Ein Brief an meine Angst
Irgendwas muss ich hier hinschreiben, sonst bekomme ich Ärger.
Ich habe keine Ahnung, was. Ich meine, das ist doch totaler Humbug? Was soll das werden? Ein Einkaufszettel? Die Routenplanung für nächste Woche?
Wenn ich nichts schreibe, wird Tifa es merken. Dabei kann ich das echt nicht, Briefe schreiben und so.
Der Text meines Lieblingsliedes wäre noch eine Möglichkeit, doch der fällt mir nie ein, wenn ich die passende Musik nicht höre.
Kann man ein ganzes Blatt mit Blalaber füllen? Hm, sie hat nicht gesagt, wie viel ich aufschreiben muss, nur dass ich ETWAS aufschreiben muss.
Okay, das wird irgendwie gehen. Wenn ich's nicht mache, dann hört sie nicht auf und naja egal.
Liebe Angst, ist bestimmt ein Anfang…
Also…
Liebe Angst,
Tifa zwingt mich, einen Brief an dich zu schreiben, weil sie in einem Magazin darüber gelesen hat und nun fest überzeugt ist, dass es einen glücklicheren Menschen aus mir machen wird.
Sie selbst hat es bereits ausprobiert und schläft noch genauso unruhig wie vorher. Ist sehr einfach zu erkennen, wenn sie Albträume hat. Sie redet eigentlich nie im Schlaf, aber sie atmet dann schneller, außerdem zieht sie ihre Beine an und vergräbt ihr Gesicht im Kissen, als ob sie sich verstecken könnte. Ich weiß in solchen Momenten nicht, ob ich sie wecken soll.
Lasse ich sie schlafen, beruhigt sie sich vielleicht wieder und hat den Traum morgens vergessen. Wird sie wach, will sie meistens reden. Dann höre ich zu, wir schlafen beide nicht mehr ein. Der dämliche Traum bleibt uns die kommenden Tage im Gedächtnis und die Ringe unter den Augen werden dunkler.
Aber das verschwindet natürlich, sobald ich diesen Brief beendet habe. Ganz klar. Sieht man ja. Naja.
Also, Angst.. Wann machst du mir zu schaffen?
Oh, gerade jetzt fürchte ich, dass mein Bierglas gleich leer sein wird. Moment...
Jetzt.
Da hast du's.
Nun muss ich aufstehen und mir Nachschub zapfen.
Zeit verplempern und den Block vollmalen, damit es nach mehr aussieht.
Wieso wird dieses blöde Blatt nicht schneller voll?
Zu lesen kriegt sie es sowieso nicht, wäre ja noch schöner.
Gut, krame ich halt meine Angst wieder hervor. Ich weiß nämlich, wo du dich versteckst:
In der Dunkelheit.
Da warst du schon immer und hast mir aufgelauert. Dummerweise habe ich eine wirklich schlechte Nachricht für dich: Da darfst du gerne bleiben. Ganz weit weg, verschüttet unter undurchdringlicher, finsterster Nacht. Dich dort einzugraben war ausgesprochen einfach und ich brauche dafür nicht einmal eins dieser Kindernachtlichter mit bunten Bildchen drauf. Denn in unserer Stadt wird es nicht mehr dunkel, und genau vor unserem Fenster befindet sich eine unermüdlich strahlende Leuchtreklame. So gesehen bist du doch von einem bunten Bildchen besiegt worden. Ha. Was sagst du dazu?
Auch wenn ich allein unterwegs bin, kannst du mir nichts mehr anhaben.
Du bist erledigt.
Was immer du dort in der Schwärze verbirgst, kann ehrlich gesagt nicht schlimmer sein als das, was ich bereits besiegt habe. Du bist ein Verlierer, liebe Angst, und deswegen bin ich hier fertig.
Gute Nacht.
Vielleicht ist diese Idee doch nicht so schlecht. Zumindest hält sie mich vom Schlafen ab. Ja, liebe Angst, darauf kannst du dir etwas einbilden, deinetwegen liege ich seit Stunden wach. Aber das ist dein Wesen, nicht wahr? Du überfällst einen, fesselst einen und lässt einen nicht mehr gehen, ganz egal wie sehr man fleht. Eigentlich ist es unsinnig, von "dir" zu sprechen, denn wenn ich genauer darüber nachdenke, seid ihr ein "ihr". Auch wenn das Ergebnis dasselbe ist, geht ihr unterschiedlich vor. Ein Teil von euch pirscht sich an sein Opfer ran, springt ihm in den Rücken und reißt es zu Boden. Quetscht ihm die Luft aus den Lungen, bis es nur noch leise wimmern und sich nicht mehr rühren kann. Ihr genießt es, es gebrochen vor euch liegen zu sehen, lacht noch einmal laut auf und zerreißt es dann.
Komplett anders benimmt sich das kleine Splitterchen Angst, das ihr in einen Menschen pflanzt, wo es langsam heranwächst wie ein Parasit, bis nichts mehr bleibt außer einer von euch gesteuerten….ja, außer einer leeren Hülle, in der ihr jeden Gedanken, jede Hoffnung und jedes verfluchte Bild einer Zukunft ausgelaugt und vernichtet habt. Diese Sorte Angst spürt man kommen. Man verdrängt sie, verharmlost sie, verleugnet sie. Bis es zu spät ist.
Vielen Dank, Tifa. Wie kommst du nur auf den beschissenen Gedanken, dass das hier auf irgendeine Art und Weise hilfreich sein soll?
Wenn ich schon hier sitze, kann ich auch weiter machen.
Falls mir noch etwas einfällt.
Okay, vielleicht habt ihr mich ja mit solchen Splittern gespickt? Stimmt doch, oder? Meine Angst vor der Dunkelheit gehört in die Kategorie der mit aller Härte zuschlagenden Angst.
Aber da ist noch mehr.
Ich mag keine engen Räume. Wo hört "nicht mögen" auf und fängt "fürchten" an?
Wenn man etwas nicht mag, fühlt man sich womöglich abgestoßen oder auch nur etwas unbehaglich. Seltenst wird einem deswegen übel. Na gut, Brokkoli ist die Ausnahme. Den mag ich nicht und mir wird allein vom Geruch schlecht.
Ja ja, das war ein mieser Ablenkungsversuch. Also weiter im Text.
Der Magen verkrampft sich, der Rachen zieht sich zusammen, das Herz schlägt wie wild in der Brust, die Hände beginnen zu schwitzen, schließlich schwitzt der gesamte Körper.
Normales Denken funktioniert nicht mehr, die Stimme zittert und versagt mir den Dienst.
Das ist Angst.
Angst in engen Räumen nennt man Klaustrophobie. Das musste ich nicht mal nachschlagen.
Und obwohl ich weiß, wie sie heißt und wo sie herkommt, kann ich sie nicht besiegen. Wieso nicht?
Ich weiß genau, woran es liegt, dass dieser Splitter in mir gelandet ist, aber es gelingt mir nicht, ihn herausziehen. Ist doch zum Kotzen.
Und falls ich ihn jemals packen kann, was garantiert mir, dass er nicht abbricht oder in noch schärfere Teile zerbirst?
Das ist doch totaler Quatsch. Ich geh jetzt schlafen.
Ich mag es nicht, wenn mich jemand berührt. Darüber bin ich so wütend, weil es so dumm ist.
Was ist schlimm daran, wenn Barret mir überschwänglich auf den Rücken schlägt oder Cid auf sich aufmerksam machen will, indem er mir den Zeigefinger zwischen die Schulterblätter bohrt?
Abgesehen davon, dass es wehtut.
Immer muss ich mich beherrschen, sie nicht von mir wegzustoßen und anzuschreien. Sogar bei den Kindern geht es mir so. Wenn Denzel mich aus Versehen fast umrennt oder Marlene mal wieder vergisst, rechtzeitig zu bremsen und auf meinen Füßen landet.
Das ist dumm, dumm, dumm.
Und es ist ganz allein deine Schuld. Du warst das, du hast mir das angetan und ich kann es nicht hinter mir lassen. Oh, es gelingt mir sehr gut, nicht darüber nachzudenken, aber mit Denken hat all das nichts zu tun. Gerade jetzt denke ich, dass du tot bist, trotzdem weiß ich, dass ich dein Gesicht sehen und dein Lachen spüren werde, wenn mir jemand zu nahe kommt.
Aber du gewinnst nicht. Weißt du auch, wieso? Weil ich manchmal nachts aufwache und Tifa im Arm halte. Da ist niemand außer ihr. Du bist machtlos gegen sie. Sie kann dich besiegen, nachdem ich immer auf's Neue versage.
Gerade jetzt liegt sie drüben im Bett und schläft. Ich weiß nicht, was sie träumt, aber es scheint nichts Schlechtes zu sein.
Manchmal fürchte ich mich vor dem Einschlafen.
Jeder Mensch, der regelmäßig Albträume hat, legt sich eine Taktik zurecht, den Traum zu überrumpeln und zu seinen Gunsten zu wenden.
Meine erste - zugegebenermaßen miese - Idee war, mich zu verstecken. Sofern der Traum einen nicht in eine Einöde verschlägt, finden sich immer Möglichkeiten, sich irgendwo reinzuquetschen. Man kann unter Wurzeln kriechen, sich hinter einen großen Stein ducken oder von mir aus sogar unter ein Bett zwängen.
Geht jedesmal schief.
Der Baum verfault, der Stein verschwindet...man selbst bleibt wehrlos zurück. Oft hört man den Gegner gar nicht kommen, denn solange man sich im Versteck in Sicherheit wähnt, kann er sich lautlos anschleichen, bis es zu spät zum Wegrennen ist. Nun kann er einen langsam unter dem Bett hervorziehen und dabei die Haut von den Knochen schälen.
Mich unsichtbar zu wünschen hat auch noch nie funktioniert.
Weglaufen lief unter Plan B. War meist ein sinnloses Unterfangen und endete mit meinem quälenden Tod. Es ist mir noch nie passiert, dass ich mich nicht vom Fleck bewegen kann, während mein Gegner näher und näher kommt, aber dennoch ist mir bisher keine Flucht gelungen.
Stattdessen wache ich schließlich auf, schmecke falsches Blut und spüre Schmerzen, die nicht echt sind, die sich aber festbeißen und erst bei Tageslicht wieder verschwinden.
Also bleibt nur, mich zu stellen und zu kämpfen. Manchmal gewinne ich sogar.
Man muss nur erkennen, dass man sich in einem Traum befindet, dass nichts wirklich ist und dass alles verändert werden kann. Wenn einem das gelingt, ist einem der Sieg sicher.
Trotzdem frage ich mich, wieso ich nicht einfach verschwinden kann. Wenn ich renne, so schnell es mir möglich ist, und mir meines Traumes bewusst bin, wieso kann ich nicht einfach alles hinter mir lassen und fort fliegen?
Marlene hat einen Raben, der sie aus Albträumen rettet. Natürlich nicht aus jedem, aber aus vielen.
Ich habe Angst, allein zu sein.
Noch so ein Splitter.
Ich will niemanden mehr verlieren.
Ich weiß nicht, was ich dann machen würde.
Was soll ich überhaupt mit diesem Brief machen? Ihn verbrennen? Ihn zum Nordkrater schicken?
Muss Tifa fragen, was sie mit ihrem angestellt hat.
Also, Angst, schlafen werde ich heute nicht mehr. Ihr seid einfach zu viele für mich.
Mich vor euch zu verstecken ist sinnlos. Weglaufen kann ich vor euch nicht, weil ihr überall seid, wo ich bin, weil ihr zu tief in mir drinsteckt.
Wie ich euch bekämpfen soll, weiß ich nicht. Ich will es ja, aber wie soll ich das fertigbringen?
Vielleicht muss ich einfach mit euch leben.
Ich gewinne nicht, aber ihr auch nicht.
Ihr bekommt nichts außer diesem Brief.
Cloud
