Kapitel 1
„Mr. Ironside? Könnten Sie bitte sofort zum Studio 24 kommen? Wir hatten hier einen weiteren Unfall …"
‚Chief of Detectives' Robert T. Ironside warf den Telefonhörer zurück auf die Gabel. Für eine Sekunde sass er unbeweglich da. Wenn dies ein ‚normaler' Unfall gewesen wäre wie die anderen, die während der letzten Tage hier andauernd passiert waren, so hätte man ihn nicht gerufen: Officer Ed Brown würde ihm das wichtigste berichten, wenn alles wieder rund lief, und dann würde er mit seiner Untersuchung beginnen. Seine Reizbarkeit war bereits berühmt in Hollywood, dafür hatte er gesorgt, folglich hatten die Leute dieser Abmachung erleichtert zugestimmt. Ed, der am Set war, würde normalerweise problemlos fertig mit so einem Unfall. Dass sich Brown nicht selber bei ihm gemeldet hatte, war ohnehin verdächtig. Es führte zu der Vermutung, dass Ed höchstwahrscheinlich in den Unfall verwickelt war. Energisch schnappte sich der grosse Detektiv sein Jackett und verliess das Büro, das ihm für diesen Einsatz zur Verfügung gestellt worden war.
Als er vor Studio 24 ankam, waren Rettungskräfte daran, eine Bahre in ein Ambulanzfahrzeug zu laden.
Ein sehr blasser Detektiv lag darauf, eine Bandage um seinen Kopf. Er trug ein schwarzes Hemd, als ob er selber ‚Zorro' gespielt hätte… aber das konnte doch wohl nicht sein, oder?
„Ed?" fragte Ironside, ohne ernsthaft eine Antwort zu erwarten.
„Er ist bewusstlos", erklärte einer der Sanitäter unnötigerweise.
„Wie schlimm ist es?"
„Wir wissen es noch nicht."
Ironside war sich im Klaren darüber, dass er die Rettungssanitäter ihren Job tun lassen musste. Sein Assistent gehörte so schnell als möglich ins Krankenhaus.
Er drehte sich um zur Filmcrew und den Schauspielern, die herumstanden.
„Was ist diesmal passiert?"
Cyril Rogers, der Regisseur, seufzte. „Ein Seil ist gerissen. Und wir haben erst noch Glück gehabt."
„Sie haben was?! Weil es nicht ihr kostbarer Star war, der verletzt wurde, sondern nur ein einfacher Polizist?!"
Ironsides Donnerstimme jagte jedermann einen Schrecken ein. Das war keine Schauspielerei, sondern ein Mann aus dem wirklichen Leben, der das Temperament, die körperlichen Voraussetzungen und die Macht hatte, jede Drohung wahr zu machen… Und er hatte noch nicht einmal gedroht. Er hatte eine einfache Frage gestellt.
Rogers ergriff die Initiative. „Lassen Sie es mich erklären, Sir! Ihr Leute geht zum Mittagessen. Doug, kümmere dich um deine Kamera. Wir können jetzt sowieso nicht arbeiten."
Sein Blick fiel auf Billy McCarty, den männlichen Hauptdarsteller. Wie Ed trug er ein Zorro-Kostüm. Die Maske hing halb aus seiner Hosentasche heraus. Er war fast ebenso blass wie der Mann auf der Bahre, und er stand offensichtlich unter Schock. „Und jemand soll Billy einen Drink geben", fügte der Regisseur an.
Die Herumstehenden waren mehr als bereit, seinem Befehl nachzukommen.
Lebhaft über die jüngsten Ereignisse diskutierend zogen sie ab.
„Warum trug Officer Brown überhaupt Billys Kostüm?" fragte der Chef ungeduldig.
Eds Aufgabe war es gewesen, den Star des Films zu beschützen. Nach dem dritten ‚Unfall', der dem Zorro-Darsteller während der Dreharbeiten zugestossen war, war nicht mehr zu übersehen gewesen, dass es jemand auf Billy McCarty abgesehen hatte. Zu diesem Zeitpunkt war der Fall Ironside übergeben worden. McCarty war schliesslich ein weltbekannter Superstar, er hatte alle möglichen Auszeichnungen gewonnen, zum Beispiel im letzten Jahr die des ‚Best Looking Man Alive'. Die Publicity, welche im Zusammenhang mit diesem Fall zu erwarten war, rechtfertigte es, den berühmtesten Ermittler der Westküste aufzubieten: Den Chief of Detectives von San Francisco, Robert T. Ironside.
Während er im Hintergrund an der Lösung des Falles arbeitete, hatte er seinen aufgewecktesten Schüler eingesetzt, um die Arbeit vor Ort zu tun. Ed hatte die Filmarbeiten von jeder Szene von ,Angriff auf Zorro' überwacht, ganz besonders die gefährlichen, und deren gab es eine ganze Menge, obwohl natürlich der Stuntman die spektakulärsten davon übernahm. Ironside wusste, dass Ed bisweilen ein Kostüm angezogen hatte, um einen stummen Bösewicht oder sonst eine Statistenrolle zu spielen, wenn er in der Nähe des Hauptdarstellers sein musste. Aber der Chef konnte absolut keinen Grund sehen, weshalb er dessen Kostüm tragen sollte!
„Wissen Sie, wir hatten wieder einen Zwischenfall heute Morgen. Es war draussen, hinter Studio 22, als wir eine Szene vor einem brennenden Stall filmten. Eine brennende Wand brach ein, und Billy wäre getroffen worden, wenn ihn Officer Brown nicht im letzten Moment aus der Gefahrenzone weggezogen hätte. Es ist nichts passiert, aber Billy war ganz schön durchgeschüttelt. Danach hatte er Angst, die Seil-Szene zu drehen. Naja… ich weiss nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, aber Ihr Gehilfe hat eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Billy."
Natürlich hatte Ironside die Ähnlichkeit bemerkt. Ihm war sie allerdings nicht so ausgeprägt erschienen. McCarty war ein gutaussehender, athletischer Vierziger mit stattlich breiten Schultern, während Brown neben ihm eher wie ein schlaksiger Schuljunge aussah. Ein dickes Make-up und wuchtige Kleidung mochten die Unterschiede etwas kaschieren.
„Er könnte sein jüngerer Bruder sein", fuhr Rogers fort. „Er hat ein ähnlich kantiges Kinn… und auf Nase, Augen und Haar kam es nicht an, die waren ja unsichtbar unter Zorros Maske und Hut. Kid - ähm, Officer Brown – ist ein paar Zentimeter grösser als Billy, aber das kam hin. Wir mussten ihn lediglich etwas auspolstern. So beschlossen wir, ihn anstelle von Billy die Szene spielen zu lassen."
„Wie konnten Sie so etwas beschliessen?! Brown war hier, um McCarty zu beschützen, nicht um Filmstar zu spielen!" Ironside war nun wirklich wütend.
Der Regisseur blickte leicht betreten drein. „Wir hatten schon eine Menge Zeit verloren, und wie überall ist Zeit Geld, auch wenn man einen Film dreht. Wir fragten Kid - Officer Brown, meine ich – ob er es tun könne, und er sagte ja. Es hätte ja auch nicht gefährlich sein sollen, nicht wirklich, andernfalls hätten wir den Stuntman eingesetzt. Aber der war nicht verfügbar, weil für heute gar nichts Gefährliches geplant war. Wer hätte denn erwartet, dass ein Seil reissen könnte?"
„Zeigen Sie mir dieses Seil!"
Miteinander gingen sie ins Studio hinein. Oskar-Preisträger Doug Donelly, der Kameramann, sass auf dem Fussboden, die Bruchstücke einer Kamera in den Händen. Er war offensichtlich am Boden zerstört. „Das war meine Lieblingskamera…"
Ironside machte sich eine mentale Notiz. Warum war denn die Kamera kaputt? Aber zuerst wollte er wissen, was genau seinem Assistenten passiert war.
Das zerrissene Seil hing immer noch von der Decke herunter, und es sah irgendwie merkwürdig unschuldig aus.
„Wollen Sie, dass ich es herunterhole?" fragte Rogers.
„Nein, lassen Sie es dort."
Eine Leiter lehnte an der Wand daneben. Ironside benützte sie, um die Rissstelle genau untersuchen zu können.
Als er wieder herunterstieg, sah sein normalerweise attraktives Gesicht finster aus, und eine Zornesfalte erschien auf seiner Stirn.
„Es ist halb durchgeschnitten worden."
„Das haben wir auch vermutet."
„Und was genau meinten Sie, als Sie sagten, Sie hätten Glück gehabt?"
„Also, wissen Sie – Ed sieht zwar fast so aus wie Billy, aber im Vergleich zu ihm ist er ein schmales Bürschchen. Er wiegt mindestens zehn Kilo weniger als unser Star…"
„Eher dreissig!" brummte Doug und stand auf.
Rogers fuhr fort: „Unser Special-Effects-Mann sagte, das Seil hätte sofort nachgegeben unter Billys Gewicht, und er hätte sich möglichweise das Genick gebrochen. Bei Kid – Officer Brown, meine ich – franste es dagegen aus. Ed hatte genug Zeit, um sich auf den Sturz vorzubereiten, und als es dann geschah, rollte er sich ab, um den Schaden möglichst zu begrenzen. Aber dann machte jemand auf der Galerie eine ungeschickte Bewegung und die Kamera fiel auf ihn hinunter. Das war natürlich riesiges Pech für ihn."
„Was ich nicht verstehe ist, warum Brown das Seil nicht kontrollierte, bevor es benützt wurde. Das gleicht ihm so gar nicht."
„Oh doch, natürlich tat er das!" antwortete der Kameramann. „Er bestand darauf, es für McCarty zu kontrollieren. Deshalb steht die Leiter überhaupt hier: Wir mussten sie extra für ihn holen, damit er die ganze Länge des Seils abchecken konnte. Aber Held Billy hatte zuviel Angst und wir beschlossen, ‚the Kid' die Szene spielen zu lassen. Er sollte sich auf die andere Seite der Galerie hinüberschwingen, und es war geplant, dass ihn beim Zurückkommen zwei Helfer auffangen würden."
Ironside stieg auf den Balkon hinauf. Das Seil reichte hinunter bis auf etwas mehr als zwei Meter über dem Boden des Balkons, und natürlich hing es nahe genug, damit man es von dort aus erreichen konnte.
„Ging Ed von hier weg, um sich umzuziehen?"
„Nein, er zog einfach ein Zorro-Kostüm über seine eigenen Kleider an, um etwas breiter auszusehen. Wir waren in Eile, deshalb tat er es gleich hier. Er musste sich auch rasch rasieren, denn am Morgen hatte er noch einen Bösewicht gespielt." Doug zeigte auf einen Einwegrasierer, welcher vergessen in einer Ecke lag, zusammen mit einem Becken mit Wasser und Eds Jackett.
„Wer war hier oben während er das tat?"
„Nur Billy, Doug, die zwei Helfer und ich; es ist etwas eng hier, wie Sie sehen", antwortete der Regisseur. „Oh, und für ein paar Minuten war auch Irene hier, die Verantwortliche für das Make-up. Sie hatte ihre Ausrüstung dabei und brachte Eds Makeup in Ordnung. Doug war noch mit seiner Kamera beschäftigt." Er rieb sich das Kinn. „Sie nehmen doch nicht etwa an, dass einer von uns dem Jungen etwas antun wollte, oder?"
„Alle mögen ‚the Kid', fügte Doug an.
„Schauen Sie sich das Seil an. Es ist durchgeschnitten worden an einer Stelle, die ein grossgewachsener Mann bequem mit einem Messer erreichen könnte", erinnerte Ironside sie.
Donelly war nur gut eins-sechzig gross und Irene noch weniger. Ironside hätte Doug sowieso nicht verdächtigt, nachdem er seine Trauer über die zu Bruch gegangene Kamera gesehen hatte.
Donelly blickte den Regisseur misstrauisch an, der ungefähr 1.85m gross war wie McCarty.
Ironside entging diese Tatsache keineswegs, aber er war kein Mann der vorschnellen Schlüsse. „Haben Sie die Szene auf Film?" fragte er.
„Ja, Sir, natürlich. Wollen Sie sie sehen?"
Ironside nickte. Er folgte Rogers in den Schneideraum.
Die Filmsequenz zeigte einen maskierten Zorro mit jugendlichem Körperbau, der seinen Degen in die Scheide steckte, ein Seil packte und sich flink über das Geländer schwang.
Dann begann das Seil auszufransen. Ed schien es zu bemerken. Er schaute auf. Einen Sekundenbruchteil später verschwand er aus dem Bild, zusammen mit dem Teil des Seils, an dem er sich hielt.
Der Kameramann hatte diese schnelle Bewegung nicht erwartet, deshalb hatte er sie nicht erwischt. Andererseits war deutlich sichtbar, wie das Seil nachgab. Eine Sequenz von verschwommenen, unerkennbaren Bildern folgte, aufgenommen vermutlich, als die Kamera umgestossen wurde. Dann wurde der Bildschirm schwarz.
