Prolog: Jemand, der einen Anzug trägt, muss ein Gentleman sein

Ich weiß nicht, wieso ich es um alles in der Welt tat. Wahrscheinlich weil Shiro seinen Spaziergang in die Länge treiben wollte. Oder doch vielleicht, weil ich ein bisschen mehr Erholung von dem Stress, der mir schon seit etwa einer Woche zu schaffen machte, brauchte und deshalb eine größere Runde gegangen bin. Es könnte auch etwas völlig Anderes gewesen sein, das mich dazu trieb, weiter in den Wald zu gehen. In einen Teil, in dem ich noch nie war und mich auch verlaufen hätte können. Ja, hätte, doch davor hatte ich keine große Angst. Ich habe mir immer eingebildet, dass ich einen guten Orientierungssinn hätte. Nun, ganz so falsch ist das nicht, doch als ich ihn gerade am meisten brauchte, verschwand er. Aber das war auch nicht der entscheidende Punkt.

Ich behielt recht, dass ich trotz des etwas längeren Spaziergangs mit meinem Hund Shiro noch weit vor dem Sonnenuntergang nach Hause kommen würde. Draußen stand die Sonne noch ein paar Zentimeter über dem Horizont, als ich vom langen Weg vor meiner Tür stand und in meiner Tasche nach meinem Schlüssel kramte. Mein Border Collie stand wie immer ungeduldig als Erster an der Tür. Nein, so war das nicht. Er klebte förmlich an der Tür, um als Erster im Haus zu sein. Wie immer. Sollte er doch. Ich war zu beschäftigt, um mich an seinem Verhalten zu stören.

Langsam wurde ich nervös und tastete immer beängstigter in meiner kleinen Tasche herum, um an den Schlüssel zu kommen. Vergebens. Er war nicht da. Mein Hausschlüssel war einfach nicht da! Panisch sank ich in die Hocke und schüttete den ganzen Inhalt auf den Steinboden vor meinem Haus. Handy, Taschentücher, Kugelschreiber, Notizzettel und Dinge, die ich fast nie gebrauchte: Kajal und Mascara. Doch mein Schlüssel mit meinem Portemonnaie war verschwunden. Na ganz klasse, dachte ich mir. Hätte ich bloß nicht den Schlüssel an den Ring an meiner Geldbörse befestigt. Jetzt hatte ich beides verloren. Egal, so oder so hätte ich eins von beiden suchen müssen.

Schnell überdachte ich meine Situation und entschied mich gegen meinen ersten Einfall. Ich wollte meine Eltern nicht anrufen. Immerhin hätte es damals Ärger gegeben und weiterhelfen hätten sie mir auch nicht können. Sie waren für eine Woche verreist, ohne mich, versteht sich. Dabei musste ich auf Shiro und auf das Haus aufpassen. Deshalb auch der Stress. Zu viel Arbeit für eine einzige Person. Aber das war auch eine andere Geschichte, eine, die sich niemand freiwillig und vor allen Dingen nüchtern hätte anhören wollen. Wen interessiert schon meine Geschichte, die von Hausarbeit handelt? Niemanden. Nein, da habe ich eine viel interessantere auf Lager. Also.

Shiro wurde ungeduldig und ließ mit einem nach unten hängenden Schwanz und Hundeaugen verkünden, dass er endlich rein wollte. Doch das ging noch nicht. Ich musste mich also auf die Suche machen und meinen gesamten Spaziergang noch einmal nachstellen. Nein halt. Nicht den ganzen, dachte ich mir, denn mir war aufgefallen, dass ich an einer Stelle im Wald auf mein Handy geguckt hatte, um die Uhrzeit auszumachen. Wahrscheinlich war mir dabei mein Portemonnaie samt Schlüssel aus der Tasche gefallen. Leuten war ich kaum begegnet und an niemandem war ich so nah vorbeigegangen, dass er oder sie mir mein Portemonnaie hätte stehlen können. Nein. Ich habe es bestimmt an dieser einen Stelle verloren, war ich der festen Überzeugung.

Ich musste kein Genie sein, um abzuschätzen, dass ich heimkehren würde, wenn es schon lange dunkel war. Und ja, ich habe Angst im Dunkeln, doch allein war ich ja nicht. Shiro musste mich begleiten, ob er wollte oder nicht. Daher packte ich meine Sachen zusammen, die ich zuvor auf dem Boden verteilt hatte und ging los. Shiro war sehr verwundert, was denn sonst? Und ihm gefiel es auch nicht sonderlich, wo er doch eigentlich der festen Überzeugung war, dass wir unseren Spaziergang beendet hätten. Was sollte ich machen? Ihn da stehen lassen? Ich nahm ihn kurzerhand mit.

Mein Tempo hatte ich soweit gesteigert, dass ich die Grenze zwischen schnellem Gehen und Laufen nicht überschritt. Shiro machte das nichts aus. Im Gegenteil, nachdem ich ihn einige Meter lang ziehen musste, änderte er seine Meinung schnell und lief mir fast schon voraus. Als ich dann endlich am Waldrand ankam, musste ich feststellen, dass die Sonne sich verabschiedet hatte und hinter dem Horizont verschwunden war. Das wirkte sich nicht nur auf meine Suche kontraproduktiv aus, es bereitete mir auch Unbehagen, nachts allein in den Wald zu gehen. Ich redete mir ein, dass mich Shiro vor einem Angreifer beschützen würde. Ach was, dachte ich mir. Wer würde schon um diese Uhrzeit im Wald spazieren, um auf eine wehrlose Frau zu warten. Das passiert doch nur in Hollywoodfilmen. Ich war ja sowieso schon vor etwa einer halben Stunde hier gewesen. Da war niemand im Wald. Außerdem kannte ich die Stelle, wo ich wahrscheinlich meine Sachen verloren hatte, sodass ich mich gar nicht lange im Wald aufhalten würde.

Schnell erkannte ich den Weg, den ich vorhin gegangen war und verfolgte ihn, nicht ohne mich ständig gegen meinen Willen umzuschauen. Meine Nerven gingen mit mir durch. Und das obwohl ich doch wusste, dass das hier ein ganz normaler Wald war, in dem ich gerade eben noch seelenruhig meinen Spaziergang gemacht hatte. Zu meiner Verwunderung schien Shiro etwas von meiner Paranoia abbekommen zu haben, da er urplötzlich seinen Schwanz hatte sinken lassen und sich sehr merkwürdig benahm. Ich dachte mir, dass er ein Tier gehört hatte. Nur welches Tier hätte meinen Border Collie so verschrecken können? Ein Wolf? Ein Bär? Quatsch! In meiner Region waren diese Tiere nicht üblich. Aber was war es dann?

Ich bemerkte, dass sich die Atmosphäre irgendwie... verändert hatte. Die Luft wurde kühler, ja, das war jetzt nichts Außergewöhnliches, doch auch ihn diesem Wald hätte es wärmer sein müssen. Außerdem war es totenstill, wie ich bemerkte. Vorhin hatte ich noch Vögel gehört, die nun ganz ausblieben. Nicht einmal das Rauschen der im Wind wehenden Blätter konnte ich wahrnehmen. Ich bildete mir ein, dass die Bäume plötzlich dunkler und bedrohlicher aussahen. Und irgendwie wollte mir nicht aus dem Kopf, dass sie vorhin nicht so dicht beieinander standen und es weniger waren. Es war fast so, als ob ich in einem anderen Wald wäre. Doch das stimmte nicht. Hier und da erkannte ich markante Stellen, die ich mir unterbewusst beim ersten Mal, als ich hier entlang gegangen war, eingeprägt hatte. Der Weg war nicht mehr weit.

Es war einhundertprozentig der gleiche Wald. Doch er hatte sich verändert. Nein, nicht nur er hatte sich verändert, denn ich tat es auch. Ich atmete schwer und mir war so, als ob mir jemand die Kehle zuhielt. Meine Hände zitterten abnormal unruhig und ich konnte sie nicht davon abhalten weiterzumachen. Die Schritte, die ich tat, waren unsicher und ein, zwei Mal wäre ich sogar fast hingefallen. Und das lag nicht an den freiliegenden Wurzeln, die ich beim ersten Mal nicht bemerkt hatte. Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt und auch mein Blick schweifte suchend über alle Baumstämme hinweg, doch ich entdeckte nichts. Ich drehte mich mehrmals um meine eigene Achse. Vergebens. Hier schienen nur Shiro und ich zu sein. ...oder war hier doch jemand anderes?

Stopp! Ich blieb stehen und atmete ganz tief durch. Das ist alles nur meine Einbildungskraft. Nichts weiter. Es ist niemand hier, sprach ich mir in Gedanken zu. Mit neu geschöpfter Kraft zog ich meinen Hund hinter mir her und ließ nach außen hin wirken, dass ich selbstbewusst war. Wenn hier jemand war, würde er sehen, dass ich nicht so leicht die Opferrolle spielen würde. Das klappte dann auch einige Meter ganz gut, bis ich das unheimliche Gefühl hatte, dass mich jemand beobachten würde. Die Nervosität kehrte zurück und brachte mich aus der Ruhe. Diskret schaute ich mich um und meinte, etwas gesehen zu haben. Mein Herz pochte mir bis zum Hals und ich schielte zu Shiro. Der schien auch etwas bemerkt zu haben. Allmählich begann ich hysterisch zu werden. Meine Gedankenwelt überschlug sich. Ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte. Doch lieber schnell nach Hause weglaufen und die Nachbarn fragen, ob sie mich für eine Nacht in ihrem Haus schlafen ließen, oder weiter zu suchen, jetzt, wo ich fast am Ziel angekommen war? Wieso ich mich so entschied, kann ich bis heute nicht verstehen.

Nun, ich erblickte den kleinen Bach, an dem ich vorhin mein Handy ausgepackt hatte, um die Uhrzeit zu erfahren. Ohne darüber nachzudenken, stürzte ich mich auf den Boden und suchte ihn angestrengt ab. Als Shiro ein gereiztes Knurren von sich gab, hob ich meinen Blick in seine Richtung. Nebel. Woher kommt denn jetzt der Nebel her? Er war nicht besonders dicht, doch wie konnte er sich so plötzlich über den Wald legen? Shiro riss mich abermals aus meiner Gedankenwelt. Dieses Mal jedoch knurrte er ängstlicher und in eine etwas andere Richtung. Ich wusste nicht, was los war, doch meine Instinkte sagten mir, dass ich hier ganz schnell weg musste, ob mit Schlüssel oder ohne. Schnell versuchte ich meinen Border Collie näher zu mir zu ziehen, doch es misslang mir. Shiro knurrte nicht mehr. Er jaulte verängstigt auf, riss sich mit einer unbändigen Kraft los und lief weg, als ob der Tod höchstpersönlich hinter ihm her wäre. Perplex rief ich ihm hinterher. „Bleib hier!"

Ehe ich mich versah, war er aus meiner Sichtweite verschwunden. Und ehrlich gesagt, konnte ich ihm diese Feigheit nicht verübeln. Ich hätte von Anfang an auf mich hören und mich am nächsten Tag auf die Suche nach dem Schlüssel machen sollen. Doch es war zu spät. Wer auch immer hier war... ich war ihm in die Falle getappt. Mein Herzschlag nahm rapide an Geschwindigkeit zu und mein Blut begann schneller zu fließen. Völlig mit der Situation überfordert kauerte ich mich auf dem Boden zusammen, mein Blick benebelt und suchend. Was mach ich nur? Was mach ich nur? Ich muss laufen! Weg! Nur weg! Doch ich konnte mich nicht bewegen. Ich bebte am ganzen Leib und mein Kopf zuckte wild nach rechts und links. Dann sah ich etwas weit entfernt. Einen Mann. Riesig. Schwarz gekleidet. Schwarze Krawatte. Lange Arme. Und entgegen aller Logik hatte er kein Gesicht.

Dieser grauenhafte Anblick und ein kurzes Flimmern vor meinen Augen schüttelten mich wach und ich sprang auf. Der Angstzustand versetzte mir einen Schub an neuer Kraft, sodass ich schnell in die entgegengesetzte Richtung lief. Doch konnte ich dem entfliehen, was auf mich lauerte? Dieser Kreatur? Daran dachte ich nicht. Ich wollte einfach nur weg. Ich sprintete. In meinem Kopf gähnende Leere, wo ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Ich merkte nur, dass mir ein paar Tränen die Wangen runterliefen. Plötzlich stand er rechts neben einen Baum. Wieder verschlechterte sich meine Sicht und ich spürte ganz plötzlich einen leichten Druck auf meinen Ohren. Ich brachte einen erstickten Laut zustande und lief weg von ihm. Wie kam er da hin? Ich spürte das dringende Bedürfnis mich umzudrehen und zu schauen, wo er war, doch ich schaffte es nicht. Diese Angst, die mich von Innen auffraß ließ es nicht zu. Mir stellten sich die Fragen: Wieso ich? Was habe ich ihm denn getan?

Langsam kam ich aus der Puste, doch ich wagte es nicht, meine Geschwindigkeit zu drosseln und nach ihm zu sehen. Nach ein paar weiteren Metern erblickte ich ihn plötzlich fast direkt vor mir, als ich kurz nicht nach vorn schaute, sondern zum Boden, damit ich nicht irgendwo stolperte. Wieder starrte er in meine Richtung, wenn man es denn so nennen konnte, und ich machte eine Kehrtwende. Der Druck verstärkte sich immens und erreichte nun auch meine Schläfen, die ich mir erschreckt hielt. Während ich weiterlief, merkte ich, dass ich langsam den Orientierungssinn verlor und nicht wusste, in welche Richtung ich laufen sollte, um am schnellsten aus dem Wald zu kommen. Wieso nimmt dieser Albtraum nicht endlich ein Ende? Bitte! Ohne überhaupt nachgedacht zu haben, schaute ich nach hinten, doch er war nicht da. Das hätte ich nicht tun sollen, denn vor mir war ein Baum, in den ich fast reingerannt wäre. Ich wich aus, doch ich schrammte mir den rechten Arm an der Rinde auf und fiel über die heimtückische Wurzel, die aus dem Boden ragte. Mir blieb keine andere Wahl als mich unbeholfen abzurollen und weiter zu flüchten.

Noch bevor ich mich ganz aufrichten konnte, stand er schon da. Direkt vor mir. Er hatte mich erwischt. Ein Riese von einem Mann. Ich ging ihm gerade mal bis zu seinem dürren Bauch. Nun fühlte ich seinen Blick auf mir ruhen, auch wenn da keine Augen waren. Er hatte mich im Visier. Ich spürte so etwas wie eine Aura. Vernichtend und erdrückend. Mein Herz setzte zwei Schläge aus und krampfte sich dann wieder zusammen. Ich bekam kaum noch Luft und erst jetzt merkte ich, dass ich mich gerade eben beim Sturz am rechten Bein verletzt hatte. Der unmenschliche Druck auf meinen Kopf verstärkte sich weiter und ich konnte Rauschen in meinen Ohren hören. Mein verweinter Blick wurde von weißem Flimmern immer schlechter und mir wurde schwindelig. Mir schwanden die Sinne, doch die Kreatur vor mir tat nichts. Sie stand nur da. Nein, nein, nein, nein! NEIN! Mir drehte sich alles und ich stolperte nach hinten, wo mir auch schon ein Baum im Rücken saß. Meine Kraft verließ mich. Ich blinzelte nur noch einmal ganz kurz... Der Gesichtslose beugte sich ganz nah zu mir... fast berührten sich unsere Gesichter... seine Hand... hob er... es klimperte. „Was willst... du von... mi-...?", brachte ich mit einer faden Stimme noch raus, bevor ich in eine gnädige Ohnmacht fiel.

Ich fühlte eine angenehme Brise, als ich meine Augen zögernd öffnete. Mich durchfuhr ein Schmerz der Erkenntnis. Ich war immer noch im Wald und mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, versuchte ich mich aufzurichten. Die Strafe für diese übereilte Bewegung ließ nicht auf sich warten. Mein Schädel pochte schmerzhaft auf und auch mein Arm und mein Bein taten immer noch höllisch weh. Da es ganz anscheinend Morgen war und ich den Spuk überlebt hatte, entschied ich mich noch sitzen zu bleiben. Meine Gedanken sortierten sich und mein Blick verriet mir, dass ich mich nicht mehr an der Stelle befand, wo ich am gestrigen Tag das Bewusstsein verlor. Verwundert wollte ich mir mit der rechten Hand übers Gesicht fahren. Doch... da lag unverhofft mein Portemonnaie. Und mein Schlüssel, der an dem Ring des Portemonnaies hing. Aber? Wie? Weiter kam ich in meinen Gedanken nicht.

Ich hörte, wie sich jemand mit schnellen Schritten auf mich zubewegte. Mein Herz pochte laut und ich machte mich auf das Schlimmste gefasst. Shiro! Es war mein Hund, der den Weg zum mir zurück gefunden hatte. Er berührte mich mit seiner kalten Schnauze und ich atmete erleichtert auf. „Ein Glück." Nach einer kurzen Weile und ausgereizten Nerven stand ich auf und machte mich mit meinem Hund langsamen Schrittes auf den Weg nach Hause. Ich hatte genug Abenteuer erlebt. Während des Nachhauseweges dachte ich über den hohen Mann ohne Gesicht nach. Doch ich konnte mir auf alles kein Reim machen.

Ein paar Tage später erfuhr ich, dass es einen Slender Man geben soll, der in einem Wald wohnt und kleine Kinder verschleppt. Die Beschreibung passte genau auf die Kreatur, der ich begegnet war, doch das Konzept war falsch. Ich war kein Kind mehr und er hatte mir geholfen. Er hatte mir mein Portemonnaie mit meinem Schlüssel zurückgegeben. Auch wenn seine Methode des Zurückgebens etwas... erschreckend war. Außerdem waren alle Karten und mein Geld immer noch in der Geldbörse drin. Davon fehlte nichts... nur ein Foto aus meiner Kindheit, was ich auch erst später bemerkte. Es war nicht mehr da. Er muss es sich wohl genommen haben. Doch wozu? Wollte der dieses Kind auf dem Foto suchen und verschleppen? Oder wusste er, dass ich das auf dem Foto war? Nein... eher nicht, sonst hätte er mich ja nicht davon kommen lassen... oder doch? Er musste es wissen. Wieso hätte er mir sonst meine Sachen wiedergegeben? Ach was. Ich wollte es gar nicht wissen. Noch einmal wollte ich mein Glück nicht herausfordern. Außerdem, jemand, der einen Anzug trägt, muss ein Gentleman sein!