Dunkle Gänge

Seine Narbe hatte seit 19 Jahren nicht mehr gebrannt. Alles war gut.
„Harry?"
Hermine stieß Harry leicht an die Schulter und weckte ihn.
„Bin ich eingenickt? Der Traum war so schön, ich glaube ich wollte gar nicht mehr aufwachen", erklärte Harry und orientierte sich erst einmal. Er saß im prokatroten Samtsessel des Gryffindor-Gemeinschaftsraumes. Nachdem er Hermine und Ron erzählt hatte, welche Erinnerungen Snape ihm hinterlassen hatte und wie er Dumbledore begegnet war, hatte ihn die Müdigkeit endgültig eingeholt. Und seine Freunde hatten ihm das Nickerchen gegönnt.
„Ich will zu Ginny", sagte Harry.
Auf dem Weg zur großen Halle kamen Ron, Hermine und Harry hektische Personen entgegen. Hermine sah McGonagall mit wehendem Umhang den Gang entlang eilen.
„Was ist los?", fragte Hermine.
„Sie haben alle Verletzten aus der Bibliothek hierher gebracht, das Gebäude dort droht einzustürzen. Es waren Dutzende Verletzte dort", erklärte McGonagall und eilte weiter.
Das Trio betrat die große Halle. Hermine erblickte Poppy, die alle Hände voll zu tun hatte, die Verletzten zu versorgen. Viele Medihexen und Medizauberer waren aus St. Mungo zur Unterstützung herbeigeeilt, anders wären die Verletzten nicht heilbar gewesen. Außerdem mussten über fünfzig Tote aus dem ganzen Schloss weggebracht werden.
Die Halle glich einem großen Lazarett, der Geruch von Blut breitete sich wie Nebelschwaden aus.

„Gehen Sie aus dem Weg bitte, wir müssen hier durch, können Sie nicht draußen warten?", schrie ein Medizauberer die Freunde von der Seite an.
„Harry, da bist du ja!", rief Ginny erleichtert und stürzte sich auf ihn.
„Komm mit, ich muss dir etwas zeigen."
Hermine sah, wie Ginny Harry mit sich an das andere Ende der Halle zog.

„Ron, können Sie mir eben helfen, Hannah Abbot auf die Krankenstation zu bringen, sie ist nur leicht verletzt. Und Hermine, bitte heilen sie doch die Knochenbrüche hier von diesen beiden Jungs, geht das? Wir können jede Hand gebrauchen."

Poppy tat ihr Bestes, um jeden Helfer an die richtige Stelle zu bringen, damit alle versorgt werden konnten. Hermine fühlte sich wie mitten in einem Operationssaal. Sie gab ihr bestes und einige Zaubersprüche später schienen die gröbsten Verletzungen der beiden Schüler geheilt zu sein.
An Hermine vorbei wurden gerade zwei Leichen getragen, auf den Umhängen deutlich das Slytherinwappen zu sehen war. Am Ende waren sie doch alle gleich gewesen, alle hatten gegen Voldemort gekämpft, egal aus welchem Haus sie kamen. Ihr fielen all die Freunde ein, die sie auf dem Weg hierher verloren hatte – Mad Eye, Fred, Tonks, Lupin. Tränen stiegen in ihr hoch. Sie hatte Lupin sehr gemocht, er war immer verständnisvoll mit ihnen umgegangen und hatte stets die richtigen Worte gefunden. In seinem Unterricht hatte sie sich immer wohl gefühlt. Salzige Rinnsale bahnten sich den Weg aus ihren Augen entlang ihren Wangen den Hals hinab. Sie wollte weg hier. Sie wollte es keine Sekunde lang länger ertragen.
Ihre Beine begannen zu laufen, sie rannten und brachten sie zielstrebig aus der Halle. Die Tränen trübten ihren Blick, aber es war egal wohin ihre Beine sie trugen, sie wollte sich nur verstecken, verkriechen in die dunkelsten Ecken Hogwarts. Sie rannte die Treppe hinunter immer tiefer in die düsteren Gänge. Ihr kam der Verbindungsgang zwischen Hogwarts und der Heulenden Hütte in den Sinn. Dort würde sie garantiert Ruhe finden. Immer weiter schien ihr Körper sie durch die dunklen Gänge zu tragen.
Schwer schnaufend hielt sie plötzlich inne. Sie hatte völlig verdrängt, dass genau dort Voldemort Snape hingerichtet hatte. Ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Ihre Füße stoppten nicht, sie liefen weiter, es war, als hätte sie die Kontrolle über Ihren Körper verloren. Vor ihr lag die alte Holztür zur Heulenden Hütte. Sie sah zu, wie ihre eigenen Hände unaufgefordert die schwere Metalltür öffneten. Sie wollte dort nicht hinein, nein, nicht noch ein weiterer toter Körper, es war genug was sie heute gesehen hatte, genug für ein ganzes Leben. Trotzdem bewegte sie sich durch die Tür. Einen kurzen Augenblick hoffte sie, dass Snape bereits weggebracht worden war, doch dann erblickte sie seinen regungslosen Körper genau an der Stelle, wo er Harry seine Erinnerungen überlassen hatte.
Ihr Verstand befahl ihr, sich abzuwenden und das Weite zu suchen, doch irgendetwas in ihr brachte sie näher an ihn heran. Kraftlos sank sie neben ihn auf die Knie. Seine Haut war kreidebleich und eine riesige Blutlache schlängelte sich auf dem Steinboden um seinen Kopf. Wäre das nicht gewesen, hätte man meinen können, er würde friedlich schlafen. Welch sinnloser Tod hatte ihn nur ereilt, dachte Hermine. Er hatte sein ganzes Leben gegeben, um Voldemort zur Strecke zu bringen und dann war er gewaltsam von der Zielgeraden weggerissen worden. Hermines Tränen fielen auf Snapes schwarzen Umhang. Sie hatte ihn immer geschätzt als guten Lehrer, vielleicht als besten, den sie je hatte, mit Sicherheit der einzige, der sie je gefordert hatte. Sie würde nie seine letzten Worte vergessen. Harry sollte ihn noch einmal ansehen, bevor er von dieser Welt ging. In seinen letzten Sekunden hatte er sich nach den Augen von Lily Potter gesehnt. Vielleicht hatte Hermine immer gespürt, dass es tief unter der harten Schale von Professor Snape Leben und Liebe gegeben hatte. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie ihn nie hatte hassen können wie alle anderen. Sie wünschte ihm, dass er seinen Frieden nun endlich gefunden hatte.
Gerade wollte sie sich wieder aufrichten, als sie eine kleine Ampulle, etwa einen Finger groß, neben Snapes Kopf liegen sah. Hatte er hier am Boden noch einen Trank zu sich nehmen können? Sie sah noch einmal auf seine starren schwarzen Augen und hatte das Bedürfnis, sie zu schließen. Langsam legte sie ihre Hand auf seine Augen. Seine Haut fühlte sich kühl aber nicht eiskalt an. Sie schloss Snapes Augenlider und schreckte auf. Hatte das linke Lid nicht gerade gezuckt? Ehe ihr Verstand es ihr ausreden konnte, legte sie ihre Hand an Snapes Hals. Hermines Pulsschlag verdoppelte sich, als sie ein ganz schwaches Pochen gegen ihren Mittelfinger spürte. Bei Merlin, wie konnte das möglich sein?
„Professor Snape, hören Sie mich?"
Hermine verwandelte die kleine Ampulle in ein Kissen und legte es Snape behutsam unter den Kopf. Jede Bewegung würde das Blut aus der Bisswunde weiter zum Fließen bringen.
Sie öffnete Snapes blutgetränkten Umhang. Der Geruch des getrockneten Blutes stieg ihr in die Nase und ihr wurde speiübel. Sie zauberte den Umhang unter Snapes Körper hervor und ließ ihn in die andere Ecke des Raumes fliegen. Snapes Gehrock war wie immer zugeknöpft bis zum Hals. Hermine wollte seine Wunde am Nacken vorsichtig freilegen und öffnete die obersten Knöpfe, als sie eine kleine Wölbung auf der Höhe seiner Brust wahrnahm. Sie tastete darüber und spürte etwas in Snapes Brusttasche des schwarzen Hemdes. Endlich waren genügend Knöpfe geöffnet, um das Objekt genauer zu sehen. Es war eine weitere Ampulle, gefüllt mit einer gelben Flüssigkeit. Das Gefäß sah aus wie das, das Hermine neben Snape am Boden gefunden hatte. Hermine drehte das Fläschchen und entdeckte eine Beschriftung. Deutlich identifizierte sie Snapes Handschrift „Gegengift Nagini". In Hermines Kopf begann es zu pochen.
Schnell, aber mit äußerster Präzision und Vorsicht verwandelte sie das Kissen wieder zurück in die ursprüngliche Flasche und entzifferte die Beschriftung. „Blutbildungsserum" stand dort in schwarzen Tintenlettern geschrieben.
Hatte Snape es trotz großem Blutverlust geschafft zu überleben, weil er das Blutbildungsserum eingenommen hatte? Wollte er die zweite Flasche auch noch leeren und hatte es einfach nicht mehr geschafft? Hermine hatte die Kontrolle über ihren Körper wiedererlangt und ihr Verstand arbeitete exakter als jemals zuvor.
Snapes Körper zuckte plötzlich. Bei Merlin, es bestand kein Zweifel daran, dass er lebte! Hermine schwankte zwischen Panik und Hochgefühl. Gleichzeitig sah es so aus, als würde sich sein Körper ein letztes Mal gegen etwas aufbäumen. Hatte Nagini ein Gift in sich getragen? Sie wusste nicht, ob es richtig war was sie nun tat, aber sie fühlte, dass sie etwas tun musste. Es würde zu lange dauern um Hilfe zu holen und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wen sie überhaupt hätte suchen sollen. Der einzige Experte, den sie befragt hätte, lag regungslos zu ihren Füßen. Zielsicher öffnete sie deshalb die Ampulle und träufelte Snape vorsichtig mit zitternder Hand das Serum in den Mund. Sein Körper reagierte mit weiteren Zuckungen. Sie hoffte, dass genügend Flüssigkeit ihren Weg in Snapes Körper finden würde, um ihm zu helfen, denn er war bewusstlos und sein Schluckreflex würde gewiss nicht funktionieren. Die Tropfen breiteten sich wie Nebel in Snapes Mund aus und sein Körper schien zur Ruhe zu kommen. Hermine wagte kaum zu atmen, als Snapes Augenlider sich nun beide gleichzeitig minimal bewegten. Und dann geschah es, er öffnete die Augen.