Vertrauter Feind

Ich lag gerade gemütlich auf meinem Sofa und war in ein neues Buch vertieft, als es an der Tür klopfte und gleich darauf Eldarion, mein ältester Bruder, eintrat.

"Niamh, was tust du hier?" fragte er mich wütend.

"Was soll ich schon machen? Das was ich immer mache", erwiderte ich und setzte mich auf. Ich legte das Buch weg und schob meine Brille wieder an den richtigen Platz.

"Wir wollten heute alle zusammen zu Abend essen. Hast du das vergessen?" fragte er.

Erst jetzt fiel es mir wieder ein. Heute war Samstag und wir wollten wirklich alle gemeinsam essen.

"Ist es denn schon so spät?" fragte ich erschrocken und sprang auf. Ich lief zu meinem Kleiderschrank und riß ihn auf. Ohne auf Eldarion zu achten griff ich nach dem erstbesten Kleid und schlüpfte hinein. Ich kämmte noch schnell meine Haare durch, steckte sie hoch und lief zur Tür, wo mein Bruder schon auf mich wartete.

Ich war ihm dankbar dafür, denn vor mir bestand wahrscheinlich eine größere Auseinandersetzung mit meinem Vater.

Wir liefen durch die leeren Gänge, so daß mein Kleid hinter mir her wehte. Vor dem großen Saal blieben kurz stehen.

"Bereit?" fragte Eldarion und ich nickte.

Dann öffnete er die Tür und trat hinein. Es kostete mich einige Überwindung hinter ihm her zu gehen, doch immerhin war nur meine Familie anwesend. Dennoch, es waren elf Personen, denn meine anderen Geschwister waren extra mit ihren Familien gekommen.

Ich lief unter dem vernichtenden Blick meines Vaters zu meinem Platz und entschuldigte mich.

"Es tut mir Leid, daß ihr auf mich warten mußtet, doch ich war so in mein Buch vertieft, daß ich die Zeit vergessen hatte."

Ich setzte mich schnell auf meinen Platz neben meiner Schwester Suabien.

"Dann können wir nun endlich anfangen", sagte mein Vater ruhig, doch ich spürte, daß er sehr wütend war und sich nur wegen Arwen zurücknahm. Meiner Mutter war das friedliche Zusammensein bei Tisch sehr wichtig. Streitigkeiten mußten deshalb früher oder später ausgetragen werden.

Die ersten Gänge wurden aufgetragen und niemand wagte etwas zu sagen, bis mich meine Mutter ansprach.

"Was war das für ein Buch, daß dich die Zeit vergessen ließ?"

"Oh, es war ein Buch über den Ringkrieg. Du weißt, daß mir die Geschichten darüber schon immer gefallen haben."

"Ich habe auch schon einige Bücher darüber gelesen, doch mir kommt das alles so unwirklich vor", mischte sich nun meine Schwägerin Dahea ein. Sie war die Frau von Eldarion und saß deshalb auch am anderen Ende des Tisches neben Eldarion. Wenn wir uns unterhalten wollten mußten wir ziemlich laut reden, deshalb hatte Dahea eben mehr zu meiner Mutter, als zu mir geredet, so daß ich bald wieder still an meinem Platz saß, während die Gespräche um mich herum nun immer lauter wurden.

Um sich Gehör zu verschaffen begannen nun auch die Kinder zu schreien. Elnahir und Ilia, mein Neffe und meine Nichte wurden von ihrer Mutter, Dahea, schnell wieder zur Ruhe gebracht.

Ich hatte ein sehr enges Verhältnis zu meiner Nichte und meinem Neffen, wohl auch deshalb, weil sie im Palast wohnten und mich gerne in meinem Zimmer besuchten, denn dort konnte man wunderbar Höhlen bauen und sie mit weichen Kissen auslegen. Wenn ich noch Kekse und Kuchen holte, wollten sie am Abend gar nicht mehr von mir weg.

Gerade als der dritte Gang abgeräumt wurde und der Nachtisch folgen sollte, stand mein Vater auf.

Aragorns Gesicht hatte sich inzwischen verändert. Es lag ein weicher und liebevoller Ausdruck darin, der jedoch nicht mir galt. Ich fürchtete mich schon vor dem Ende des Essens, als er zu reden begann.

"Meine liebe Familie. Wie mir meine Tochter Suabien und ihr Ehemann Rahmni heute Nachmittag mitteilten, wird sich unsere Familie bald vergrößern."

Es folgte ein freudiges Beglückwünschen von allen Seiten. Ich hatte jedoch den Vorteil direkt neben Suabien zu sitzen und nahm meine Schwester in den Arm.

"Das ist ja wunderbar, Sua. Ich freue mich so für euch."

"Danke, Nia. Ich hoffe du kommst uns dann mal öfter besuchen?" sagte sie, doch ehe ich antworten konnte, wurden wir auseinandergerissen, damit auch die anderen Familienmitglieder die werdende Mutter beglückwünschen konnten.

Ich saß lächelnd daneben und konnte es kaum glauben. Ich schweifte mit meinen Gedanken ab und dachte daran, daß ich nun zum vierten Mal Tante wurde. Ich dachte daran, wie Suabien als Kind gewesen war. Sie war nur vier Jahre älter als ich und mit ihr hatte ich mich am besten verstanden.

Stundenlang hatten wir uns manchmal im Palast versteckt, nur um nicht ins Bett gehen zu müssen. Manchmal waren wir in unserem Versteck eingeschlafen und morgens durch die Kälte aufgewacht. Dann trieb es uns immer in unsere dicken Federbetten. Später hatten wir die Nächte in unseren Zimmern verbracht. Wir hatten uns Tausende von Dingen zu erzählen und waren morgens dementsprechend müde. Auch ihre Heirat vor zwei Jahren hatte unser Verhältnis nicht verändert. Wir sahen uns jedoch nicht mehr jeden Tag, dafür schrieben wir uns seitenlange Briefe und machten die Boten, die zwischen Ithilien und Minas Tirith hin und herritten, wahnsinnig.

Ich wurde jäh aus meinen Gedanken gerissen, als jemand mir seine Hand auf die Schulter legte. Ich drehte mich um. Aragorn stand hinter mir und ich mußte mit ihm in sein Arbeitszimmer gehen. Früher hatte ich diesen Raum geliebt. Ich blieb stundenlang in einer Ecke sitzen und sah mir Karten, Urkunden und Dokumente an. Doch jetzt hatte dieser Raum etwas Bedrohliches.

Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, während ich vor ihm Platz nahm. Er blätterte kurz in einigen Akten und sah mich dann an.

"Ich dachte, ich hätte mich vor drei Tagen klar ausgedrückt! Niamh, es ist sehr schön, wenn du viel liest, aber du kannst nicht jedesmal zu spät zum Essen kommen. Auch wenn wir nicht alle anwesend sind, solltest du pünktlich sein. Es sieht so aus, als ob dir deine Familie gar nichts bedeutet."

Ich schluckte. Heute brüllte er mich nicht an, doch das was gerade passierte war noch viel schlimmer. Er machte sich Vorwürfe und ich wußte das. Ich hatte die Leute in der Stadt reden gehört. Sie machten Aragorn dafür verantwortlich, daß ich so komisch war, dabei konnte mein Vater am allerwenigsten etwas für mein Verhalten.

"Ja, Vater. Ich werde versuchen nächstes Mal pünktlich zu sein", sagte ich leise.

Ich hoffte, daß ich für heute entlassen war, doch er stand auf und drehte mir den Rücken zu, um aus dem Fenster sehen zu können.

"Ich möchte, daß du deinen eigenen Weg findest, doch an einige Regeln solltest du dich halten. Wir werden in einer Woche ein großes Fest veranstalten. Es werden sehr viele Würdenträger aus anderen Häusern kommen. Ich bitte dich dort zu erscheinen, auch wenn du das nicht möchtest. Immerhin bist du meine Tochter, Niamh."

Die Worte brannten mir noch lange im Kopf. Auch, als ich später schon im Bett lag. Ich konnte nicht einschlafen, denn sie gingen mir immer durch meinen Kopf. Ich wußte, daß ich es meinem Vater nicht einfach machte, war ich doch schon 19 und hatte bisher noch keinen Verehrer gehabt. Ich empfand das nicht als schlimm, denn Assentia, eine meiner Schwestern war 25 und hatte noch keinen Mann, doch für Aragorn als König und Vater war das ein schlechtes Ansehen.

Wahrscheinlich wollte er versuchen für Assentia einen Mann auf diesem Fest zu finden. Ich verstand nicht, warum sie noch keinen hatte. Ich war mir sicher, daß sie eine der schönsten Frauen in ganz Gondor war, schöner noch als Suabien, Mandline und ich. Vielleicht lag es bei Assentia daran, daß sie sehr eigenwillig war.

Ich rollte mich auf die Seite und horchte nach vertrauten Geräuschen. Wie immer waren die Läden vor meinen Fenstern nur halb geschlossen, so daß die nächtlichen Geräusche der Stadt zu mir drangen. Sie gaben mir das Gefühl nicht allein zu sein, obwohl ich gerne alleine war. Ich haßte große Menschenmassen und Feste, auf denen wildfremde Personen mit mir reden wollten. Doch nächste Woche würde ich mich zusammenreißen müssen und für Aragorn auf dieses Fest gehen. In Gedanken stellte ich mir schon vor, wie ich mich lächerlich machte. Wahrscheinlich würde ich durch meine Eitelkeit meine Brille nicht aufsetzen und gegen jeden Tisch laufen, wichtige Persönlichkeiten übersehen, obwohl sie vor mir standen und mich in irgendwelche Ecken verkriechen. Dafür würde mein Bedarf an Festen für eine lange Zeit gedeckt sein und meine Familie müßte mich auf den anderen Festen mit schlechtklingenden Ausreden entschuldigen.

Ich schüttelte kurz den Kopf um die blödsinnigen Gedanken loszuwerden, doch als hätten sie sich in meinem Gedächtnis eingebrannt, blieben sie.

Sie setzte mich in meinem nächtlichen Zimmer auf und wartete.

Worauf wußte ich nicht, doch irgendwann stieg ich aus meinem Bett und zündete die kleine Öllampe auf meinem Nachttisch an.

Nur mit meinem langen Nachthemd bekleidet öffnete ich vorsichtig die Tür und spähte auf den Flur. Ich leuchtete kurz hinaus, doch alles lag verschlafen vor mir.

Auf meiner nächtlichen Erkundungstour begegnete mir niemand. Es würde einen großen Skandal geben, wenn mich ein Bediensteter oder ein Wachmann sehen würde, doch da ich schon des öfteren nachts durch den Palast geschlichen war, kam ich unbemerkt nach draußen.

Ein kleiner, abgeschiedener Garten, in dem Suabien und ich uns früher immer versteckt hatten. Hinter einigen Büschen gab es eine kleine Höhle.

Mit nackten Füße ging ich zuerst über den Rasen und dann durch die feuchte Erde. Ich quetschte mich in die kleine Höhle und merkte wieder einmal, wie groß ich seitdem geworden war. Früher hatten Sua und ich zusammen in das kleine Loch gepaßt.

Ich blies die kleine Lampe aus und befand mich nun in völliger Stille und Dunkelheit. Der Mond war durch schwarze Wolken verdeckt und nur manchmal tauchte er bedrohlich auf, als wollte er das Unheil voraussagen.

Meine Glieder waren steif und knackten, als ich am nächsten Morgen aus der Höhle krabbelte. Ich mußte mich kurz orientieren, bis ich wieder wußte, wo ich war. Halb blind, da ich meine Brille nicht aufhatte, schnappte ich mir die Lampe und lief zurück in mein Zimmer.

Ich hatte meinem Vater versprochen mich auf Fest zu benehmen und mir, bis dahin nichts zu tun, was Aragorn mißfallen könnte.

Ich mußte mich ziemlich zusammenreißen und ging ihm aus dem Weg, doch ich schaffte es, zu jeder Mahlzeit pünktlich zu erscheinen.

Aragorn merkte von dem nicht sehr viel, da er nicht mit uns aß, doch Arwen lobte mich am Ende der Woche. Ich stand gerade vor meinem Kleiderschrank und wußte nicht, was ich am nächsten Tag anziehen sollte, als sie eintrat.

Die beiden Dienstmädchen verneigten sich vor ihr, so daß auch ich merkte, daß sie eingetreten war.

"Laßt uns bitte alleine", sagte sie zu den Mädchen, die daraufhin eilig verschwanden.

"Ich habe gemerkt, daß du dir Mühe gegeben hast, Aragorn zu gefallen. Leider hatte er sehr viel zu tun und hat es sicher nur im Unterbewußtsein gemerkt." Ich lachte kurz auf. Ja, so war mein Vater. Er sah nur die schlechten Seiten an mir.

"Ich wollte dir eine Freude machen, Niamh", sagte Arwen und schob mich vor den Spiegel. Dann stellte sie sich hinter mich und hielt ein wunderschönes blaues Kleid vor mich.

"Ich habe es mir zu deiner Geburt machen lassen, Niamh. Ich würde mich freuen, dich morgen darin zu sehen."

Ich war sprachlos. Das Kleid war einfach umwerfend. Ich kannte es, denn sie hatte es mir schon öfter gezeigt, als ich sie als Kind bat, von meiner Geburt zu berichten.

"Ich soll es tragen?" fragte ich sie ungläubig.

"Ich möchte es dir schenken, Niamh."

"Oh, danke. Ich weiß nicht was ich sagen soll..." rief ich und nahm sie in die Arme.

Der leichte Stoff raschelte zwischen uns und ließ uns auseinanderfahren.

"Am besten machen wir keine Falten", sagte sie gut gelaunt.

Ich zog mein Kleid aus und das blaue an.

Ich erkannte mich fast nicht mehr wieder. War ich jetzt meine Mutter? Alle sagten, daß ich die gleichen Haare wie sie habe, doch ich fand ihre immer wunderschön. Meine waren dagegen etwas struppig und standen nach dem Schlafen in alle Richtungen ab.

"Du wirst aussehen wie eine Prinzessin Gondors", sagte sie freudestrahlend, während ich mich vor ihr drehte.

Zum ersten Mal freute ich mich ein ganz kleines bißchen auf das Fest, aber nur ein bißchen.