelte einen Moment lang in den Seilen, bis auf die Haut blutdurchnässt. Dann ließ sie sich zu Boden gleiten, stolperte die ersten Schritte, fing sich. Suchte den Weg zwischen rauchenden Kadavern, rauchte selbst dabei.

Als Eren sie erblickte, windete er sich auf dem Boden wie ein Wolf in der Falle. Er versuchte, auf die Füße zu kommen, doch ohne Arme fehlte ihm das Gleichgewicht.

„Scheiß Mag-mich-Getue", knurrte sie." Wolltest mich auf dem Falschen Fuß erwischen?" Sie trat ihm mit Anlauf in die Rippen, dass er aufschrie, und tat es gleich nochmal.

Das ist dafür, dass du uns in die Horde gestürzt hast. Das ist für die Unverschämtheit, einen Hilferuf zu schauspielern! Und DAS für das Beißen!" Der letzte Tritt fiel besonders befriedigend aus. Eren rollte erst auf die Seite, dann auf den Rücken. Japsend schnappte er abwechselnd nach Luft und keuchte vor Schmerz.

Erst da fiel Annie auf, dass Dampf auch aus seinen Ohren kam. Durchlöchertes Trommelfell? Wegen ihrem Schrei? Konnte er sie gerade nichtmals hören? Dafür trete ich ihn nochmal.

Sie trat ihn nicht nochmal. Als der Dampf nach einigen Momenten aus seinen Gehörgängen versiegte, hatte sie sich wieder im Griff. Anstatt ihn weiter mit den Füßen zu misshandeln, hob sie eine Klinge.

Eren sah das Schwert blitzend hochgehen. Diesmal, so musste er denken, würde sie ihn köpfen.

Stattdessen landete die Klinge mit sanftem Schwirren im Erdboden.

„Ich müsste dir die Beine auch noch nehmen. Doch ich will das nicht." Die Worte tropften zu ihm hinunter. „Ich will dich nicht schneiden müssen wie einen Ast. Die Karten liegen auf dem Tisch. Du bist unten, ich bin oben. Egal, wie schwach wir auf dieser Reise noch werden. Du wirst verlieren, immer wieder."

Eine Pause entstand, in der sie beide Atem schöpften. Annie wartete auf eine Antwort, doch es kam keine. Sie lauschte in den Wald, doch es herrschte Stille. Sie ergriff wieder das Wort. „Jeder Mensch hat einen Hebel. Sag mir, welchen ich bei dir ziehen muss, um uns diese Geschichte einfacher zu gestalten."

Eisernes Schweigen. Seufzend packte Annie ihren Gefangenen am Kragen, um ihn aufzusetzen. Dabei fingen sich ihre Finger wieder in der Schnur, die um seinen Hals gewickelt war. Annie zog den Schlüssel hervor.

„Ach ja." Eine Idee nahm Gestalt an, und sie nahm ihn an sich, als wolle sie ihn näher betrachten. „Über diesen Schlüssel sprachen wir schon einmal." Sie sah deutlich, dass Eren den Schlüssel gern aus ihren Händen gerissen hätte. „Weißt du noch? Es ging darum, dass man während der Übungseinheiten keinen Schmuck tragen sollte. Verletzungsgefahr und all das. Du sagtest damals, ich müsste dann auch den Ring ablegen." Da Eren nicht wirklich aufgeschlossen war, spielte sie eben beide Parteien des Dialogs. „Dein Schlüssel, mein Ring. Wir haben beide etwas von unseren Vätern. Mit dem Unterschied, so hast du gesagt, dass dein Schlüssel etwas nützlicher wäre." Sie erlaubte sich ein halbes Lächeln und hängte ihm den Schlüssel wieder um. „Ja, ja, ich weiß. Der Keller, von dem ihr euch so viel erhofft. Doch wofür ist ein Schlüssel nütze, der zu keinem Schloss passt, an das du herankommst."

In Erens Gesicht regte sich plötzlich etwas, das nicht nach Zorn aussah. „Ich muss in den Keller", sagte er. „In den Keller meines Vaters und sehen, was darin ist."

„So? Auch jetzt noch? Ist das dein Hebel? Einfach nur ein letzter Blick auf Ruinen?" Annie hatte das Thema nur flüchtig mit Reiner und Berthold gestreift. Der Keller selbst war für sie nicht von Interesse, denn was sollte sich darin schon verbergen, das Marley nicht schon wußte? Wenn die Kundschafter sich deswegen ins Titanen-Revier aufmachten, so war das aber natürlich gut und praktisch gewesen.

Sie blickte sich um und erspähte den zu Boden gefallenen Rucksack, holte ihn und zog eine Karte aus dem Seitenfach. „Einerlei. Lass uns sehen..."

„Du kennst Shiganshina", sagte Eren, ehe sie die Karte studieren konnte. „Du... Ihr habt Shiganshina zerstört."

Annie stand einen Moment lang wie versteinert. Und verstand. Legte die Karte wieder weg und tat unbekümmert. „Dann liegt es ohnehin auf dem Weg... Du willst dort also Pause machen? Fein. Dafür machst du keine Scherereien mehr?"

„Ich biete Waffenstillstand. Bis wir die Stadt wieder verlassen haben."

„Du bist bekloppt. Soll das deine Wortwahl sein?"

„Ja. Sobald wir den Keller besucht haben, tragen wir ein Duell aus. Gewinne ich, gehe ich heim. Gewinnst du, nimmst du mich eben mit."

Sie schüttelte langsam den Kopf. „Ein Kuhhandel. Ich bin nett und will dich nicht stutzen, und du kannst nichtmals ordentlich feilschen. Für eine ruhige Reise gewinnst du Wissen und eine Chance zur Flucht."

„Ist es denn eine Chance? Dass du verlierst?"

Ärger blitzte hoch. „Du träumst."

„Was verlierst du dann?"

Richtig. Nichts. Denn sie verlor nicht!

Ein nicht allzu fernes Knacken von Unterholz zwang sie beide, sich wieder in die Sicherheit der Höhe zu begeben. Dort saßen sie dann für den Rest des Tages auf ihrem Ast. Erens Arme erholten sich innerhalb weniger Stunden vollständig. Annies Gesicht indes war dem ihres Titanen ähnlicher als ihrem eigenen.

Am Ende der zweiten Nacht erreichten sie die grünen Hügel und dichten Wälder rund um Shiganshina.

Als Annie diesmal ihren Titan verließ, hafteten die Muskelstränge und Nervenfasern so fest, dass sie sich losreißen musste. Es blieb was hängen, nicht nur von ihrem Gesicht, sondern auch von darunter, bis zum Brustbein.

Sie hätte heulen können. Minutenlang hockte sie auf einem toten Baumstamm, dampfend wie ein Suppenkessel. Sie betastete die Wunden, um die Schwere zu erahnen. Jede Berührung brannte. Bei geschlossenem Mund spürte sie kalte Luft an ihren Zähnen.

„Meine Augen sind in Ordnung und weit offen, nur dass du es weißt", warnte sie Eren durch die Schwaden hindurch. „Genauer: Ich kann sie gerade nichtmals schließen, ohne Lider."

„Ich mach nichts." Lächelte er, schadenfroh? Er klang so.

Im Wald roch es anders als im Grasland. Würziger, moosiger. Schließlich zogen sie los.

Sie streiften durch Halbschatten und schräge Sonnenstrahlen, querten Lichtungen voller Brennesseln und übersprangen murmelnde Bachläufe. Da und dort verbargen sich Hütten von Holzfällern und Köhlern, windschief und überwuchert.

„Ich weiß, wo wir sind", ergriff Eren nach einer Weile das Wort. „Noch ein paar Kilometer."

„Ah." Sie meinte, etwas wie freudige Erwartung aus seiner Stimme zu hören. Wie viel bedeutete ihm dieser Keller?

Von Anhöhen herab spähten sie auf allerlei Seltsamkeiten. Ein ganzes Tal voller ordentlicher Reihen Mais wartete auf Ernte. Der Geruch frisch geschnittenen Heus wehte ihnen mit dem Westwind in die Nase. Durch eine Senke spazierte ein Titan, von verwilderten Rindern begleitet.

Der Wald bot Sicherheit. Sie nahmen Pfade, die ein Titan nur passieren konnte, wenn er sich jeden Schritt mit Gewalt erarbeitete. Sie schwiegen beide, die meiste Zeit. Das war vertraut. Es war, als gliche sich dabei irgendetwas aus. Sie waren die einzigen Menschen zwischen Wäldern und Tieren, Ruinen und Menschenfressern. Und weil sie nur den jeweils andern hatten, fielen sie trotz der Kluft zwischen ihnen in eine Art Kameradschaft zurück, die sich damals, in der Rekruten-Einheit, gebildet hatte. Da war kein Verzeihen, kein Vergessen, aber doch ein Verdrängen. Sie hatten beide ein Ziel, und den Weg dahin mussten sie durchstehen.

Am Nachmittag begegneten sie auf dem schmalen Pfad einem Rehbock; er drehte ihnen erst die Ohren zu, dann das Gesicht.

„Der ist noch jung." Annie war stehen geblieben. Der Bock zuckte beim Klang ihrer Stimme zusammen, lief jedoch nicht weg. „Hat sicher sein Leben lang noch keinen Menschen gesehen. Nur Titanen, und die lassen ihn in Ruhe. Gibt es hier Wölfe?"

„Nur auf der anderen Seite der Mauer."

„Jetzt sicher auch auf dieser Seite." Sie ignorierte den Seitenblick, den sie sich mit dieser Erklärung einfing. Aus einer Laune heraus trat sie noch näher an das Tier heran, kam sogar bis auf Armeslänge. Als sie dann auch noch die Hand hob, um ihn zu streicheln, wurde es dem Bock aber doch zu ungemütlich, und er sprang in weiten Sätzen davon.

„Warum", fragte Eren hinter ihr, „fressen die Titanen nur Menschen?"

Annie stand dort, die Hand noch halb erhoben, und hielt die Antwort eine Weile lang zurück. „Weil sie Menschen sein wollen", erwiderte sie schließlich. „Wieder Menschen sein wollen."

Sie musste sich nicht umdrehen, um die erschrockene Miene vor sich zu sehen.

„Ihr wußtet das wohl nicht?"

„Nein. Nicht wirklich." Eren saugte einen Moment lang an seiner Unterlippe. „Sie müssen also Menschen essen, um wieder Menschen zu werden? Eine gewisse Anzahl?"

Ein Hauch von Unmut legte sich auf Annies Züge. Schweigen hatte ihr besser gefallen. Nun, wo Eren sich Fragen traute, trat nur wieder ihre Feindschaft hervor. Er will noch mehr Informationen. Die er dann zurücktragen kann. In seinen Träumen.

Eine Antwort bekam er trotzdem „Nein. Nur einen. Aber den Richtigen." Sie deutete auf ihn und sich selbst. „Einen von uns. Einen Wandler."

Verstehen leuchtete in Erens Gesicht auf, und etwas Hintergründiges, das ihr nicht gefiel. Nachdenklich nickte er. „Also... nehmen wir an, einer fräße dich. Dann würde er wieder so werden, wie er vorher -"

Mit einem Mal wich auch der letzte Rest Gelassenheit aus Annies Gesicht. Sie zog sogar eine Klinge und richtete sie auf Erens Brust.

„Das reicht! Geh wieder vor."

„Es war nur -"

„Gehen und Schweigen. Jetzt!"

Er tat wie geheißen. Die Schwertspitze folgte ihm, während er um seine Wärterin herum ging. „Höre, ich ziehe die Frage zurück. Versuchen wir eine andere: Wenn zwei Wandler sich ohne Proviant im Wald verirren, hacken sie sich dann -"

„Keine Fragen mehr! Sonst lassen wir ein wenig Fleisch für die Wölfe hier." Wütend schlug sie im Vorbeigehen einer Brennessel den Kopf ab. Sie sollte sich nicht so seltsam verraten fühlen, und doch fühlte sie sich genau so. Vielleicht, weil er die Neuigkeiten so schnell verdaute. Und das Erste, was ihm in den Sinn kam...

"Nichts Gutes kommt aus deinem Mund, nichts Gutes!"