Katniss und ich laufen, so schnell es geht, auf den Eingang des Bunkers zu. Hinter uns fallen die ersten Bomben. Jeder Knall ist lauter als der vorhergehende. Ich wage es nicht, mich umzudrehen. Weitere Detonationen erschüttern den Wald, dazu mischt sich das ohrenbetäubende Pfeifen der fallenden Bomben. Mein Blick verengt sich zu einem Tunnel. Der Bunkereingang ist jetzt zum Greifen nahe. Doch mein Gefühl sagt mir, dass wir zu langsam waren. Nein, ich weiß, dass wir zu langsam waren.
Wir passieren das Eingangstor, und befinden uns am Beginn eines mehrere Meter langen Tunnels, an dessen Ende eine weitere Tür angebracht ist. Plötzlich passierten mehrere Dinge auf einmal. Boggs ruft uns etwas zu und springt durch die Tür. Katniss gibt mir einen kräftigen Stoß und stürzt sich mit mir auf den Boden. Ein ohrenbetäubender Knall füllt den Tunnel aus. Meine Ohren klingeln. Eine Hitzewelle fegt über uns hinweg, und alles wird in ein grelles, orangenes Licht getaucht. Erdbrocken prasseln auf Katniss und mich herab. Die Luft ist erfüllt von Staub und sengender Hitze. Wir waren zu langsam. Jetzt verbrennen wir. Katniss schreit laut auf. Sie rollt sich zur Seite. Ohne die schützende Wirkung ihres Körpers bekomme ich die volle Hitze der Flammen, die über die Decke schießen, zu spüren. Doch dann wird es plötzlich dunkel. Kein Feuerschein mehr. Die Hitze schwindet. Ich versuche, mich zu orientieren. Katniss schreit noch immer, doch ich habe Mühe, sie auszumachen.
Nein, bitte nicht!
Dunkelheit umschließt uns. Dann durchschneidet der grelle Strahl einer starken Taschenlampe die Finsternis. Katniss stöhnt und wimmert vor Schmerzen. An ihrer rechten Seite ist ein Blutfleck zu erkennen, der rasch größer wird.
„Peter, ich sterbe", haucht sie kraftlos. Das darf doch nicht wahr sein!
„Einen Sanitäter! Schnell!" rufe ich verzweifelt.
„Peter, versprich mir, dass du dich um Prim kümmerst, wenn ich nicht mehr da bin. Versprich mir das!" fleht mich Katniss mit zitternder Stimme an.
„Du wirst nicht sterben, entgegne ich.
Endlich kommt ein Sanitäter. Sein Blick sagt alles. Hoffnungslos.
„Ich fürchte, wir können nichts mehr für sie tun. Es hat ihre Leber erwischt, und sie verliert zu viel Blut" sagt er zerknirscht.
„Das ZX-5! Ihr müsst ihr das ZX-5 aus dem Aufspürer geben! Das kann sie retten!" schreie ich den Sanitäter an.
„Welches ZX-5?" fragt er, als hätte er noch nie davon gehört.
„Das Mittel, das den Zellstoffwechsel bremst! Das müssen Sie doch kennen! Es ist im Aufspürer enthalten!" erwidere ich.
„Tut mir leid, so etwas gibt es nicht!"
„Peter, ich spüre es. Ich sterbe", sagt Katniss stöhnend. „Bitte, küss mich noch einmal."
Mit Tränen in den Augen beuge ich mich über sie. Unsere Lippen berühren sich. Plötzlich kippt Katniss Kopf zur Seite weg. Der Sanitäter fühlt ihren Puls und schüttelt seinen Kopf.
„Sie ist tot. Es tut mir wirklich leid", sagt er niedergeschlagen.
Das kann nicht sein! So ist das nicht passiert! Katniss muss leben! Warum zu Teufel ist sie jetzt tot!
Ich beginne zu schreien, lege meinen ganze Wut und Trauer in meine Stimme.
„Nein!"
Dann wache ich nach Luft schnappend schweißgebadet auf. Nur ein Albtraum. So wie praktisch jede Nacht. Mal schlimmer, mal weniger schlimm. Zwei Wochen ist es her, dass ich hier in meinem Herkunftsuniversum gestrandet bin. Das Portal würde längst wieder funktionieren, die Störungen in der Ionosphäre durch die Explosion des nuklearen Sprengkopfs, welcher den Excalibur-Laser antreibt, sind recht rasch abgeklungen. Eigentlich sollte ich froh sein, dass die Rakete zerstört werden konnten, und dass es momentan so aussieht, als ob das Kapitol in den letzten Zügen liegen würde.
Doch diese Idioten wollen mich nicht zurück zu Katniss lassen. Einmal heißt es, zu unsicher, solange Snow nicht kapituliert hat, ein anderes Mal will man mir weis machen, dass die Untersuchung der Pufferspeicher des Portals noch nicht abgeschlossen ist, und so lange keiner durch darf, bis restlos geklärt ist, warum Mrs. Everdeen beinahe im defekten Puffer vier gelandet wäre. Die ersten Tage habe ich einigermaßen überstanden. Doch dann fiel mir das Durchschlafen immer schwerer. Die Träume wurden schlimmer. Sie drehen sich immer nur um ein Thema: Katniss, und die Vielfalt an Möglichkeiten, sie in der Arena für immer zu verlieren.
Die Hungerspiele sind vorbei. Katniss ist in Sicherheit. So habe ich versucht, mich zu beruhigen. Der Erfolg war bescheiden. Etwas besser klappte es mit ein paar Gläschen Whiskey vor dem Schlafengehen. Dann lag ich zumindest nicht grübelnd im Bett. Doch gegen die Albträume und die ständige innere Unruhe, die mich in den letzten Tagen begleitet hat, war auch der Alkohol ziemlich machtlos.
Mein Blick fällt auf das Nachtkästchen rechts neben meinem Bett. Die kleine Lampe wirft ihr gemütliches, warmes Licht auf eine flache, längliche, weiß-blaue Schachtel. XANAX 0,5 mg steht in großer Schrift darauf. Alprazolam, ein Benzodiazepin. Ein alter Bekannter aus der Zeit nach Kates Tod. Ich zögere. Die kleinen, blassorange gefärbten Tabletten würden mir die Angst und Unruhe nehmen. Ich könnte wieder einschlafen. Problem gelöst. Aber ich weiß auch, was dann kommt. Zuerst steht man einfach nur ein wenig neben der Spur. Geht in einem Raum, um dort etwas zu tun, weiß aber nicht mehr, was. Steht auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt, und sperrt das Auto zu, bevor man die Geldbörse und den Einkaufszettel aus dem Türfach genommen hat. Eigentlich sollte man ja gar nicht Autofahren, aber wenn man nun mal muss...
Und dann kommt sie. Die Angst vor der Abhängigkeit. Manche sagen, nach zwei Wochen wird es kritisch. Andere meinen, nach einem Monat. Ich habe damals gerade noch rechtzeitig die Kurve gekriegt. Schließlich hat mich genau dieses Alprazolam meinen Job gekostet. Weil ich einmal wieder der Versuchung erlegen bin, meine Probleme mit einer „alles egal" Tablette aus der Welt zu schaffen. Will ich dahin wirklich zurück?
Die Erinnerungen an die Träume der vergangenen Nächte kommen wieder hoch. Ich habe Katniss auf unzählige Varianten sterben und leiden gesehen. Einmal war sie mir, grauenhaft zugerichtet, im Traum erschienen, und hat mir ein kaltes „Du bist schuld!" entgegen gehaucht. Nachher hatte eine halbe Flasche Whiskey dran glauben müssen, ehe ich wieder einschlafen konnte. Ich will das nicht mehr erleben.
Die Entscheidung ist gefallen. Mit zittrigen Fingern öffne ich die Packung und drücke eine Tablette aus dem Blister. Ich lege sie auf meine Zunge und greife nach dem Wasserglas am Nachtkästchen. Sofort fühle ich mich besser, obwohl ich weiß, dass das Alprazolam um die 20 Minuten braucht, bis es zu wirken beginnt. Aber allein das Wissen, dass mir jetzt geholfen wird, beruhigt mich derart, dass sich mein pochendes Herz auf einen etwas normaleren Rhythmus verlangsamt und ein Teil der Anspannung aus meinem Körper weicht.
Die Minuten verstreichen. Allmählich verschwinden die belastenden Fragen, wann, wie, ob und unter welchen Umständen ich zu Katniss zurück kann. Eine wohlige Leichtigkeit erfasst meinen Körper, und ein Gefühl innerer Zufriedenheit beginnt mich zu erfüllen. Die Untersuchungen sind sicher bald abgeschlossen. Katniss geht es gut. Distrikt 13 gewinnt den Krieg. Alles wird gut werden.
Zum ersten Mal seit langem denke ich wieder an zu Hause. Erinnerungen an Weihnachten geistern durch meinen Kopf. So, wie es ganz früher war, als kleines Kind, das noch an den Weihnachtsmann glauben durfte. In Panem feiern sie kein Weihnachtsfest. Gesetzlich verboten. Prim würde es sicher gefallen. Katniss vielleicht auch. Ich könnte ihr einen schönen, neuen Bogen kaufen. Moment mal, das kann ich ja auch so tun! Ich könnte morgen in die Stadt fahren. Ist zwar ein Stück zu fahren von dem aufgelassenen Kohlebergwerk, in dem sich das Portal und die Basis hier befinden, aber dann hätte ich wenigstens etwas zu tun. Fast will ich aufstehen, um im Internet nach der Adresse eines Fachgeschäfts zu suchen, doch meine Augenlider werden zunehmend schwer.
Morgen ist auch noch ein Tag. Ich gebe dem Drang meines Körpers, die Augen zu schließen, nach. Das nächste, was ich höre, ist die laute Stimme eines Wachmannes.
„Aufstehen! Tagwache!" brüllt er, als wäre ich ein Rekrut der U.S. Marines. Gerade jetzt, wo ich einmal gut geschlafen hätte. Müde reibe ich meine verklebten Augen. Die Wanduhr zeigt kurz vor fünf Uhr morgens. Nach meinem Biorhythmus praktisch mitten in der Nacht.
„Müssen Sie so laut schreien?" fahre ich den Wachmann an. „Es ist mitten in der Nacht! Was ist denn so wichtig, dass Sie mich zu dieser Unzeit aufwecken müssen?"
„Sie haben sich so schnell es geht im Portalraum einzufinden! Snow hat kapituliert, und Coin braucht euch für eine landesweite Fernsehübertragung!" entgegnet der Wachmann trocken.
Auf einmal sind meine Sorgen wie weggeblasen. Ich darf zu Katniss zurück. Den Teil mit Coin und der TV-Übertragung dränge ich elegant in den Hintergrund, obwohl ich genau weiß, dass ich es hassen werde, was sie mit uns vorhat. Meine Beine sind noch etwas wackelig, und mir ist leicht schwindelig, aber ich springe für meine Verhältnisse fast aus dem Bett. Fast bereue ich es, das Alprazolam genommen zu haben, wissend, dass ich die nächsten Stunden wohl etwas neben mir stehen werde. Wenigstens wird mich der Fernsehauftritt dann nicht nervös machen.
Schnell ziehe ich mich an und putze mir die Zähne. Meine Haare sind total verlegen, doch ich gehe davon aus, dass ich ohnehin eine längere Sitzung beim Stylisten über mich ergehen lassen muss, und verzichte auf jegliche Versuche, daran etwas zu ändern. Soll Coin ruhig sehen, dass sie mich zur Unzeit aus dem Bett geworfen hat.
Ich folge dem Wachmann zum Lift. Mein Wohnquartier liegt zum Glück oberirdisch in einem alten Verwaltungsgebäude des Bergwerks. Unter der Erde hätte ich es in meinem Zustand unmöglich ausgehalten. Der Lift bringt uns nach unten ins Bergwerk. Vor dem Eingang zum Portalraum warten bereits Breck, Prim und Mrs. Everdeen auf mich.
„Da bist du ja endlich! Wir warten schon die ganze Zeit auf dich!" ruft mir Prim zu. Die Kleine wirkt recht munter für diese Uhrzeit, aber sie ist schon immer ein Morgenmensch gewesen.
Die Tür zum Portalraum öffnet sich. Dem Geräusch nach zu urteilen wurde die Ladephase des Portals schon gestartet. Da will wohl jemand keine unnötige Zeit verlieren. Wir nehmen in sicherem Abstand von der Rampe Aufstellung.
„Dreißig Sekunden!" dröhnt es aus einem Lautsprecher an der Wand.
„Na, willst du wieder als erster gehen?" frage ich Breck aufmunternd.
„Ich wollte diesmal eigentlich Prim den Vortritt lassen". Der Junge wendet sich an Katniss Schwester. „Du willst doch noch, oder? So wie wir es ausgemacht haben?"
Breck und Prim haben sich in den letzten beiden Wochen gut miteinander vertragen. Wer weiß...
„Natürlich will ich! Jetzt, wo ich weiß, dass es gar nicht schlimm ist!" sagt Prim entschlossen.
„Zehn Sekunden!"
Der Boden beginnt zu vibrieren.
„Passt auf eure Augen auf! Nicht ins Portal sehen!" mahne ich die anderen.
„Drei, zwei, eins, jetzt!"
Ein greller, bläulich-weißer Lichtblitz erhellt den Raum. Einen Augenblick später tritt das vertraute, den gesamten Portalkreis ausfüllende intensive blaue Glühen an seine Stelle.
„Verbindung stabil, Durchgangsfreigabe erteilt. Timer läuft, neunzig Sekunden!"
Ohne zu zögern betritt Prim die Rampe und schreitet durch das Portal. Breck folgt direkt hinter ihr. Mrs. Everdeen zögert. Anscheinend belastet sie ihr Traum beim letzten Durchgang noch immer.
„Gehen Sie schon! Die Puffer wurden hundert Mal gecheckt. Sie werden diesmal keinen Probleme haben!" fordert sie der Wachmann, der uns begleitet hat, auf.
Zögernd betritt Katniss Mutter die Rampe. Vor dem Portalring hält sie kurz inne.
„Machen Sie schon! Die Zeit läuft ab!" dröhnt es aus dem Lautsprecher.
Endlich tritt Mrs. Everdeen durch den Ring.
„Zwanzig Sekunden!"
Ich darf keine Zeit mehr verlieren, sonst muss ich stundenlang warten, bis eine neue Verbindung hergestellt werden kann. Mit großen Schritten laufe ich die Rampe empor, und springe förmlich durch den Portalring.
Das vertraute Prickeln erfüllt meinen Körper. Weißes Licht hüllt mich ein. Das gegenüberliegende Ende wird sichtbar. Ich glaube, Katniss Gesicht, umrandet vom Glühen des Tunnels, erkennen zu können. Das weiße Licht verschwindet hinter mir. Ein erneutes Prickeln erfasst von vorne ausgehend meinen Körper. Ich spüre das vertraute Fallen, ehe ich wieder festen Boden unter meinen Füßen habe. Mein Blick hat mich nicht getäuscht. Katniss wartet auf mich am Fuß der Rampe.
Unsere Blicke treffen sich. Erleichterung steht in ihrem Gesicht, und Freude. Ohne zu zögern, laufe ich direkt in ihre geöffneten Arme, und drücke ihren Körper fest an mich.
„Nicht so fest, Peter!" stöhnt sie laut auf. „Mein Rücken!"
Erschrocken zucke ich zurück. Da komme ich durch das Portal, und was ist das erste, was ich tue? Ich tue Katniss weh! Idiot!
„Habe ich dir weh getan?"
„Nicht so schlimm", winkt Katniss ab. „Ist halt noch ein wenig empfindlich, mein Rücken. Die Hauttransplantate müssen erst richtig mit dem Rest verwachsen, dann gibt sich das. Hat der Arzt zumindest gemeint."
„Tut mir leid. Ich war nur..."
„Macht nichts. Wenn du vorsichtig bist, kannst du es ja noch mal probieren", sagt Katniss lächelnd.
Langsam schlinge ich meine Arme sanft um ihren Körper, darauf achtend, keinen Druck auf ihren Rücken auszuüben.
„So ist es besser. Und jetzt, küss mich!"
Nach zwei Wochen Ungewissheit bin ich endlich am Ziel. Ich habe Katniss wieder. Es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Und sie will, dass ich sie küsse.
Die Zeit um uns herum scheint still zu stehen. Wie an Bord der DC-8. Dieser Moment gehört nur uns beiden. Dass vermutlich ein oder zwei Dutzend andere Leute zusehen, ist mir völlig egal. Selbst der Gedanke an Gale lässt mich kalt. Es gibt jetzt keinen Zweifel mehr. Katniss liebt mich, und ich liebe sie.
