Disclaimer: Labyrinth und die Personen gehören mir nicht, ich verdiene kein Geld damit, ich spiele nur gerne mit ihnen.

Labyrinth II

Ein leises Weinen durchdrang die Stille. Im Zwielicht des abgedunkelten Zimmers saß ein kleiner, fünfjähriger Junge auf einem Hocker vor dem Bett seiner großen Schwester.

Er schaute immer wieder auf ihr Gesicht. Seit Tagen schon hoffte er, dass sie bald erwachen würde, aber ihre Augen öffneten sich nicht.

Unruhig wälzte sie sich hin und her, ihre Hände krallten sich in die Decken. Immer wieder hoben sich langsam, wie unter einer zentnerschweren Last, ihre feingeschwungenen Augenbrauen, doch die bleiernen Lider verhinderten das Erwachen. Toby nahm sanft ihre Hand in seine und regte sich nicht.

In der dunkelsten Ecke dieses Zimmers stand der ehemalige Schmuck des Raumes: eine alte Frisierkommode. Auf ihr standen zwei oder drei Puppen und, von hölzernen Stützen getragen, Sarahs alte Märchenbücher.

Im Schatten wisperte und raunte es unruhig. Jenseits des Spiegels und für Toby unsichtbar, stand ein mit Zwerg und unterhielt sich leise mit einem höfisch gekleideten Fuchs:

„Dies ist nun schon die zehnte Nacht und sie kann und kann nicht aufwachen." „Habt ihr denn noch nicht versucht, sie zu wecken?" fragte Sir Didymus in gewohnter Lautstärke. Ein eindringliches „PSSST!" von Hoggle brachte ihn rasch zum Schweigen- doch natürlich hatte Toby, der auf der anderen Seite des Spiegels saß, sie nicht gehört.

Der Zwerg seufzte und ließ seine Schultern hängen. „Natürlich habe ich es schon versucht! Jedes Mal wenn der Kleine, oder wer sonst immer bei ihr wachte, eingeschlafen war. Ich befürchte, dass wir nicht mehr real genug für sie sind. In all den Jahren hat sie immer weniger an uns gedacht, nur..."-„Nur was?" bohrte Sir Didymus. „Ach, nichts!" schnaufte Hoggle unwirsch. „Jedenfalls haben weder wir, noch die auf der anderen Seite die Macht, sie zu wecken." Und wieder schauten sie hinaus in die andere Welt jenseits des Spiegels: zu der jungen Frau, die im Zwielicht des Zimmers mit ihren dunklen Träumen focht.

Stunden später kehrten Hoggle und Sir Didymus müde und trübselig zu ihren Freunden in die Taverne der Koboldstadt zurück, um Bericht zu erstatten.

„Tja, und so steht es nun um Sarah", erklärte Hoggle den um ihn versammelten Kobolden. Ein haariger Koloss kratzte sich am Schopf zwischen den Hörnern. „Sarah und Ludo Freunde! Müssen Sarah helfen!" sagte er entschieden.

Der Fuchs zuckte mit den Schultern und trat auf ihn zu. „Aber wie? Wir alle haben versucht sie zu wecken, doch nicht einem von uns ist es gelungen." Traurig brachte es Sir Didymus auf den Punkt: „Wir haben nicht mehr genug Macht, ihre Träume zu erreichen!"

Der Kopf eines Feuerteufels flatterte mit seinen Ohren in die Höhe und ließ seinen Rumpf und einen Arm – na, was halt von ihm gerade in erreichbarer Nähe war, unter sich zurück. „Ich wüsste einen, der genug Macht hätte, sie zu erreichen." Alle Aufmerksamkeit richtete sich gespannt auf ihn.

„Wen?" fragte Sir Didymus.

„Jareth!" posaunte der flatternde Kopf heraus. Schlagartig wurde es still.

Der weise Alte schaute aufmerksam in die Runde: „Und wer wird ihn freiwillig fragen? Nach der Niederlage, die er durch Sarah erlitten hat?" Blitzartig waren Kopf und Ohren verschwunden.

Betretenes Schweigen lastete auf der Versammlung im Raum, bis das leise Stimmchen des Wurmes begeistert piepste: „Hoggle natürlich. Er ist der Ranghöchste: ein Prinz! ...auch, wenn er nur der Prinz des Moores des ewigen Gestankes ist..." fügte die Stimme kleinlaut hinzu.

Hoggles Blicke hätten töten können. Doch die Kobolde waren begeistert von der Idee und wählten Ludo und Sir Didymus, mit Ambrosius natürlich, um ihn zu begleiten, bevor auch nur einen von ihnen ernsthaft an Protest denken konnte.

Jareth war wieder einmal übelster Laune. Seine Gedanken kreisten um sein Königreich und seinen Nachfolger, den es jetzt wohl nie geben würde.

Er hatte seine Chance gehabt und er hatte sie vertan. Anstatt sich wie ein Herrscher zu nehmen was ihm gebührte, hatte er sich von einem Mädchen einwickeln lassen. Er hatte vor ihr gestanden, ihr seine Welt und sein Herz vor die Füße gelegt und dann vor ihren Augen kapituliert.

Er war für sie alles gewesen, nur nicht Jareth. Er hatte ihr so viele Lügen gegeben, dass sie sein wahres ich nicht erkannt hatte...

Sie hatte sich abgewandt und war nach Hause zurückgekehrt.

Jareth machte sich keine Illusionen. Mädchen gab es viele, aber wahre Königinnen waren seltener als Mondjuwelen.

Mit einer ungeduldigen Handbewegung schmetterte eine Tür aus dem Weg und setzte seinen einsamen Weg fort.

Das Schloss hallte schwer von seinen Tritten wider. Die wachhabenden Kobolde wichen ihm aus, wann immer sie ihn sahen. Selbst die Aufräumer wagten sich nicht in seine Nähe, als er ruhelos durch die Gänge seines Schlosses streifte. Geistesabwesend betrat er seinen Thronsaal um gelangweilt das zu tun, was ihm früher so viel Vergnügen bereitet hatte: die Berichte der Koboldpatroullien anzuhören und festzustellen, wie viel ihr Wissen von seinem Wissen abwich.

Ein kurzsichtiger Kobold mit einem Kochtopf auf den Kopf stakste in die Nähe des Thrones und schlug dreimal kräftig mit seinem Stab auf den Boden, der ein empörtes „Aua!" hören ließ „Musst du denn immer so doll hauen?" beschwerte sich der Stab, „mir tut von dem ewigen Geklopfe mein ganzes unteres Ende weh!" Der Kobold schaute ihn betreten an. „Tu-tut mir leid, äh, wirklich!"

Jareth schaute angewidert zur Seite. „Wer ist heute da?" fragte er unwirsch. „Äh...Sire..."-„Nun?" „Na ja, nun, nicht direkt eine Patrouille, andererseits haben auch sie etwas aus einer anderen Welt zu berichten, aber wie gesagt..."-„Bring' sie herein."

Jareth nahm sich vor die Audienz schnell zu beenden. Als er die Personen sah, die aus der Öffnung des Ganges in den Raum traten schnellte er katzengleich aus dem Thron. „Ihr wagt es, hier zu erscheinen!" Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

Hoggle nahm seinen ganzen Mut zusammen. „Sire, wir wären nicht hier, wenn es nicht außergewöhnlich wichtig wäre, glaubt mir!" Jareth beherrschte nur mühsam seinen Zorn. „Ihr habt eine Minute und ich hoffe für euch, dass ihr sie nicht verschwendet."

Mit der Mühsam kontrollierten Wildheit eines Raubtieres ging er zum Thron zurück und ließ sich darauf nieder. „Also?"

„Sire, wir wollen um Hilfe bitten für eine Person, die sehr leidet. Wir haben alles versucht, aber unsere Macht reicht nicht aus, sie aus ihren Alpträumen zu erwecken."

„Und wer ist diese Person?" fragte Jareth, nicht einmal oberflächlich interessiert. Er schaute gelangweilt auf seine Fingernägel. „Du hast noch 20 Sekunden."

Hoggle schluckte und zwang den Namen an dem Kloß an seiner Kehle vorbei: -„Sarah!"

Jareths Augen fixierten ihn. Hoggle schrumpfte sichtbar in sich zusammen und tastete, Halt suchend, nach Ludos behaarten Beinen.

„Sarah", wiederholte Jareth langsam. „Wieso kommt ihr damit ausgerechnet zu mir?"

„Weil ihr die Macht habt, Sire, ihr den Weg aus ihren Alpträumen heraus zu weisen", erwiderte Sir Didymus.

„Und warum sollte ich das tun?" fragte Jareth.

„Weil sie euch etwas bedeutet", sagte Hoggle leise, mit gesenktem Kopf.

Jareths Augen blitzten„Wie kannst du es wagen..." zischte er.

Der Zwerg schaute trotzig auf. „Sire, Ludo, Sir Didymus und ich sahen den Traum, den ihr ihr sandtet. Es war ein schöner Traum, ein Traum, in dem von Liebe die Rede war. Einer, den man nur verschenkt wenn..."

Mit einer Handbewegung schnitt Jareth ihm das Wort ab. „Nein. Ich kann euch nicht helfen."

Die Gefährten schauten betreten zu Boden. „Aber ich kann euch den Weg weisen, wenn ihr den Mut habt, ihm zu folgen." „Sire, an Mut soll es uns nicht fehlen!" bekräftigte Sir Didymus, auch im Namen der Anderen, wobei besonders Ludo nicht so ganz froh aussah.

Jareth stand auf. „Dieser Weg führt durch ein Gebiet, in dem ihr euch bestens auskennt, mein Prinz!" Er verbeugte sich mit einem ironischen Lächeln vor Hoggle. „Das Moor des ewigen Gestankes entspringt an der Grenze zu einer weiteren Welt der Fantasie. An seiner tiefsten Stelle befindet sich ein Durchgang in diese andere Welt. Springt hinein und ihr werdet das Land der Tränen, die Welt der Alpträume, finden."

Abrupt verließ er den Raum und ließ die Gefährten betreten schweigend zurück. Einzig Sir Didymus, dem jeglicher Geruchssinn abging fragte strahlend: „Wann brechen wir auf?" Ludo, Hoggle und Ambrosius fügten sich schaudernd in das Schicksal bis an das Lebensende grausam stinken zu müssen, wenn sie Sarah helfen wollten. Sie schauten sich noch einmal an und gingen dann entschlossen zurück, um Ausrüstungsgegenstände und noch einige Helfer zu holen und aufzubrechen.

Zurück blieb ein nachdenklicher Jareth. Er saß auf einer Zinne seines Schlosses und blickte hinab auf die Koboldstadt. Noch bevor die Gefährten das Rathaus erreicht hatten, schwang sich eine weißgoldene Eule in den Himmel hinauf und entschwand in den sich hoch auftürmenden Bastionen der Wolken.

Der Gestank raubte einem die Sinne- diese Ausdünstungen, verbunden mit dem ewigen Blubbern und Schmatzen des zähflüssigen Moores und der Aussicht, auf ewig genauso stinken zu müssen, würden so manchem den Mut sinken lassen. Und so wussten auch die Mitglieder unserer kleinen Truppe noch nicht, ob ihre Entschlossenheit Sarah zu helfen stärker war oder die Abscheu vor diesem unendlichen Gestank.

Neben Hoggle, Ludo, Sir Didymus und Ambrosius waren noch vier andere Kobolde mit von der Partie: der Wurm, der auf Ludos Schulter thronte, der Anführer der Feuerteufel und als ‚Schutz' zwei Koboldwachen, die eifrig darauf bedacht waren, den anderen das Abenteuer auszureden.

„Uägh! Ewig stinken- und ihr wisst nicht einmal, ob Jareth euch angelogen hat! Gebt doch auf!" meckerten sie.

„Ihr hättet euch ja nicht freiwillig melden brauchen", knurrte Hoggle.

„Freiwillig, pah!" murmelte der größere der beiden. Er dachte an die Kobolde mit den Beißer-Stöcken, die am Rande des Moores zurückgeblieben waren und auf Geheiß des Alten ihren ‚Eifer' für diese Mission angespornt hatten.

Hoggle schüttelte nur den Kopf und stapfte entschlossen weiter. Der Wurm auf Ludos Schulter legte sein Köpfchen schief und sagte zu ihm: „Es gibt nur noch so wenige Menschen, die an uns glauben, nicht einmal mehr genug, um das Königreich zu erhalten! Schaut euch doch einmal hier um! Alles verfällt und kaum jemand bittet uns noch, ein Kind zu holen. Jareth hat nicht einmal einen Nachfolger!"

„Da bin ich aber anderer Meinung!" protestierte der Größere der beiden Wachen. „Ich wäre als Nachfolger prima geeignet"

„Du? Bah!" spottete der Kleinere. Und schon war ein heftiger Streit im Gange.

Der Wurm schüttelte traurig den Kopf. „Sarah könnte unsere Hoffnung auf die Zukunft sein. Wenn sie den anderen den Weg in unsere Welt zeigen würde..."

„Gehen wir!" forderte Sir Didymus forsch und schritt unbeirrt auf den schmalen Felsüberhang zu. „Nun denn!" Die Gefährten fassten sich an den Händen und sprangen entschlossen in den Pfuhl. Der Sumpf teilte sich und sie glitten durch den Morast hindurch.

Dann herrschte Stille. Nur eine Kristallkugel schwebte schimmernd in der Luft, um mit einem leisen Klirren zu zerbersten.

Eine weiße Eule saß auf einem Zweig vor Sarahs offenem Fenster und schaute unschlüssig in ihr Zimmer. Wie immer, kurz nach Beginn der Dämmerung, saß Toby am Bett seiner Schwester und hielt ihre Hand. „Sarah, bitte wach auf. Ich will auch ganz lieb sein!", bat er leise und strich ihr unsicher einige Haare aus dem Gesicht. „Ich würde alles tun, wenn ich dir helfen könnte."

Lautlos glitt Jareth in das Zimmer und wandelte seine Gestalt. „Wirklich alles?" fragte er mit sonorer Stimme.

„Wer bist du?" fragte Toby erschrocken.

„Kennst du mich nicht?" Jareth schlug die Arme übereinander und stand breitspurig vor ihm. Er schaute ihn durchdringlich an. Toby wusste nicht, woher er es wusste, doch er sagte: „Du bist Jareth, der Koboldkönig und du siehst genauso aus, wie die Puppe dort drüben auf dem Schminktisch."

Jareths Augen flogen durch den Raum, sein Blick blieb kurz an der Figur haften und kehrten dann zu Toby zurück.

„Kannst du Sarah helfen?" fragte Toby und sah mit großen Augen zu ihm auf.

„Wenn ich ihr helfen kann, dann nur mit deiner Hilfe!" erklärte Jareth entschlossen. Toby schluckte tapfer und fragte: „Was muss ich tun?"

Der Koboldkönig winkte ihn kurz zur Seite und beugte sich über Sarah. Er hob seine Hand um sie in einigem Abstand über ihren Körper gleiten zu lassen. Seine Hand begann zu zittern, er zögerte und seine sorgengeprägten Züge wurden weich, als er den Blumenduft ihrer Haare roch. Ungebeten stiegen Erinnerungen in ihm auf, doch er bezwang sie mit eiserner Konzentration. „Vielleicht gibt es doch noch Hoffnung für mich, wenn ich dir helfe", dachte er und warf einen kristallinen Schimmer über sie.

Einige Zeit verharrte er regungslos. Dann brach seine Konzentration und er wandte sich Toby nachdenklich zu.

„Was fehlt ihr?" fragte der Kleine, „kannst du ihr helfen?" Jareth versuchte für Toby verständliche Worte zu finden.

„Als Sarah größer wurde, träumte sie immer weniger. Sie vergaß den Weg in meine Welt. Sie tat die Erinnerungen an ihre Freunde als kindische Wunschfiguren ab. Sie dachte, ihre Abenteuer wären nur Träume gewesen.

Sarah hat aber immer noch Fantasie- viel Fantasie. Weil nach dem Vergessen ihrer Freunde nun nichts mehr Vertrautes in ihren Träumen war, hielten die Alpträume Einzug in ihren Gedanken. Ihre Welt liegt dicht neben der meinen.

Sarah wich ihnen erst aus. Aber dann begann sie über die dunklen Träume nachzudenken und damit gewannen sie für sie an Realität. Jetzt sind diese Träume stärker geworden. Sie hat sich in ihnen verirrt und findet nicht mehr hinaus."

„Aber Träume sind doch nicht wahr!" behauptete Toby und Jareth zuckte zusammen. Er kniete neben Toby nieder und nahm seine Hand.

„Was fühlst du, Toby?"

„Deine Hand, sie ist warm und zittert etwas."

„Ist sie echt?"-„Ja."-„Und dennoch bin ich für euch nur ein Traum."

„Wir müssen Sarah helfen", sagte Toby und Jareth nickte. „Du musst sehr mutig sein, denn wir müssen Sarah einen Weg hinaus aus ihren Alpträumen weisen. Sie sind furchtbar, aber sie können dir nichts anhaben, denn ich bin bei dir: "

Er schaute den Kleinen durchdringend an. „Erinnerst du dich an das Schloss am Rande der Koboldstadt?"

Toby dachte ernsthaft nach. „Ich weiß nicht", kam es schließlich kläglich.

Jareth seufzte. „Du warst damals noch sehr klein, als Sarah mich bat, dich zu holen, weil sie auf dich eifersüchtig war." Er brachte mit einer Geste Toby, der gerade laut protestieren wollte zum Schweigen. „Ich nahm dich mit in die Koboldstadt. Sarah nahm meine Herausforderung an: sie sollte dich suchen und innerhalb von 13 Stunden das Labyrinth überwinden. Sie hat es geschafft und ich brachte dich daraufhin zurück." Toby überlegte, ob er Jareth trauen konnte. „Unsere Chance wird sein, mit einem Traum ihrer Erinnerung die Macht der Alpträume zu brechen. Einige ihrer Freunde befinden sich schon in diesem grausamen Land. Das heißt, ich habe sie vorausgeschickt, um Sarah den Weg zu weisen, sollten sie mir und meinen Illusionen misstrauen."

Jareth ging ruhelos vor dem Bett auf und ab. „Wenn Sarah glauben würde, dass ich dich wieder in das Koboldreich entführt und in meiner Gewalt hätte, würde sie nach dir suchen und damit unser Traum für sie Realität werden. Er könnte ihr und den Anderen den Weg weisen. Gemeinsam schaffen wir es vielleicht, sie aus ihren Alpträumen zu befreien. Hast du verstanden?"

Offensichtlich nicht. Jareth kniete sich nieder und fasste Toby an den Schultern. „Toby, wir können Sarah nur helfen, wenn du mir ganz und gar vertraust. Du musst ihr vormachen, du hättest große Angst und schwebtest im Koboldreich in großer Gefahr. Kannst du das schaffen?" Toby, dem ohnehin mulmig zumute war, nickte tapfer. „Ja, Jareth."-„Dann komm!"

Jareth zog eine Kette mit einem grünen, in feine Silberarbeit gefassten Anhänger aus der Tasche. Solltest du aus irgendeinem Grunde von mir getrennt werden, wird dir dieser Kristall den Weg weisen. Er leuchtet umso heller, je näher du an der Koboldstadt bist. Dreh dich langsam im Kreis. Dort wo er aufleuchtet, befindet sie sich. Die Kobolde kennen dich und werden dir helfen." Er hängte Toby die Kette um und zog den Jungen hinter sich.

Unendlich sanft nahm er Sarah in seine Arme, legte sie auf dem Boden nieder und bettete ihren Kopf in Tobys Schoß. Dann beschrieb er mit den Armen einen weiten Kreis. Funkelndes Licht umhüllte sie, das jenseits des Kreises in nahezu undurchdringliche Finsternis überging. Sie waren im Land der Tränen angekommen.

Weit entfernt in den dunklen Nebeln des Moores irrte der Suchtrupp durch die Alptraumlandschaft. Eng aneinander gedrängt folgten die Kobolde Hoggle, der sich unsicher durch die Finsternis tastete. Ihre Fackeln hatten sich als nutzlos erwiesen. Selbst der Feuerteufel konnte mit seinen magischen Kräften nicht einmal einen Funken entfachen.

Die Luft roch faulig, der Boden troff vor Feuchtigkeit und die karge Vegetation war missgebildet und verkümmert. Büsche und Bäume waren verformt bis nahe zur Unkenntlichkeit. Ihre Wurzeln zogen lange Fäden, als ob sie sich mühten, dem Grauen zu entkommen und doch in ihm gefangen waren. Tiere und andere Lebewesen waren ihnen bisher noch nicht begegnet und ihre Erleichterung darüber war grenzenlos.

Wieder einmal tauchte vor ihnen das fahle Skelett eines ehemals prächtigen Baumes aus den vor Feuchtigkeit triefenden Nebeln aus. Zum dritten Mal kamen sie an der Kreuzung an, die sie vor Tagen zum ersten Mal passiert hatten. Unsicher und enttäuscht versuchten sie zu begreifen, dass sie wieder einmal im Kreis gewandert waren. Mutlos schlugen sie einen vierten Weg ein. War es wieder derselbe? Hatte sich dort eben ein Baum verformt? Saß dort drüben ein unaussprechlicher Schatten in der Finsternis? Nicht hinschauen! Und immer wieder beschwörend: es ist nur ein Traum. „Ein Traum! EIN TRAUM!" kreischte Hoggle, als das grauenhafte Wesen, das im Schatten gelauert hatte, ihn im Vorbeiflug streifte, einen Kratzer in seiner Schulter und ein Loch in seiner Seele hinterließ.

„Wo bleiben sie nur?" fragte Jareth sich ungeduldig. Toby und er standen geschützt in einer Blase aus irisierendem Licht, jenseits der die Wesen der Finsternis umher schlichen und lauerten. „Wir können nicht länger auf sie warten- sonst reicht meine Kraft nicht aus, uns zurückzubringen." Mit einer eleganten Handbewegung spann Jareth Kristallkugeln aus Träumen. „Toby, komm her und rufe in diese Kristallkugel so flehentlich du kannst nach Sarah! Erzähle ihr, das du im Koboldreich bist und von hier fort willst!"

Von Alpträumen umlauert fiel Toby das nicht schwer und er rief nach seiner großen Schwester. Jareth sandte ein Bild von sich mit Toby im Arm und ein weiteres von ihren verirrten Freunden. Er öffnete den Schild minimal und schleuderte die Kugeln mit lautem Zischen in die Dunkelheit. Die Alpträume heulten vor Wut auf und versuchten, die Eindringlinge zu fangen, doch noch schützte sie die Macht des Koboldkönigs

Sarah schrie in namenlosem Entsetzen. Sie schrie immer wieder. Sie hatte anfangs nur schlecht geträumt und irgendwann begonnen zu vermuten, dass etwas sie bedrohen würde. Da sie im Unterbewusstsein wusste, wie mächtig die Fantasie sein konnte und welche merkwürdigen Wesen selbst in Jareths Reich existiert hatten, wurde ihre Angst immer stärker. Bald schon ängstigte sie sich vor dem Einschlafen. Und dann wurden ihre Vermutungen zur Realität.

Die Alpträume begannen und je mehr sie sich vor ihnen fürchtete, desto schlimmer wurden sie. Ihre eigenen Ängste umringten sie und schufen Traumbilder- tausendfach verzerrt. Sie war nicht mehr in der Lage, dieser Welt zu entfliehen. Dann wurden diese Bilder zu Wesen, die sie berührten und marterten. „Ich habe nicht mehr viel, das sie mir nehmen können", dachte Sarah. Sie versagte sich jeden tröstenden Gedanken an ihre Familie und an die fast schon vergessenen Freunde im Koboldreich aus Angst, sie von den düsteren Schatten dieser grausamen Welt zerrissen zu sehen.

„Sarah!" eine ihr wohlbekannte, helle Stimme rief sie aus dem Dunkel der von Nebelschwaden durchzogenen Nacht. „Toby, nein!" bat sie, während Tränen ihr das Gesicht herunterströmten. Leise flüsterte sie zu sich selbst: „Ich kann nicht mehr!" Wieder hörte sie die Stimme: „Sarah, du musst mir helfen, bitte! Ich habe Angst- Jareth ist bei mir!" rief er jetzt kläglich.

Jareth!" durchfuhr es sie heiß und sie nahm sich zusammen. „Doch halt- es ist wieder nur ein Traum. Wenn es ein Traum ist und ich reagiere, als wäre es Toby, gewinnt er an Realität und ich muss sehen, wie auch er von meinen Alpträumen gequält wird." Aus den Augenwinkeln sah sie ein leichtes Schimmern. Einen grellen Lichtstreif durch die undurchdringliche Dunkelheit ziehend tauchte eine Kristallkugel auf- und noch eine zweite.

„Es ist kein Traum, Sarah", sagte eine ihr wohlbekannte Stimme. „Du musst schon kommen und ihn dir zurückholen! Der Koboldkönig braucht einen Nachfolger."

„Jareth, NEIN!" schrie sie und begann zu kämpfen.

Sie schlug die Visionen beiseite und folgte dem Schimmern der Kristallkugeln. Eine dritte tauchte auf, in der sie ihre alten Freunde sah: Hoggle, Ludo, den Wurm, Sir Didymus und seinen Hund, umschlossen von Finsternis und Gefahren. Wie einen Schutzschild beschwor sie die Zeilen ihres einstigen Lieblingsbuches herauf:

Durch unsägliche Gefahren und unzählige Widerstände habe ich mir meinen Weg zu diesem Schloss erkämpft, am Rande der Koboldstadt, um das Kind zurückzuholen, das du gestohlen hast! ..."

Diese Zeilen gaben Jareth die Zeit, die er brauchte. Die Kristallkugeln wie einen magischen Kompass benutzend, war er ihnen zu Sarah gefolgt. Er warf einen Zauber gegen die Schrecken der Finsternis und riss Sarah in die schützende Lichthülle, zurück in ihren dort wartenden Körper. Mit letzter Kraft katapultierte er sie alle zurück in die Welt der Kobolde.

„TOBY!" mit einem Aufschrei riss Sarah ihn an sich. Wütend wirbelte sie herum. „Hast du immer noch nicht genug, Jareth?" fuhr sie ihn an. „Ist es auch dein Werk, das meine Freunde in diesem Land des Grauens gefangen sind?"

Jareths Hoffnungen zerbrachen. Er schaute sie erschöpft und resigniert an.

„Sarah, er hat nicht..." begann Toby. Sie schnitt ihm das Wort ab. „Ich weiß, was er hat und das reicht. Er hat wieder einmal versucht dich zu stehlen- und was hattest du mit mir vor, Jareth? Wolltest du mich ausstopfen oder gefangen nehmen in einer Kristallkugel?"

Der Koboldkönig schaute sie nur abgrundtief traurig an. „Hasst du mich wirklich so sehr, Sarah?"-„Ich hasse dich!" schrie sie, „ich hasse dich!"

Weinend brach Sarah zusammen, die Arme immer noch schützend um Toby gelegt. Zutiefst erschüttert und all seiner Träume beraubt, wandte er sich noch einmal an Toby.

„Ihr werdet den Anderen allein helfen müssen", sagte er leise. „Ich habe nicht mehr die Kraft dazu. Leb' wohl." Er drehte sich um und ging. Jareth hatte nicht einmal mehr die Kraft die Gestalt zu wandeln und zu fliegen. Sein Umriss verschmolz langsam mit den Schatten der hereinbrechenden Dämmerung.

„Jareth!", rief Toby, doch sie waren allein.

Sarah schaute ihn verbittert an. „Typisch! Erst schickt er mir Alpträume, dann entführt er dich und jetzt lässt er uns inmitten von nirgendwo allein!" Sie trocknete ihre Tränen, wandte sich ihrem Bruder zu, fasste ihn an den Schultern und überschüttete ihn mit Fragen. „Hat er dir irgendetwas angetan? Ist Zuhause alles in Ordnung? Ich ahnte doch, dass er es wieder versuchen würde!"

„Nein, Sarah..."

„Und jetzt hat er auch noch meine Freunde in diesen Alptraum gelockt und..."

„SARAH!" Toby verschaffte sich energisch Gehör und stemmte die Hände in die Hüften. „Nein, hat er nicht!"

„Was hat er nicht?" fragte Sarah verdutzt.

„Die Träume geschickt oder mich entführt."

„Aber du hast doch um Hilfe gerufen, weil er dich entführt hatte."

„Hab' ich nicht!" erklärte Toby entschieden. „Ich habe gesagt, dass ich Angst hätte und dass Jareth bei mir wäre. Vor ihm hatte ich keine Angst, sondern vor den Monstern aus den Träumen – aus deinen Träumen! Und Jareth hat mich vor ihnen beschützt."

Sarah verstand nicht.

Toby erklärte es noch einmal: „Alles, was böse war, hast du geträumt. Du konntest nicht aufwachen. Jareth wusste das und wollte dir helfen. Er dachte, wenn du denkst, ich hätte Angst vor ihm..."

Sarah schaute Toby ungläubig an. „Hattest du denn keine Angst vor ihm?"

„Nein, na ja, anfangs ein bisschen"

„Und was ist mit Hoggle, Ludo und den Anderen?"

„Die hat er vorausgeschickt, um dir zu helfen, aber sie kamen nicht!"

Sarah blickte über die sonnenverbrannten Wiesen. „Wir sind ganz allein und wissen nicht, wohin wir gehen müssen..." protestierte sie noch einmal schwach.

Toby tastete unter seinem Hemd nach der langen Kette mit dem grünen Anhänger. Er hielt ihn in der Hand von sich gestreckt und drehte sich langsam im Kreis herum. In Richtung der untergehenden Sonne glomm ein Licht im Inneren des Steines flüchtig auf. „Dort liegt die Koboldstadt", sagte Toby, „dorthin müssen wir gehen."

Sarahs Zweifel rangen mit dem eben Gehörten. Sie konnte und wollte es nicht glauben und doch...

Entschlossen schaute sie auf: „Ja, dorthin müssen wir gehen."

Langsam durchstreiften sie das Land der Kobolde. Eine staubige Stille lag über dem Land, das einstmals so von Leben gestrotzt hatte. Spinnenweben schienen die Zeit einzufangen und alle Geräusche schienen unter altem Laub begraben zu sein.

Sarah nahm diese Veränderungen nicht bewusst wahr. Sie dachte, würden durch einen Teil des Landes gehen, den die damals nicht kennen gelernt hatte.

Die Stunden der folgenden Tage liefen gleichförmig ab: Aufbruch in der Dämmerung, Nahrungssuche, während sie sich auf das Schloss am Rande der Koboldstadt zu bewegten, Rast am Mittag, im Schatten der Zweige eines spärlichen Gebüsches und schließlich, wenn der Tag sich seinem Ende zuneigte, Lagerplatzsuche und Nachtruhe.

Sarah hatte sich aus zwei Steinen ein provisorisches Funkenfeuerzeug gebastelt und Toby konnte, da er noch so klein war, Pilze und Beeren selbst aus den dichtesten Gebüschen herausangeln oder die Büsche einfach so lange kitzeln, bis sie Tränen lachten und die Beeren freiwillig hergaben. Die Pilze rösteten sie dann in der Glut des Feuers. Wenn der Lauf der Sonne sich seinem Ende zuneigte und die Dunkelheit sich über die öde Steppe herabsenkte, erzählte Sarah Toby „ihre" Geschichte vom Labyrinth.

Sie erzählte ihm vom mürrischen Hoggle, von Sir Didymus und seinem Reithund Ambrosius und vom freundlichen Unhold Ludo, der mit seiner Stimme Berge versetzen konnte. Toby kicherte über den Wurm, der Sarah zum Teetrinken einladen wollte und zitterte vor Spannung, als Sarah im Verließ angelangt war. Sarah erzählte auch von Jareth – aber sie berichtete sehr vorsichtig von ihm, als ob sie sich seiner Abwesenheit nicht sicher war. Sie erzählte von seiner Grausamkeit, als sie durch das Labyrinth irrte und er die Zeit zu seinen Gunsten beschleunigte, und von seiner Großmut, als er für sie die Regeln seiner Welt auf den Kopf stellte.

Aber hiervon berichtete sie ihm nicht: von ihren Gefühlen, als sie Jareth im Ballsaal gegenüberstand. Von seiner männlichen Präsenz, die sie in Bann schlug, als er sie zum Tanz in seine Arme zog und von seinen Augen, die bis ins innerste ihrer Seele zu blicken schienen.

Sarah versuchte sich über Jareth klar zu werden. Sie hasste es von seinen Träumen manipuliert zu werden – dennoch: er hatte ihr und Toby aus dem Land der Tränen herausgeholfen und sich restlos dabei verausgabt. Woher wusste Jareth überhaupt von ihrer Not?

Tobys Erzählungen brachten kaum Licht in die Sache. Sie ahnte nur eines – dass Jareth, auch nach all den Jahren, in denen sie kaum an ihn gedacht hatte, immer noch ein Teil ihrer Gegenwart war.

Nachdem des Nachts Stunden verstrichen waren, in denen sie versucht hatte, Jareth einzuschätzen und ihr Problem, nach Hause zurückzukehren, überdacht hatte, teilte sie Toby am Morgen ihren Beschluss mit: „Ich werde mit Jareth reden und ihn für meinen Irrtum um Verzeihung bitten. Ich hoffe nur, er kann und wird uns nach Hause bringen."-„Das wird er sicherlich, wenn er wieder stark genug ist", versicherte Toby ihr.

Das Land der Kobolde wurde immer öder, je näher sie der Koboldstadt kamen. Resignierte Kobolde liefen lustlos umher oder lagen einfach träge und faul in der Sonne herum.

Das riesige Labyrinth lag weit offen vor ihnen.

„Hier habe ich Hoggle kennen gelernt", erzählte Sarah Toby, während sie am Brunnen stand und nach einer Fee patschte. „Aber das war eine Fee!" protestierte Toby. „Bist du schon einmal von einer Fee gebissen worden?" fragte Sarah. Der Kleine schüttelte den Kopf. „Ich schon, also nimm dich vor den Biestern in acht!"

Ohne zu zögern betraten sie das Labyrinth, das der einzige ihnen bekannte Weg zum Schloss am Rande der Koboldstadt war. Sarah begann sich zu wundern, warum sie es einmal als so schwer empfunden hatte. Jegliche Magie schien aus den Mauern gewichen zu sein. Mühelos gelangten sie zu Alph und Ralph, die müde an den Türen lehnten, die sie bewachen sollten.

„Hallo!" begrüßte Sarah sie.

Die beiden schienen jedoch kaum aus ihrer Apathie zu erwachen. „Hmph?" kam es nur müde zurück. „Ach, du bist es, Sarah", gähnte Alph und schaute gelangweilt nach nebenan um zu sehen, ob Ralph schon erwacht war. Ralph lehnte, den Kopf weit im Nacken, an der Tür und versuchte vergeblich gleichzeitig beide Augen zu öffnen.