A/N: Willkommen, neugieriger Klicker und potentieller Leser, zu meinem zweiten Streich in der Dark Knight Sparte! Ich freue mich, wenn ich dich zumindest dazu bringen konnte, hier hinein zu klicken, vielleicht liest du und/oder hinterlässt mir sogar Feedback, darüber bin ich immer dankbar. Bei Interesse für Hintergrundinfos (Cover, Trailer, usw.) wirst du auf meinem Blog (zu finden im URL-Link meines Profils) fündig. Ich wünsche viel Spaß beim Lesen!
Disclaimer: Batman und sämtliche Charaktere aus demselben Universum gehören nicht mir, ich leihe sie mir nur aus. Die Rechte liegen hierbei einzig und allein bei Bob Kane und den DC Comics; die Handlung orientiert sich jedoch einzig und allein an den im Film „The Dark Knight" vorkommenden Elementen und Geschehnissen. Ich kann lediglich Anspruch auf von mir geschaffene Charaktere wie der Protagonistin erheben, ich verdiene aber – oh Wunder – keinen Cent mit dieser Erzählung.
Genre: Thriller
Rating: P-16 (Änderungen möglich)
Zusammenfassung: Man glaubt, man habe den Joker auf dem Dach des Prewitt Buildings ein für alle Mal dingfest gemacht. Doch Chaos wäre nicht Chaos, wenn es sich binden und zähmen ließe. Er ist entwischt, aber nicht ungeschoren. Hier kommt Dr. Elena Clementine ins Spiel. Denn wer könnte sich besser dafür eignen, in seinem Sinne zu arbeiten, als jemand, der sein blutiges Handwerk genauso gut versteht wie er selbst?
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Blutiges Handwerk
Prolog
„Auch wenn du die Wahrheit sagst; niemand wird dir zuhören. Weißt du, warum? Weil du verrückt bist. Und je mehr du versuchst, das Gegenteil zu beweisen, desto verrückter wirst du ihnen vorkommen..."
[Gothika]
Das kalte Licht der Neonröhren flackert hektisch. Es flackert schon lange. Seit Tagen oder Wochen. So genau kann ich es nicht sagen. Es ist lange her, seit ich in diesem Zimmer war und Zeit ist hier drin ein klebriger Faden, der sich in die Länge zieht, wenn man sich an ihm vergreift. Man wird ihn nur schlecht wieder los. Er ist zäh. So wie ich.
Das Flackern bleibt aus, nur für die Dauer weniger Sekunden, dann setzt es mit unermüdlicher Penetranz wieder ein, wie ein visueller Herzschlag, ein Pochen, bestehend aus der Beständigkeit des Unbeständigen. Irgendwann wird die Birne durchbrennen, das Licht erlöschen. So ist der Lauf des Lebens.
Ich starre fasziniert hinauf, schon lange blendet es mich nicht mehr. Ich habe mich an seinen grellen Schein gewöhnt. Man gewöhnt sich hier drin sehr schnell an vieles. Und man hört auf, sich zur Wehr zu setzen. Jeden Morgen bekomme ich meinen Medikamentencocktail, damit ich ruhig bin. Ruhig und gefügig wie alle anderen auf der Station. Die wahren Spinner und Geisteskranken, die schon lange vergessen haben, dass sie noch existieren. Und sie existieren auch nur noch auf dem Papier der Krankenakten, die sich in den Archiven der Anstalt bis zur Decke stapeln müssen. Kein Schwein interessiert sich für sie. Aus dem Gedächtnis der Gesellschaft, der sie einst angehört haben, sind sie gelöscht wie ein Virus von einer Festplatte. Die Hälfte der Insassen nässt sich ein und ist kaum noch fähig, sich verbal zu artikulieren. Das, was ihre Krankheit nicht geschafft hat, haben die hohen Medikamentendosierungen für sie erledigt, die letzten noch intakten Gehirnzellen zerfressen wie Krebs. Im Prinzip wartet man hier drin nur noch darauf, dass sie sterben, damit Platz für neue Patienten geschaffen wird.
Vor Arkhams Türen stehen sie Schlange, so als gäbe es hier drin, in den gepolsterten Wänden der psychiatrischen Anstalt so etwas wie Heilung. Arkham kennt kein Heilmittel, es holt nur die Verrücktesten der Verrückten von der Straße. Und die, die anderen Problemen machen. Ich bin nicht verrückt, aber es macht das Leben in Arkham einfacher für mich, wenn ich so tue, als wäre ich es.
Meine Schulter juckt, aber ich kann mich nicht kratzen. Sie haben mir wieder die Zwangsjacke angelegt, damit ich mir nicht wehtun kann. Aber vor allem, damit ich meinem hohen Besuch nicht wehtun kann. Man nimmt mir den Vorfall mit dem Tacker immer noch übel, obwohl es schon lange her ist. Wie lang weiß ich allerdings nicht mehr. Wie ich schon sagte, Zeit ist hier drin zähflüssig. Ich weiß nur, dass es heute schon spät ist. Eigentlich müsste ich längst geduscht und meine Schlafpillen eingenommen haben. Die gegen die Alpträume. Die muss ich immer eine halbe Stunde vor denen gegen die Angst nehmen. Anweisung des Doktors. Der Gedanke, dass ich selbst einmal Doktor gewesen bin, macht mich lachen. Habe ich meine Patienten damals auch wie unmündige Kleinkinder behandelt? Wie jemanden, der mir geistig nicht gewachsen ist? Oh, diese Arroganz dieser Pfleger...und Ärzte...studierte Psychologen, die meinen, das wahre Wesen eines Menschen durch Couchgeplänkel und Maltherapie aufschlüsseln zu können. Sie haben keine Ahnung. Sie haben nicht gesehen, was ich gesehen habe, haben nicht gefühlt, was ich fühlte. Ich habe gesehen, was hinter der Maske der Menschlichkeit steckt und ja, es hat mich an die Grenzen des Wahnsinns geschickt, vielleicht sogar darüber hinaus. Dafür muss ich nun büßen, muss mich von ihnen wie Dreck behandeln lassen, von den elenden Maskenträgern, deren Karneval erst dann endet, wenn man ihrem erbärmlichen Leben ein Ende setzt.
Ich rege mich schon wieder auf, obwohl ich es nicht will. Ich atme hektisch, die eng geschlossene Jacke schnürt sich um meinen Brustkorb, mein Puls ist erhöht, die Hände schwitzen. Ich kann es fühlen, selbst durch den robusten Stoff der weißen Jacke hindurch, die hinter meinem Rücken verschnürt ist. Aber es macht nichts, wenn meine Hände schwitzen. Ich kann sie meinem Besuch ohnehin nicht entgegenstrecken.
Ich gelte als gefährlich, deshalb habe ich einen persönlichen Wachhund zur Seite gestellt bekommen. Ray ist ein gutmütiger junger Mann, aber leider besitzt eine vertrocknete Scheibe Brot einen höheren IQ als er. Es ist leicht, ihm Angst einzujagen. Lange wird er die Arbeit hier nicht aushalten. Jeder, der hier länger als einen Tag ist, bekommt Angstzustände. Nur ich nicht. Ich habe ja meine Pillen. Eine morgens, eine abends. Der leichteste Weg, mit den Insassen dieser Anstalt klarzukommen, ist sie auf Drogen zu setzen. Ich habe aufgehört, zu schreien, zu beißen und zu keifen. Dafür bekomme ich eine Pille weniger. Immerhin. Ein Anfang. Diese so genannten Therapeuten bilden sich ein, einen Menschen durch die Medikation zähmen zu können, lockere Schrauben mithilfe von Arznei wieder festdrehen zu können. Dabei übersehen sie, dass eine Schraube nur deshalb locker sitzt, weil ihre Fassung zu weit ist.
Das Flackern der Lampe setzt erschreckend lang aus. Einen Atemzug lang. Zwei. Dann sogar drei. Herzstillstand. Sie leuchtet wieder auf, nicht ganz so stark wie zuvor, aber tapfer und im Begriff, durchzuhalten. Reanimation.
Ich senke den Blick. Das kalte Licht ergießt sich auf der schmucklosen Metallplatte des Tisches, die so steril ist, dass man von ihr Essensreste ablecken könnte wie von einem Teller. Etwas, das ich Jamie immer verboten habe. Die Tischplatte ist so blank poliert, dass sich sogar mein Gesicht ansatzweise darin spiegelt. Ich bin keine Schönheit, war es vielleicht nie. Aber Eitelkeiten verlieren ohnehin ihren fadenscheinigen Sinn, wenn man das Ausmaß der Hässlichkeit der eigenen Rasse erkennt. Meine schwarzen Locken fallen mir strähnig in die Stirn, die letzte Wäsche liegt schon ein wenig zurück. Wie lang? Ich weiß es nicht. Sagte ich schon, dass die Zeit hier drinnen zäh wie Leim sein kann? Bestimmt habe ich das bereits erwähnt. Ich fange an, viele Dinge zu vergessen, die ich erzähle, aber es ist nicht schlimm. Es ist nicht schlimm, solange ich mich an das erinnern kann, was mich hierher gebracht hat. Und das ist etwas, das ich nie vergessen kann.
„Elena, setzen Sie sich bitte gerade hin."
Die Aufforderung entstammt dem Wachmann, einem vierschrötigen, plumpen Kerl mit Schweinsgesicht und wabernden Doppelkinn. Seine Haut hat einen rosigen Schimmer. Dunkle, ungleichmäßige Schweißringe zeichnen sich unter dem grauen Stoff seines Hemdes ab, das ob seiner Wampe so stark spannt, dass ich mir vorstelle, dass in jedem Moment die Knöpfe davon abspringen. Das braune Haar hat er kurz rasiert, wie beim Militär. Er wird nervös, weil ich ihn länger ansehe, ohne etwas zu sagen, der Schweiß an seinen Schläfen mehrt sich, das Flackern, das die Lampe in ihrer alten Gewohnheit wieder aufgenommen hat, trägt zu seiner Unruhe bei. „Bitte...setzen Sie sich hin...sonst können Sie nicht Ihren Besuch empfangen."
Er hält die langen Lederriemen unbeholfen in den Händen. Mit ihnen wird er mich an den Stuhl fesseln, so als könnte ich trotz der Zwangsjacke noch irgendetwas mit meinen Armen ausrichten. Aber ich bin gehorsam und füge mich. Es erspart mir die gelbe Tablette vor dem Schlafengehen, die willenlos macht. Obwohl...bin ich es nicht schon längst? Willenlos? Ich meine...ich lasse mich an einen gottverdammten Stuhl fesseln, nur damit ein paranoider Bundespolizist nicht befürchten muss, von mir angespuckt zu werden. Dabei kann ich gut spucken. Und weit.
Ich lasse den Dicken gewähren. Sein Namensschild reflektiert verspielt das Licht der Neonleuchten, als er sich vorbeugt. Es verliest G. Bolt. Wofür das G wohl steht? Er sieht aus wie ein Graham...nein, eher wie ein George. Oder Gilbert? Es müssen zwei Silben sein, wie würde es sich sonst anhören, wenn Vor- und Nachname einsilbig waren? Wie ein Marschbefehl, aber nicht wie ein Name. Dabei tun Namen nichts zur Sache. Sie helfen uns nur, uns voneinander zu unterscheiden, vermitteln den Eindruck, als wären wir unabhängige Individuen. Dabei sind es unsere Eltern, die über unseren Namen entscheiden, nicht einmal wir. Genauso gut könnte man uns eine Nummer oder einen Barcode eintätowieren. Graham, George oder auch Gilbert schnallt mich an den Stuhl. Ich fühle mich ein wenig so, als säße ich auf dem elektrischen. Ich warte nur noch auf den Mann, der mir Kopf und Gesicht mit einem feuchten Schwamm abtupft. Aber ich glaube, der elektrische Stuhl ist nicht mehr gang und gebe. Heute verwenden sie öfter die Giftspritze. In Gotham City kann man sich da aber nicht sicher sein.
Der dicke Wachmann lässt von mir ab. Ich atme dankbar aus. Der saure Geruch seines Schweißes hängt wie unsichtbarer Nebel in der Luft, ich muss ihn einatmen, wenn ich nicht ersticken will.
„Ihr Besuch kommt gleich herein", verspricht mir der Mann ohne Vornamen, geht um mich herum und verschwindet hinter der dicken Stahltür. Ich darf mir wichtig vorkommen, ich sitze in einer Art Hochsicherheitstrakt. Es fehlt nur die Glasscheibe, hinter der das als Besuch getarnte Verhör verfolgt wird. Deren Funktion erledigt wohl eine Kamera. Oder mehrere. Damit man den besten Aufnahmewinkel nachträglich aussuchen kann. Ein elektrisches Surren ertönt vor mir und nur wenige Sekunden später wird die schwere Tür aufgestoßen. Ein kleines Persönchen tritt ein. Sie trägt einen Hosenanzug, der ihr eine Nummer zu groß zu sein scheint. Die Schulterpolster ihres Blazers stauchen ihre ohnehin recht zierliche Gestalt zusammen, lassen sie verloren in ihrer eigenen Garderobe wirken. Das braune, leicht gewellte Haar ist streng zurückgekämmt und wird von einer Klammer zusammengehalten. Ihre Unsicherheit hat sie mit zu aufdringlichem Make-up zu übertünchen versucht, das knallige Rot auf ihren Lippen lässt sie noch bleicher erscheinen als sie ist. Vielleicht liegt es aber auch nur am unvorteilhaften Neonlicht. Sie stellt eine Aktentasche, in der nicht mehr als ein Mäppchen Platz finden kann, vor sich auf den Tisch, so als wäre sie ihr Schutzschild.
„Guten Abend, Dr. Clementine", begrüßt sie mich und ich spüre ein kurzes Lächeln über meine Lippen tanzen. Man hat mich schon lange nicht mehr mit meinem Doktortitel angesprochen, und das, obwohl er immer noch zu meinem Namen gehört. Man erkennt einem keine akademischen Titel ab, wenn man verrückt wird. Noch nicht einmal, wenn man Menschenleben auf dem Gewissen hat. Aber wenn man Plagiat betreibt, ist die Chance auf eine akademische Laufbahn dahin. Es ist eine komische Welt, in der wir leben. Aber warum sollte man mir auch meinen Titel nehmen? Ich habe nichts von meinen chirurgischen Fähigkeiten verlernt, kann immer noch hervorragend mit einem Skalpell umgehen.
„Guten Abend", erwidere ich. Manchmal erschrecke ich vor meiner eigenen Stimme. Ich habe mich daran gewöhnt, den Großteil meiner Kommunikation in meine eigene Gedankenwelt zurückzuziehen. Wenn ich dann den Mund aufmache und spreche, kommt es mir vor, als würde jemand die Stille in mir zerbrechen und die Ruhe stören, die ich wenigstens vorübergehend gefunden habe.
„Ich bin Agent Corelli. Ich arbeite für das FBI."
Ich reagiere nicht. Wenn sie versucht, mich mit ihrem Status zu beeindrucken, gelingt es ihr nicht. Es gibt nicht mehr viel, das mich aus dem Konzept bringen kann. Zu viel habe ich gesehen, zu viel habe ich getan. Wenn man einmal in den dunklen Abgrund geschaut hat, fällt es schwer, das ernst zu nehmen, an das sich Menschen tagein, tagaus klammern. Ihre Regeln, ihre Ordnungen, ihre Ränge und Titel. Dabei ist alles nichtig, denn ganz gleich, welches Leben man auch geführt hat – am Ende erwartet uns alle dasselbe. Der Sensenmann. Er ist es, der zuletzt lacht. Alles, was wir tun können, ist ihm entgegenzulächeln und unser sterbliches Schicksal mit Fassung zu tragen.
Mein Gegenüber schaut mich an, die rehbraunen, mandelförmigen Augen fällen ein Urteil über mich, stempeln mich schon jetzt für verrückt ab, obwohl ich kaum etwas gesagt habe.
„Das ist schön für Sie", entgegne ich, damit die peinliche Stille zwischen uns nicht ins Unermessliche wächst. Im Grunde ist es mir gleich, ich habe gelernt, die Stille, das Schweigen zu schätzen. Die Welt ist laut genug, man muss ihre Lärmkulisse nicht mit geistlosem Geplänkel und Stumpfsinn bereichern.
Sie zögert, schaut an mir vorbei, dort, wo die Kamera an der Wand prangt. Sie ist unsicher, scheinbar noch nicht sehr lang im Geschäft. Oder sie hält mich für eine Art Hannibal Lecter aufgrund meiner wenig schmeichelhaften Erscheinung. Es fehlt im Grunde nur noch das Metallgestell, das wie ein Maulkorb meinen Mund verdeckt.
„Ich möchte Ihnen einige Fragen stellen."
Ja, das wollen sie alle. Ich beantworte sie nach meinem besten Wissen, aber die wenigsten begreifen, was ich ihnen damit sagen will. „Nur zu", ermutige ich sie und versuche mich an einem ehrlichen Lächeln. Ich scheitere kläglich. Zu lächeln ist fast so selten geworden wie zu sprechen. Ich habe es beinahe verlernt.
„Ich ermittle gegen den Joker", versucht sie mir mit fester Stimme mitzuteilen, aber ich höre ihre Anspannung heraus. Ich kann es ihr nicht verdenken. Es gibt wenige, die nicht vor dem Joker schlottern. Auch ich habe es getan, würde es jetzt vielleicht noch tun. Er hatte es also geschafft, nun auch vom FBI verfolgt zu werden. Vielleicht auch vom Secret Service? Nicht unmöglich. Er wird die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wird, mit Sicherheit genießen.
„Nicht so schön", gebe ich zurück, der Schatten eines Lächelns verharrt noch immer auf meinen Zügen. Sie blinzelt, wendet den Blick ab – nur kurz, aber ich sehe es, registriere es. Dann setzt sie sich hin, seufzt, zieht die Tasche auf ihren Schoß und kramt eine Akte daraus hervor. Ihre Fingernägel sind lang und manikürt, wie ihre Lippen erstrahlen sie in aufdringlichem Karmesinrot. Sie scheint schon längere Zeit keine Waffe abgefeuert zu haben. Das sind wirklich schlechte Voraussetzungen, um auf Jokerjagd zu gehen. Sie schlägt die blau gefärbte Mappe auf und zieht einige Bilder daraus hervor. Es scheinen Aufnahmen von Überwachungskameras zu sein. Sie sind in schwarzweiß gehalten und zeigen den Joker, die grässliche, dauergrinsende Grimasse, die sein Gesicht ist. Das Licht flackert etwas hektischer über uns, scheint von der Nervosität meines Besuchs angesteckt worden zu sein.
Kammerflimmern.
„Es gibt Anzeichen dafür, dass er nach Gotham zurückgekehrt ist. Diese Aufnahmen sind vor vier Tagen gemacht worden. Er ist in die städtische Leichenhalle eingebrochen und hat mehrere Leichen entwendet."
Sie sieht mich erwartungsvoll an, erwartet vielleicht Überraschung, vielleicht Ekel, während sie die Fotografien der leeren Leichensäcke vor mir auf dem Tisch ausbreitet. Ich sehe sie teilnahmslos an.
„Dieses Verhalten ist atypisch für ihn. Ich habe mir erhofft, dass Sie mir vielleicht eine Erklärung liefern können, da Sie..." Sie verstummt. Da ich was? Agent Corelli erhofft sich von mir, dass ich ihren begonnenen Satz zu Ende führe, doch ich beschließe, mich nicht von meiner kooperativen Seite zu zeigen. Dieser Besuch ist die erste Unterhaltung seit langem und ich bin nicht gewillt, sie früher zu entlassen als nötig. Sie räuspert sich und fährt dann fort: „...da Sie eine geraume Zeit mit ihm verbracht...und...zusammengearbeitet haben."
Ich befeuchte meine Lippen, die immer ein bisschen zu trocken und spröde sind und erwidere: „Wieso meinen Sie, dass sein Verhalten atypisch ist?"
Meine Frage verwirrt sie. Vielleicht hat sie damit gerechnet, dass ich es leugne, Handlangerin des Jokers gewesen zu sein, aber wieso sollte ich mich für etwas schämen, etwas negieren, das ich getan habe, wenn Reue nichts anderes ist als Selbstbetrug?
„Der Joker hat in der Vergangenheit durch brutale wie auch minutiös ausgeklügelte Verbrechen brilliert. Raubüberfälle, hinterhältige Morde, geplante Massentötung...dass er jetzt unter die Nekrophilen geht, passt nicht in sein Muster."
Ich grinse und es spannt an meinen Mundwinkeln.
„Hat er sie gefickt?"
Ihre Gesichtszüge entgleiten, ein köstlicher Anblick. Ich möchte lachen, aber meine Stimme ist zu schwach. „Wie...wie bitte?" Sie wirkt derangiert, versucht ihre Unsicherheit dadurch zu kaschieren, dass sie die Beine übereinander schlägt. In der vornehmen Behördensprache ist man vulgäres Vokabular nicht mehr gewöhnt.
„Ob er sie...gefickt hat." Ich spreche jedes Wort überdeutlich aus, ohne aber etwas an meiner Ausdrucksweise zu ändern. Es ist an ihr, ihre Lippen zu befeuchten. Der billige Lippenstift färbt dabei auf ihre Zähne ab. „Er...nein...zumindest ist nichts dergleichen auf dem Material der...der Kameras festgehalten." Sie räuspert sich erneut, ich wette, sie wünscht sich ein Glas Wasser, um die Trockenheit in ihrer Kehle und damit ihre Unsicherheit wegzuspülen. „Dann ist er nicht nekrophil", schließe ich schlicht.
„Wollen Sie sich an Haarspalterei bezüglich einer Begriffsdefinition aufhalten oder wollen Sie mir helfen?", fragt sie mich. Stutenbissigkeit ist eine typische Reaktion darauf, dass man Unrecht hat. „Erstens...", beginne ich und beuge meinen Kopf so weit vor, wie es die Schnallen um meine Brust zulassen, „...ist es keine Haarspalterei. Wäre der Joker nekrophil, hätte er ein sexuelles Motiv für seine Taten, würde darin Befriedigung erfahren. Ihm ein Motiv zuzuweisen, mag für die Ermittler eine Erleichterung sein. Aber es ist schlicht und ergreifend falsch. Er hat kein Motiv und das ist es, was Ihnen in Wahrheit Kopfzerbrechen bereitet. Und zweitens..." Ich schaute sie an und setzte dann unterkühlt hinzu: „...weiß ich nicht, warum ich Ihnen helfen wollen sollte."
Sie verzieht den Mund und erwidert mir brüsk: „Vielleicht deswegen..." Sie zieht ein weiteres Bild aus der Mappe hervor, es zeigt einen Teenager von elf Jahren von schlanker Statur. Sein dunkles Haar hängt ihm wirr ins Gesicht und doch erkenne ich ihn. Ich hätte ihn erkannt, wenn er in der Zwischenzeit um zwanzig und nicht nur um zwei Jahre gealtert wäre. Es ist Jamie, mein Sohn.
„Was sollte er an meiner Einstellung ändern?", frage ich. Was sie verzweifelt zu verbergen versucht, wünsche ich mir, zu empfinden. Ich möchte Angst haben, möchte Hoffnung haben, möchte traurig sein bei dem Anblick meines Sohnes und der mir so deutlich vorgeführten Zeit, die ich nicht mit ihm verbringen durfte. Aber alles, was ich fühle, ist stumpfe Wiedererkennung. Man hätte mir genauso gut ein Foto des Nachbarjungen zeigen können.
„Ich könnte erwirken, dass ihm Besuchsrecht eingeräumt wird." Sie sieht mich an wie jemand in einer Pokerrunde, der es noch nicht so gut verstand, seine diebische Freude über ein ganzes Blatt voller Trümpfe vor den anderen Mitspielern zu verbergen. „Er will mich nicht mehr sehen", erkläre ich ihr knapp. Sie kneift die Augen unter zu dünn gezupften Brauen zusammen und taxiert mich eingehend. „Sie sind seine Mutter." Ich möchte ihr für diese Erinnerung danken, verkneife es mir jedoch. „Das ist korrekt", stimme ich ihr stattdessen zu. Ich wünschte, sie würde die Bilder wieder in die verdammte Mappe zurückstecken. Jamie hat genug erlebt, es gefällt mir nicht, dass das FBI jetzt schon eine Akte über ihn angelegt hat.
„Denken Sie nicht, dass er Sie sehen möchte? Er schreibt Ihnen doch sicher Briefe, oder nicht?" Jetzt klammert sie sich an einen Strohhalm und merkt dabei gar nicht, wie weit wir vom eigentlichen Thema abgedriftet sind. „Ja. Sein letzter Brief erreichte mich vor über einem Jahr. Mit der eindeutigen Erklärung, er wolle mich nie wieder sehen."
Die Rationalität, mit der ich das von mir gebe, erschreckt mich fast. Aber nur fast. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der Jamie alles für mich gewesen war. Ein Mensch, für den ich mein Leben gegeben hätte, für den ich alles getan hatte, um ihn nicht zu verlieren. Und letztlich ist er mir doch entrissen worden.
„Kann ein Elfjähriger eine so absolute Entscheidung fällen, Doctor?" Mein schmallippiges Lächeln gefriert. Es tut weh, aber nicht sehr. „Er kann, glauben Sie mir." Agent Corelli sieht mich skeptisch an, dann begreift sie, dass sie auf diesem Wege nichts erreichen wird und sammelt die Fotos zusammen. „Das tut mir sehr leid für Sie, Dr. Clementine", murmelt sie heuchlerisch. Ich muss über keine besonders gute Menschenkenntnis verfügen, um zu wissen, dass das gelogen ist.
„Was könnte der Joker vorhaben?", fragt sie mich stattdessen in geschäftsmäßigem Ton. Jegliche aufgesetzte Emotionalität ist wie weggewischt. In ihren braunen Augen schimmert die Ungeduld. Sie hätte einen Psychologen vorschicken sollen, deren Feuer brennt nicht so schnell aus. „Ich weiß es nicht." Ich antworte wahrheitsgemäß und die junge Agentin realisiert das. Es gefällt ihr nicht und kann nur mit Mühe dem Drang widerstehen, sich durch das ordentlich zurückgekämmte Haar zu streichen.
„Sie sagten, er habe kein Motiv. Das kann nicht sein. Er muss einen Grund für das haben, was er anrichtet." Ich lächle und diesmal tut es nicht weh. „Er hat kein Motiv. Ein Mensch wie Sie wird das nur niemals begreifen können. Für Sie muss alles einen Sinn ergeben...so denkt der Joker nicht. Haben Sie keinen...Profiler oder so jemanden, der altkluge Allgemeinformeln für die Entschlüsselung der menschlichen Psyche aufstellt?"
Ihre Augen funkeln sichtlich aufgebracht. Ich habe mir mit dieser Bemerkung soeben ein Ticket für die Reise ins Land der Willenlosen gelöst, aber diesen dummen Gesichtsausdruck ist es mir wert. Ihre Wut und ihre gleichzeitige Hilflosigkeit trotz ihres überlegenen Status sind amüsant mit anzusehen. Obgleich ich diesen Ausdruck schon oft gesehen habe in den Gesichtern jener, die das zweifelhafte Glück gehabt hatten, sich mit dem Joker in der einen oder anderen Form befassen zu müssen, ist es immer wieder von Neuem ein Vergnügen, dem beizuwohnen.
„Sein destruktives Verhalten lässt Schlüsse zu, dass er systematisch vorgeht...nach einem Plan."
Ich schüttle schwach den Kopf, bin es leid, über ihn zu sprechen. „Sie begreifen nicht...nichts von dem, das er tut, geschieht nach einem Plan...er lässt sich lediglich mehrere Türen offen. Es sind die Menschen, die die Dominosteine kippen lassen, die er scheinbar wirr aufstellt. Er selbst sieht nur zu, wie sie fallen. Reihum. Alle nacheinander." Ich schaue die junge Frau an, die so grün hinter den Ohren ist, dass sie mir fast leid tut. Sie wird nicht gerade mit Lob überschüttet werden, wenn sie ihrem Vorgesetzten Bericht erstattet und mit leeren Händen zurückkehrt. „Ich weiß nicht, was er mit den Leichen bezweckt, die er gestohlen hat...", füge ich hinzu. Ich bin vielleicht offiziell verrückt und schwer therapierbar, aber ich bin kein Unmensch. „...aber Sie sollten Augen und Ohren offen halten, wenn sie irgendwann irgendwo wieder auftauchen. Er mag kein Dr. Frankenstein sein, aber ich bin sicher, er findet anderweitige Verwendung für...sein Material."
Meine eigenen Worte bringen mich zum Lachen, ich kann nichts dagegen ausrichten. Ich lache und lache und lache, doch Agent Corelli stimmt nicht mit ein. Sie wird blass. Fahrig erhebt sie sich und packt hektisch ihre Mappe zusammen, achtet nicht einmal darauf, dass sich die Schnallen ihrer Taschen korrekt schließen. Sie will weg, und das so schnell wie möglich. „Guten Tag, Dr. Clementine", speit sie mir flüchtig zu, ohne mich noch eines abschließenden Blickes zu würdigen. Trotz ihrer offenkundigen Wut vergisst sie die Etikette nicht, meinen Doktor der Medizin zu bemerken. Regeln, Ordnungen, Ränge und Titel. Es ist immer dasselbe.
„Sie werden ihn nie aufgreifen, Agent Corelli. Es sei denn, er lässt es selbst zu...und selbst dann...ist es nur ein Dominostein, den er aufstellt. Passen Sie auf, dass Sie ihn nicht umstoßen!" Ich muss meine letzten Worte an sie herausrufen, sie hat bereits die Tür erreicht und die Ruftaste betätigt. Das elektrische Summen erklingt erneut, aber immer noch nicht für mich. Wohl niemals für mich. Ich kann mir nicht helfen, der Anblick ihres fluchtartigen Weggangs ist ulkig, schürt mein Gelächter, das außer Kontrolle gerät und aus mir heraus bricht; viel zu lang wurde es zurückgehalten.
Ich lache noch immer, als die flackernde Neonröhre über mir ihren Kampf aufgibt und erlischt. Herzstillstand. Zeitpunkt des Todes: unbekannt. Denn Sie wissen ja, die Zeit ist ein zäher Faden und dehnbar. So dehnbar wie die Wahrheit.
-tbc-
