Wann immer Sarada aus dem Fenster sah, fand sie sich früher oder später in Gedanken verloren. Sie dachte nach über dieses und jenes und erinnerte sich an Dinge, die lange vergangen waren. Aber manchmal, da sah sie ein bestimmtes Gesicht vor Augen, eines, das es so eigentlich nicht mehr gab und das sie so sehr an das ihre erinnerte.
Sie kannte nur ein einziges Foto, auf dem ihr Papa zu sehen war. Sie hatte sich nicht getraut ihre Mama zu fragen, warum es kein aktuelleres gab, oder überhaupt ein anderes, aus Angst vor der Antwort. Sie wollte verstehen, aber … Ihr Leben war gut. Das sollte sich nicht ändern.
Wenn sie aus dem Fenster sah, konnte Sarada die Straße erkennen, auf der sie stets zur Schule ging. Es war außerdem ein Weg, der aus dem Dorf hinausführte, wenn man ihm nur lange genug folgte. Auch ihr Papa musste ihn gegangen sein und würde ihn erneut gehen müssen, sollte er eines Tages wieder nachhause kommen. Zu ihr. Zu Mama.
Mama meinte oft, dass es bald soweit sein würde. Sarada wollte ihr glauben, aber je öfter sie aus dem Fenster sah und je öfter ihre Gedanken zu wandern begannen, desto mehr schwand ihr Glaube dahin. Irgendwann musste auch Mama einmal einsehen, dass ihr „Bald" schon seit Jahren an Bedeutung verloren hatte. Warum sie es dennoch immer und immer wieder zu ihr sagte, konnte Sarada nicht sagen. Vielleicht half es ihr, nicht selbst die Hoffnung zu verlieren.
Zumindest würde sie es dann verstehen können.
Mama saß in der Küche, Tante Ino ihr gegenüber. Die beiden redeten oft, Sarada hörte die beiden selbst durch geschlossene Türen. Es freute sie, dass ihre Mama eine so gute Freundin hatte.
Sie kannte auch Inos Sohn, Inojin, da sie in dieselbe Klasse gingen. Manchmal sah sie auch seinen Papa, wenn er ihn von der Schule abholte. Er sah ein bisschen so aus wie ihr Papa auf dem Foto. Beide hatten sie dunkle Haare und Augen, sogar die Frisur war fast die gleiche. Sarada hatte sich stark gewundert darüber, weswegen er ihr in Erinnerung geblieben war. Anfangs hatte sie nicht gewusst, was sie von ihm halten sollte, aber je öfter sie ihn sah, desto klarer wurde ihr:
Sie mochte ihn nicht.
Wenn ihr langweilig war, beobachtete sie die Leute vom Fenster aus. Sie dachte darüber nach, wer die einzelnen Personen waren, ob sie sie kannte oder aus welchen Dörfern sie wohl kamen. Manche hatten es eilig, andere ließen sich Zeit. Es war eigentlich immer recht viel los, vor allem wenn die Frauen einkaufen gingen.
Als sie noch kleiner war, hatte sie, wenn immer sie einen schwarzen Haarschopf in der Menge erspäht hatte, für einen kurzen Moment geglaubt, es müsse ihr Papa sein. Heute passierte das fast gar nicht mehr, oder zumindest nicht mehr so oft. Sie fragte sich, ob sie ihn überhaupt erkennen würde oder ob er nicht vielleicht schon an ihr vorbeigegangen war. Vielleicht hatte sie ihn sogar angesehen.
Manchmal fragte sie sich, wieso sie überhaupt aus dem Fenster sah.
