Prolog
Gibt es das Schicksal?
Eine Frage, deren nähere Betrachtung sich durchaus lohnen mag. Die Hohepriester der geläufigsten Religionen mochten darauf antworten:
"Natürlich gibt es das Schicksal! Es wohnt auf Cori Celesti, dem gewaltigen Zentralmassiv der Scheibenwelt und liefert sich regelmäßig Schachpartien mit den anderen Göttern. Und es gewinnt immer. Jeder Trottel weiß das!"
Und damit werden sie genau den Erwartungen an Priester – oder auch Politiker – gerecht; nämlich die Wahrheit sagen und trotzdem die eigentliche Frage nicht beantworten. Wenn wir es schaffen, den arroganten Priester nicht auf der Stelle zu erdolchen, kommen wir unter Umständen noch dazu, zu erwidern:
"Ja, schon. Aber gibt es das persönliche Schicksal? Das, welches jedem Individuum vorherbestimmt ist?"
Hier würden sich die Antworten wohl unterscheiden. Aber das macht keinen Unterschied… Nicht für die Ereignisse in jener schicksalhaften – oder eben nicht schicksalhaften – Nacht.
"He, was soll… Arghhh… Hilfe!"
Die Stimme hallt durch die Stille der Nacht im vornehmen Ankh und lässt ihn aufhorchen. Er schaut sich um. Nichts. Sein feines Gehör nimmt auch Geräusche wahr, deren Ursprung weit entfernt ist. Er folgt den Geräuschen. Es klingt nach einem Kampf. Prickelnde Aufregung bemächtigt sich seines Körpers. Er läuft schneller, biegt um eine Ecke. Dann bremst er abrupt ab, hüllt sich ganz ein in seinen schwarzen Mantel. Er will unsichtbar werden und fast gelingt es ihm. Er schlüpft zur Seite, verbirgt sich hinter einem Buchsbaum, der wie ein seelenloser Wächter in der Dunkelheit steht. Er beobachtet. Er beobachtet alles. Er sieht, wie ein Bär von einem Mann einem anderen etwas gegen den Hals drückt. Doch es ist keine Klinge, die hätte im Widerschein der Fackeln gefunkelt. Die beiden rangeln, doch es ist eindeutig, dass der andere Mann keine Chance hat. Der Unterlegene sackt in sich zusammen und bleibt am Straßenrand liegen. Der versteckte Beobachter schaudert. Hat er gerade einen Mord beobachtet? Sein Nacken kribbelt und Adrenalin schießt ihm ins Blut. Wie in Trance erhebt er sich, verlässt sein Versteck. Würde ihn jemand fragen, warum; er wüsste keine Antwort. Der grobschlächtige Mann kniet über dem am Boden Liegenden. Er kramt in seinen Taschen, sucht scheinbar etwas. Vielleicht Geld oder andere Wertsachen, immerhin befinden sie sich hier in Ankh. Also nur ein gewöhnlicher Straßenräuber? Er geht auf die beiden Männer zu, ohne nachzudenken, ohne die Gefahr zu erkennen. Oder vielleicht erkennt er sie auch und schert sich nicht drum. Der Schrank blickt auf. Er sieht Überraschung in seinen Augen. Offensichtlich war er nicht darauf gefasst, hier jemandem zu begegnen. Doch die Überraschung schwindet rasch. Ärger rückt nach und wird wiederum selbst unmittelbar danach durch grimmige Entschlossenheit ersetzt. Er steht auf und wie aus dem Nichts materialisiert ein Dolch in seiner Hand. Die Klinge funkelt voller Vorfreude. Der Beobachter weicht einen Schritt zurück, hebt beschwichtigend die Hände. Doch der Bewaffnete schüttelt nur den Kopf und lächelt gefährlich.
"Keine Zeugen, tut mir leid, Bürschchen."
Er weicht noch weiter zurück, bis schließlich die nächste Häuserwand seinen Rückzug stoppt. Er seufzt. Es klingt fast wehmütig, aber auch ein bisschen genervt. Dann lächelt er. Er lächelt auf eine Weise, dass sein Gegenüber seine Zähne sieht. Sie glänzen elfenbeinfarben im Fackelschein. Der Angreifer reißt erschrocken die Augen auf, taumelt rückwärts und stammelt:
"Oh n-n-nein, nicht so einer!"
Der fallende Dolch verursacht ein unheilvolles Klirren. Der Räuber dreht sich um, will fliehen. Doch nach einigen hastigen Schritten besinnt er sich auf seinen letzten Rest Verstand. Er kehrt noch einmal um und hebt den Dolch auf. Dann verschwindet er endgültig in der Dunkelheit. Der Mann bleibt zurück und starrt den am Boden Liegenden an. Er sieht aus, als würde er schlafen. Doch sein Herz schlägt nur noch schwach, das hört der Mann. Er geht zu ihm, kniet sich neben den Bewusstlosen. Er fragt sich, ob er ihm helfen kann. Er betastet das Gesicht des Mannes, seinen Hals, seine… Kehle. Und dann geschieht es. Eine Wesenheit ergreift Besitz von ihm, bemächtigt sich seines Körpers. Uralte, verborgene Gelüste erwachen, schauen sich noch halb verschlafen um und fordern ihren Tribut. Eine säuselnde, verlockende Stimme in seinem Inneren flüstert verschwörerisch: "Es ist in Ordnung. Du kannst nicht anders. Du bist, was Du bist." Dann gräbt er seine Eckzähne tief in das warme, weiche Fleisch. Das Herz des Sterbenden schlägt noch; nur schwach zwar, aber es schlägt. Das Blut pulsiert nach draußen, rinnt in warmen, dickflüssigen Strömen seine Kehle hinab. Instinktiv hatte er den Biss an der richtigen Stelle angesetzt, die Halsschlagader getroffen. Er trinkt gierig, nimmt mit dem Blut auch die Lebenskraft des Sterbenden in sich auf. Und dann… ist alles vorbei. Benommen und entsetzt über seine Tat lässt er von dem Leichnam ab, starrt auf ihn hinab, als sähe er ihn zum ersten Mal. Nein, nein, das konnte nicht sein! Er hat nicht gerade Blut getrunken und einen Menschen getötet! Er zittert. Er taumelt zurück. Er will fliehen, vor sich, vor seiner Tat, vor diesen toten Augen, die ihn vorwurfsvoll anstarren. Doch etwas… hält ihn auf, fesselt seinen Blick und bindet ihn an die Szenerie. Der abgewetzte Mantel des Toten bedeckt es halb, und doch ist es deutlich zu sehen. Denn es… schimmert. Er starrt darauf hinab. Fasziniert klebt sein Blick daran fest. Dann sieht er sich verstohlen um. Es ist niemand in der Nähe. Stehlen ist sein Leben. Und genaugenommen wäre das nicht einmal stehlen. Er sieht sich erneut um. Dann bückt er sich blitzschnell, steckt das leuchtende Etwas ein und verschwindet in der Dunkelheit. Der Geist des Verschiedenen sieht ihm nach und schüttelt traurig den metaphysischen Kopf.
"Warum hat er das Glas-mit-Drähten-drin-die-leuchten nicht einfach liegengelassen?", fragt er.
"DAS IST SCHICKSAL. KOMM JETZT, LEONARD!", erwidert Tod.
