A/N: Für alle neuen Leser: Dies ist eine FORTSETZUNG zu meiner letzten Geschichte, "Früchte der Furcht". Obwohl zum Verständnis nicht zwingend notwendig, empfehle ich doch, diese zuerst zu lesen. Für alle anderen, in diesem Kapitel zeige ich euch erst einmal das neue Umfeld und führe mehrere neue Personen ein. (Siehe Disclaimer und A/N am Ende.) Was in steht, ist eine Erinnerung an früher geschehene Szenen.

Ein großes DANKE richte ich an dieser Stelle noch einmal an alle Reviewer zu "Früchte der Furcht", insbesondere jene, die ich schon vermißt hatte sowie die neu Hinzugestoßenen, und ich hoffe, daß ich mit dem zweiten Teil das gleiche Interesse wecken kann wie mit dem ersten. Euer Zuspruch (und Einspruch sowie Widerspruch ^.~) bedeutet mir dabei sehr viel. *^.^*

Disclaimer: Thranduil, König der Waldelben, gehört Tolkien. Da ich ihn hier aber als Vater darstelle, weniger als König, kann sein Charakter von dem im "Hobbit" beschriebenen etwas abweichen (oder zumindest so wirken). ^^" Der Diener Alachel gehört teithol knivez, die ihn ursprünglich für ihre erste Story entwickelte. Ich habe ihn mir bloß ausgeborgt, weil ich eine Nebenfigur brauchte und Ausstrahlung sowie Name des Elben mir zusagten. Wie auch immer, er wollte bei mir keine Nebenfigur bleiben und entwickelte sich daher schnell völlig anders als die Person in knivez' Geschichte. *seufz* Ich bin eben zu nachgiebig. ~_~ Selebist sowie Ivanneth allerdings sind meiner Phantasie entsprungen, und ich bin gespannt, was ihr von ihnen haltet. ^.^

Rating: PG-13 (Ich geb's auf, mir Begründungen dafür auszudenken. ^^")

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Der Name der Macht

Kapitel Eins

Die breiten Galerien auf allen sechs Ebenen wanden sich endlos an den Wänden der riesigen Halle entlang. Man mußte sie nicht umrunden, wollte man nach oben gelangen, sondern konnte durch eines der Ecktore treten und eine steile Wendeltreppe erklimmen, welche enge Kreise vom Boden bis knapp unter die Saaldecke zog. Wenn man es eilig hatte.

Prinz Legolas hatte es überhaupt nicht eilig; statt dessen schlenderte er abwesend gegen den Uhrzeigersinn voran, eine der jeweils zwei gegenüberliegenden breiten Ecktreppen hinauf, dann den Gang entlang zur in der höheren Ebene versetzten nächsten Treppe. Bewußt mied er deren schattige Gegenstücke und hielt sich im weißgelben Licht der künstlichen Sonne, welche in ihrer Halterung dicht unter der Höhlendecke baumelte und das Treiben in der Haupthalle des großen Palastes freudig beschien.

Doch Legolas' Gedanken weilten anderswo, während er die geräuschdämpfenden Wandteppiche musterte, wie man bei der Heimkehr alle nichtssagenden und dennoch tröstend vertrauten Gegenstände betrachtete. So gedankenverloren, überhörte er völlig die eiligen Schritte, welche ihm folgten. Erst, als sein Name dreimal gerufen worden war, hielt er inne und drehte sich um.

Mit langen, würdelosen Schritten holte ein älterer, in eine weißgrüne Robe gekleideter strohblonder Elb zu ihm auf. Wenn man genau hinschaute, erkannte man jedoch, daß es sich dabei nicht um seine natürliche Haarfarbe handelte, sondern das einst strahlende Gold langsam in ein tristes Grau überging. Wenn man genauer hinschaute, sah man auch, daß der lange, schwere Talar ihn beim Gehen behinderte und von oft ärgerlich hineingekrampften Fingern an diesem Morgen schon mehrere Knitterfalten davongetragen hatte. Dann, wenn man ganz genau hinschaute, bemerkte man, daß der Elb größer war, als seine unter der Last des Lebens leicht gebeugte Haltung vermuten ließ, obgleich nicht ganz so hochgewachsen wie der Prinz. Und wenn man es wagte, ihm genauestens in die getrübten, blauen Augen zu blicken, fand man darin einen Jahrhunderte alten Kummer.

Aber so genau traute sich fast niemand hinzusehen.

"Stimmt etwas nicht mit dir, mein Sohn?"

König Thranduil atmete tief ein, um zu verbergen, daß die Rennerei ihn anstrengte. Beruhigend legte er eine Hand auf die Schulter seines Sohnes, wie um zu verhindern, daß er wieder losstürme. Gerade hatte Legolas vor dem versammelten Rat zum x-ten Male berichtet, was mit Ankulans Stamm vermutlich geschehen war und wie es dort zur Zeit aussah. Anders als an den ersten Tagen waren seine Sätze nun präzise und knapp, ließen keinen Raum für Diskussion, und seine Haltung warnte alle Anwesenden, auch nur eine einzige Frage an ihn zu richten. Nach nur einer Stunde hatte sich der Prinz verabschiedet und buchstäblich die Flucht ergriffen.

Es fiel seinem Vater nicht schwer zu erkennen, daß ein Schatten über Legolas' Gemüt hing und nicht weichen wollte, und er wunderte sich kurz, worum es sich dabei handelte. Sicher lag es nicht nur an den nervigen Ratssitzungen und dem idiotischen Unglauben seiner Mitglieder. Auch konnte ihn Ankulans Tod unmöglich so tief getroffen haben, denn er hatte den Freund des Königs kaum gekannt.

Legolas hob den rechten Arm und setzte zu einer Handbewegung an, welche die Finger durch seine langen Haare gezogen hätte. Im letzten Moment bremste er sich, ließ die Hand sinken, hob statt dessen seine herabhängenden Schultern in eine würdigere Position und senkte ehrerbietig das Haupt.

"Nein, Vater. Mein Befinden ist ausgezeichnet", antwortete er steif, mit einem Seitenblick zu den herumschwirrenden Dienern.

Diesen Blick deutete Thranduil ebenso schnell, wie er die vorige Handbewegung ausgelegt hatte: Die Auseinandersetzung mit dem Schatten, was immer es war, erschöpfte seinen Sohn bis an dessen Grenzen, und er weigerte sich, die Schwäche vor anderen einzugestehen. Thranduil hatte seine Kinder niemals gedrängt, ihm ihre Gedanken mitzuteilen, und er würde jetzt nicht damit anfangen. Dennoch begann Sorge sein eigenes Herz zu trüben, da er wußte, daß Legolas mit innerem Streß nur schwer umgehen konnte; und was auch immer ihn belastete – es bewirkte eine Menge Streß.

Sanft drehte er Legolas in das magisch erzeugte, helle Licht. Unter seinem prüfenden Blick sah Thranduil die Anzeichen von Übermüdung, welche die sonst blassen Augen seines Sohnes verdunkelten. Als hätte er seit Tagen nicht geschlafen, obwohl er bereits seit fast einer Woche wieder in der Stadt war.

Der König verlagerte unmerklich sein Gewicht, wodurch er in eine autoritärere Haltung wechselte. "Ich wünsche, daß du dich in deine Gemächer zurückziehst", befahl er leise.

"Ja, Vater." Legolas verbeugte sich leicht und machte Anstalten, dem Befehl Folge zu leisten.

"Dort wirst du schlafen", fuhr Thranduil fort. Dann schaute er sich um. "Alachel," sprach er den in angemessenem Abstand wartenden Wächter heran.

Der hochgewachsene, schlanke Elb näherte sich und verbeugte sich tief. "Eure Majestät."

"Alachel, du begleitest meinen Sohn in seine Gemächer und bleibst bei ihm. Ich will, daß er sich ausruht. Wenn er sich weigert, bestelle den Heiler mit einem Schlafmittel; ich werde ihm den Einsatz erlauben." Mit einem halb drohenden, halb amüsierten Blick traf Thranduil die Augen seines Sohnes, doch statt Entsetzen oder Empörung fand er darin nur stille Akzeptanz, vielleicht sogar ein Funken Dankbarkeit. Als er den Prinzen mit Alachel losgehen sah, beschloß er, den Heiler tatsächlich aufzusuchen.

Legolas war krank.

*******

Zwei Stunden später lag der junge Prinz rücklings auf seinem weiten Bett und starrte amüsiert zum gerade eingenickten Alachel. Der ältere Mann saß zusammengekauert in einem weichen Sessel links neben ihm, mit einem halb gelesenen, dünnen Buch auf dem Schoß, dessen Blätter sich unter dem spielerischen Pusten des überhaupt nicht schläfrigen jungen Mannes wölbten und gelegentlich über Alachels Daumen strichen, ohne ihn zu stören.

So weit Legolas sich zurück erinnern konnte, hatte sich Alachel um ihn und seinen Bruder gekümmert. Seine Frau Lalaith war die Amme der Zwillinge gewesen, zumindest vor Osuldars Tod, und für beide der Mutterersatz, da Thranduils Frau kurz nach der Geburt ihrer Söhne starb. Die eigenen Kinder der Amme hatten Legolas und Osuldar lange als weitere Geschwister betrachtet, weil sie zu fünft praktisch zusammen aufwuchsen. Nach dem Verlust seines Bruders hatte Legolas ihre Anwesenheit allerdings zunehmend abgelehnt, bis Lalaith sich seinem Wunsch gemäß ganz zurückzog und wieder anderen Kindern widmete, vor allem ihren eigenen, welche die entschiedene Zurückweisung stark verwirrte.

Durch die ständigen Ratssitzungen oder anderweitigen Beanspruchungen von seinem Sohn ferngehalten, hatte Thranduil seinen hochrangigsten Wachmann und Jugendfreund beauftragt, sich sozusagen stellvertretend ein wenig des Jungen anzunehmen. Bald nach dem Tod des jüngeren Prinzen, Legolas' einzigem wahren Freund, wurde Alachel zu seinem engsten Vertrauten. Und seit der Abweisung Lalaiths versuchte er auch zunehmend, irgendwie ihre früheren Aufgaben mit zu übernehmen.

Legolas grinste: Sein alter Freund hatte darauf bestanden, ihm aus diesem einst von beiden Kindern geliebten Märchenbuch vorzulesen. Es ging darin um Nixen, und die Sprache war einfach. Doch der Mann war unter Kriegern aufgewachsen, zum Offizier aufgestiegen und hatte sich schließlich, seinen Kindern zuliebe, zur Palastwache gemeldet statt auf dem Schlachtfeld den Tod zu finden. Und so sehr er sich auch bemühte; das Vorlesen lag ihm einfach nicht. Über die Anstrengung war er müde geworden und eingeschlafen.

Seufzend wünschte sich der Prinz, er könnte auch so einfach Ruhe finden, und ließ seinen Blick durch den Raum wandern. Obwohl es nur sein Schlafzimmer war, besaß das ovale Gemach beinahe dieselbe Größe wie das Nebenzimmer, in welchem Legolas Gäste empfing. Dorthin führte die hohe Holztür gegenüber dem Fußende seines Bettes. Dazwischen befand sich lediglich ein weiter Streifen rotbraunen, zottig weichen Teppichs. Überhaupt war der ganze Boden damit ausgelegt, um vor dem ewig kühlen Fels zu schützen.

Links neben der Tür hingen an der Wand seine Waffen, ordentlich und Platz sparend sortiert. Wenn jemand die Tür ganz öffnete, blieben sie dem Eintretenden in jedem Fall verborgen: Das Holz würde in stumpfem Winkel gegen den Kleiderschrank lehnen und zeigte auch schon deutliche Spuren vom jahrhundertelangen zu heftigen Öffnen. Für die abgerundete Ecke neben dem Kleiderschrank hatte der Schreiner extra eine kleine Kommode angepaßt.

Auf der rechten Seite der Tür befand sich Legolas' Schreibtisch in der Form eines breiten Ringviertels; der kleinere Radius war so angelegt, daß er vom Stuhl aus die ganze Fläche bequem erreichen konnte. Nun, zumindest jetzt, da er erwachsen war und längere Arme hatte. Als Kind mußte er sich regelmäßig auf den Stuhl stellen, um an die Wand fassen zu können. Damals hatte er dort noch Bilder und eigene Entwürfe befestigt.

Inzwischen starrte er beim Arbeiten auf einen kahlen Fels, bis auf die beiden Fackelhalterungen, eine neben der Tür und eine weitere rechts, direkt neben dem deckenhohen Regal, welches die ganze restliche Wand einnahm. Das beinahe quadratische Himmelbett, auf welchem er momentan lag, stand kaum einen halben Meter von dem Regal entfernt, so daß der Prinz jederzeit bequem nach einer der unzähligen Schriften aus jeder Zeit und von überall her greifen konnte. Hauptsächlich handelte es sich dabei um Fachtexte aus allen möglichen Bereichen.

In der Ecke zwischen Regal und Bett führte eine weitere, diesmal aber kleine und unscheinbare Tür in sein persönliches Badezimmer. Das Kopfende des Bettes lehnte direkt an der Wand, und linkerhand zierte dieselbe ein weiteres, brusthohes Regal. In jenem befanden sich unterhaltende Werke, welche sich der Prinz seit Ewigkeiten nicht mehr angesehen hatte und nur behielt, um seinen Vater davon zu überzeugen, daß er zu Zeiten auch einmal entspannte. Aus dem gleichen Grund fügte er sogar gelegentlich die eine oder andere grob geschnitzte Figur hinzu, für die er höchstens zehn Minuten Arbeit aufwendete. König Thranduil jedoch lebte in dem festen Glauben, daß solch detaillierte Schnitzereien mindestens eine Woche Aufwand beanspruchten.

Der größte Teil der linken Felswand war ab einem Meter Höhe herausgehauen und durch gläserne Fenster ersetzt worden. Durch diese fiel das helle Licht der künstlichen Sonne Tinu in den Raum, so kurz nach dem Mittag noch in fast blendendem Gelb, welches sich über die flauschigen Teppiche ergoß, ebenso über die nachtblauen Seidenbezüge des Bettes und Legolas' obenauf ruhenden, in einen leichten weißen, nur hier und da leicht grünlich schimmernden Schlafanzug gehüllten Körper.

Müßig verfolgte er die winzigen Staubkörnchen in dem träge wechselnden Licht, bis zuletzt das orangene Feuer nicht mehr genügend Leuchtkraft besaß, sie erkennbar anzuscheinen. Dann ließ er seinen Blick direkt zu der glühenden, stetig flimmernden magischen Kugel gleiten, welche er aus seiner Position unmittelbar betrachten konnte. Das konnte man nur in der sechsten Ebene, wo der Winkel flach genug war. Die unteren Quartiere erreichte, je niedriger, weniger und weniger direktes Licht.

Tinu hing schon seit fast zwei Jahrtausenden unter der Decke und verhielt sich tatsächlich ähnlich den großen Lichtern der Welt: Tagsüber leuchtete sie in einem grellen Gelb, aber zum Abend hin ließ ihr Schein nach und wurde rötlicher. Dieser Vorgang dauerte länger als die normale Dämmerung, weil die Elben sich an der Schönheit des Farbenspieles immer wieder mit gleicher Freude weideten. Schließlich würde Tinu verglimmen, dann plötzlich zusammenfallen und durch eine grellweiße, lautlose Explosion als schwache, grünlich-silberene Leuchte wieder erwachen. Am Morgen verlief das Schauspiel anders herum.

Unter dem Fenster kauerte verschämt eine kleine Couch, von der Legolas beim besten Willen nicht sagen konnte, ob sie bequem war, da er sie so gut wie nie benutzte. Vor der Couch kniete ein niedriger Kaffeetisch, flankiert von zwei Sesseln (welche der Prinz in der Tat für durchaus bequem hielt), deren linken noch immer ein inzwischen behaglich schnarchender Alachel besetzt hielt.

Das Geräusch erinnerte Legolas an seinen jungen Weggefährten. Während den Nächten in jener Höhle war es ihm nicht aufgefallen, weil er sich meist in Schriftrollen verlor und Inuel außerdem ausgestreckt auf dem Rücken schlief. Unterwegs allerdings hatte er entdeckt, daß sein Freund leise schnarchte, sobald er sich zusammen rollte und sein Kopf auf die Brust knickte. Eigentlich war es kein Schnarchen, nur ein gequetschtes Zischen, weil er die Luft in jener Haltung durch einen sehr engen Spalt preßte.

Zusammen mit dem Speichel, was in einer Nacht den Prinzen fast zu Tode erschreckt hatte, als der Junge sich verschluckte, aber nicht aufwachte; statt dessen brach seine Atmung ohne Vorwarnung ab. Zuerst wußte Legolas nicht, warum er aufgewacht war, und er brauchte eine Weile, um die Stille wirklich wahrzunehmen. Schließlich löste er durch eine Ohrfeige einen tüchtigen Hustenanfall aus, wodurch Inuel dann auch kurz aufwachte, irgendwas von Wasser murmelte und wieder einschlief. Erst da hatte Legolas verstanden, daß Inuels Körper automatisch die Luft anhielt, sobald Flüssigkeit in seine Lungen geriet, und fortan ein Extraohr für die Überwachung dieses Geräuschs abgestellt.

Wie hatte er nur siebenhundert Jahre überlebt?

Doch die Enge gefährdete nicht nur seine Atmung: Der Prinz hatte auch festgestellt, daß Inuel bei Neumond sehr unruhig schlief und ein Fleet in solchen Nächten für ihn zur Todesfalle werden konnte, da er sich hin und her wälzte und seine Sinne ihn nicht vor der Kante warnten. Um ihn vor dem Absturz zu bewahren, schlang Legolas letztlich einfach einen Arm um die Taille des Jungen und hielt ihn sicher bis zum Morgen. In jener Nacht hatte er selbst besonders ruhig geschlafen, obgleich er die Dunkelheit des Neumonds verabscheute.

Unruhig erhob sich Legolas von der kaum zerknitterten Decke, öffnete mit einem winzigen Klicken die schwere Holztür, durchquerte blicklos das Vorzimmer zur nächsten Tür an der linken Wand und trat im Morgenmantel auf die breite, lichte Galerie hinaus. Er atmete die überraschend frische Brise tief ein und beschloß, später die Fenster zu öffnen und erst einmal durchzulüften. Seit seiner Ankunft hatte er das nicht getan, was wohl die Ursache für den muffigen Geruch in seinem Gemach darstellte.

Vielleicht sogar die Ursache für das seit Tagen anhaltende beklemmende Gefühl überhaupt. Durch die Felsen des Palastes fühlte sich der junge Elb in letzter Zeit ständig eingeengt – eine völlig neue Erfahrung für ihn. Er spürte den Drang zu gehen, aber so sehr er sich auch bemühte, er fand einfach nicht heraus, welcher Ort ihn anzog.

Er trat bis an die schlanke, steinerne Brüstung und ließ seinen Blick langsam über den inzwischen fast leeren, weiten Boden der Halle gleiten. Grinsend betrachtete er das enorme Gemälde, vor den Abertausenden von Fußtritten geschützt durch einen durchsichtigen Belag, der einmal die Woche gesäubert wurde. Obwohl nun über sechshundert Jahre alt, wirkte das Bild noch wie gerade erst aufgetragen. Es war ein Schulprojekt gewesen, die Halle zu gestalten, und Osuldar hatte die Idee geliefert.

All die Leute, die täglich herkamen – so begründete er logisch – würden sich bestimmt freuen, wenn ihre Dörfer irgendwie gekennzeichnet wären, so daß sie sich sofort mit ihren Waren an den richtigen Platz stellen könnten, und nicht jedes Mal ein heilloses Durcheinander entstand. Außerdem wäre es ein Zeichen des Respekts und der Wertschätzung (diese Begriffe sagten dem Kind zwar nichts, aber weil Legolas sie ihm vorgesagt hatte, verwendete er sie trotzdem), alle umliegenden großen und kleinen Gemeinden sich auf diese Weise im Palast präsentieren zu lassen.

Also – warum nicht eine gigantische Landkarte auf den Boden malen?

Der Vorschlag wurde einstimmig angenommen. Sämtliche Klassen zusammen benötigten fast drei Wochen, um das Werk zu vollenden. Drei Wochen unwirschen, mißbilligenden und neugierigen Murrens der Erwachsenen, die ihren Geschäfte nicht wie üblich nachgehen konnten. Nach den drei Wochen wurden alle Kinder für ihre Leistung ausgezeichnet, und die Vertreter der Dörfer feierten sie für die plötzliche Ordnung auf dem Markt in den höchsten Tönen.

Prinz Legolas grinste noch immer: Die Verkäufer waren Osuldar gleichgültig gewesen wie sonst nichts auf der Welt. Er hatte die Karte benötigt, um den jeweiligen Ausflug für den nächsten Tag zu planen und möglichst zum Abendessen rechtzeitig zurück zu sein, da sein Vater ihm alles Derartige weggenommen hatte. Doch gegen das einmal vollendete Projekt konnte der König nichts unternehmen, als er zufällig von der sechsten Ebene schaute und seinen Fehler erkannte.

Genau in der Mitte der Karte zog sich ein leuchtend blaues Band von einer Hallenwand zur anderen und kennzeichnete so den Waldfluß, welcher Thranduils Reich in zwei Hälften spaltete. Zwar gehörte der Süden bis zum Gebirge (welches der Prinz mit so schlechten Erinnerungen verband) dazu, doch seit einiger Zeit beschränkte sich das direkte Einflußgebiet des Königs nur noch auf die nähere Umgebung des Palastes und den nördlich gelegenen Ortschaften. Nachdem die dunkle Macht von Mordor her immer weiter vorgedrungen war, hatten fast alle Elben ihre Siedlungen verlassen und waren zur Hauptstadt geflüchtet, genauer gesagt zum sicheren unterirdischen Palast.

Bald schon erkannte man, daß der Platz nicht ausreichte, und so gruben und hackten die Stärksten mit Hilfe einer ganzen Horde Zwerge vom Einsamen Berg tiefer in den Fels, legten weite Gänge und abseits gelegene Höhlenwohnungen an, so daß sich der einstige Palast langsam zu einer unterirdischen Stadt entwickelte, deren Bewohner sich auch während einer Belagerung lange wacker halten konnten.

Auf der Karte war all das nicht verzeichnet. Einzig ein gemaltes Tor am Fluß, gegenüber einer Brücke, wies auf den hohen Eingang in der Steilwand hin. Dort, wo der steile Hang abrupt in eine Hügelkuppe, dann in sanft abfallende Waldhänge überging, war das größte Dorf aufgemalt. Eine Handelssiedlung, Hauptknotenpunkt für den Warenaustausch, direkt über Legolas' Kopf, worüber er sich einen Moment amüsierte. Nach Osten hin verstreuten sich einige Handwerksdörfer in regelmäßigen Abständen, und an der Waldgrenze, so wußte er, lagen die Felder bestellenden Gemeinden.

Diese wurden meistens von neuen Familienverbänden gegründet, deren unterirdische Wohnungen für die gewünschte familiäre Nähe zu weit auseinander lagen, sowie von jungen Männern voller Tatendrang, die sich nicht nach dem Schlachtfeld sehnten. Doch es zog auch manche Elben dorthin, denen der Trubel der Stadt und das schlechte Benehmen einiger Schloßwachen zuviel wurden. Das Gesetz bezeichnete die Orte als 'Stadtteile', aber in Wirklichkeit handelte es sich eher um dorfartige Siedlungen, welche mit dem Palast lange nicht so viel Handel trieben wie untereinander. Nach Norden und Westen bot sich ein ähnliches Bild, allerdings schienen die Siedlungen kleiner und viel weiter voneinander entfernt.

Vielleicht befand sich Inuel in einer davon.

Schnell verdrängte Legolas den Gedanken und musterte das vorherrschende Grün genauer. Die unzähligen Baumwipfel hatten einige der älteren Kinder so detailliert gezeichnet, daß man tatsächlich das Gefühl bekam, über das Baumdach zu fliegen und die Kronen leicht im Wind wehen zu sehen. Nach einer Weile hob der Prinz den Blick Richtung West und folgte dem Band des Waldflusses entlang bis zum Fels. Vergeblich suchte er nach der Waldgrenze, doch vor seinem geistigen Auge erblickte er die weite Ebene nördlich davon, das versteckte Tal zwischen ein paar niedrigen Bergen – und darin eine kleine Höhle, welcher keiner der hier lebenden Elben diese Bezeichnung gegönnt hätte.

Legolas seufzte.

Ist das der Ort, der mich anzieht? Aber sein Gefühl schrie nein, und so senkte er den Kopf und begann die Suche nach der richtigen Richtung erneut. Wo will ich hin? Welcher Ort ist es, der mich ruft? Seit Tagen stellte er sich die gleiche Frage, ohne je eine Antwort erhalten zu haben. Wo will ich hin?

"Wo …" begann er zum ersten Mal laut. Vielleicht bekäme er die Antwort nur, wenn er die Frage äußerte. Doch das Ende überraschte ihn selbst: "… bist du?"

*******

"Nein, Selebist, es ist etwas anderes."

Nur allmählich klang das Lachen des Heilers ab, während der Elb den im Vergleich zu ihm noch jungen König betrachtete. Er hatte schon Thranduils Vater und Großvater gedient und erkannte ernsthafte Sorge, wenn er sie in den oft ausdruckslosen Augen sah. Einen Moment studierte er die Haltung seines Freundes, dann hauchte er erstaunt: "Du hast wirklich Angst um ihn."

Obwohl Selebist an alles, was er tat, ernsthaft und gründlich heranging, hielt er die Mitglieder des Herrscherhauses für allgemein verweichlicht, insbesondere den als Kind oft kränklichen Legolas, und erlaubte sich gern ein paar Scherze darüber. Gerade hatte er anläßlich der Beschreibung vom seltsamen Verhalten des Prinzen irgendeine Bemerkung über mangelnde Ausdauer und das Fehlen weiblichen Einflusses von sich gegeben, welche er selbst sehr witzig fand.

Thranduil nicht. Unruhig rutschte der König in einem niedrigen Sessel herum und ließ die durchdringende Musterung über sich ergehen, ebenso wie zuvor die derben Witze, bis der Heiler sich faßte und von einem Moment zum nächsten in seine Berufshaut schlüpfte.

"Du hast doch eine Ahnung, Thranduil. Was, denkst du, ist es?"

"Ich weiß es nicht", gab der König nachdenklich zu. "So komisch war er schon nicht mehr seit … seit …"

Nach einer Weile erkannte Selebist, daß Thranduil nicht mehr überlegte, sondern die Zeit längst festgelegt hatte und lediglich nicht aussprechen wollte. Daher übernahm er es selbst: "Osuldars Tod?"

Der König zuckte sichtlich zusammen, als hätte man ihn geschlagen. Doch sein stummes Nicken bestätigte Selebist die Antwort, woraufhin der Heiler sich gemächlich erhob und ans hohe Fenster schritt.

"Wegen der Zerstörung der Siedlung im Norden?" fragte er.

"Glaubst du?" In Thranduils Stimme schwang etwas wie eine Bitte um Bejahung.

"Nein, nicht wirklich", zerstörte Selebist die Hoffnung. "Ich hab ihn vor dem Rat gesehen, und darüber zu sprechen schien ihm keine Probleme zu bereiten, bis alle anfingen, ihn zu nerven und jedes Detail zu hinterfragen." Mit geneigtem Kopf überdachte er etwas, ehe er weitersprach: "Trotzdem hatte ich den Eindruck, daß er uns irgendwas verschwieg."

Müde erhob sich auch der König und trat zu seinem Freund ans Fenster. Das geräumige Büro befand sich in der dritten Ebene, und er folgte neugierig dem Blick des Heilers, welcher müßig etwas scheinbar Interessantes irgendwo gegenüber und weiter oben beobachtete. Augenblicklich entdeckte er drei Ebenen höher Legolas, auf die Brüstung der Galerie gestützt, der wieder und wieder den Boden absuchte.

"Grrr", Thranduil ballte die Fäuste und machte auf dem Absatz kehrt, "ich hab ihm doch befohlen …" Plötzlich wurde ihm bewußt, was Selebist gerade gesagt hatte. "Verschwieg?" fragte er verdutzt nach.

Auch Selebist wandte sich vom Fenster ab und setzte sich wieder. "Ich habe es nicht als einziger gespürt. Was glaubst du denn, warum alle ihn ständig so löchern?"

"Legolas würde uns niemals etwas verheimlichen, wenn es wichtig wäre", behauptete der junge König und blieb nachdrücklich stehen.

Zustimmendes Nicken vom Heiler. "Wenn er nicht darüber reden möchte, muß es persönlich sein."

"Also gut, wenn das so ist … keine Ratssitzungen mehr. Sie machen alles noch schlimmer."

Natürlich wußte Thranduil, daß er damit das Problem nicht beseitigte, ebensogut wie Selebist – weswegen der Heiler es für unnötig hielt, ihn darauf hinzuweisen. Statt dessen wartete er geduldig ab, bis der König die Tatsache vor sich selbst eingestand und sich mit einer erschöpften Geste in den Sessel fallen ließ.

"Was soll ich tun, alter Freund?"

Ein mitfühlender Ausdruck senkte sich über die alten, gutmütigen Augen. "Du konntest damals nichts tun", erinnerte er seinen Schützling sanft. "Du hast diesmal nicht mehr Chancen. Gib ihm Zeit. Er wird sich erholen."

"Ich will nicht", murmelte der König gebrochen, "daß er sich noch mehr verändert … nicht schon wieder."

Traurige Stille erfaßte den Raum und verweilte für eine lange Zeit, während beide Elben nach einer Lösung suchten, welche sich irgendwo in der Zukunft verbarg … oder in der Vergangenheit. Schließlich schlug Selebist mit solcher Wucht auf seinen Schreibtisch, daß die Gegenstände auf der Oberfläche leicht hüpften und Thranduil um ein Haar an die Decke sprang.

"Die wichtigsten Probleme zuerst", donnerte der Heiler kraftvoll. "Du sagst, er schläft nicht?"

Thranduil nickte eingeschüchtert. Solche Energieausbrüche seines Freundes fürchtete er heimlich, denn ihnen folgte meistens eine Radikallösung direkt auf dem Fuße.

"IVANNETH!" Augenblicklich stürmte ein junger Mann in Legolas' Alter durch die Tür, stolperte dabei halb und fing sich gerade noch ab, während er nach dem Notfall suchte. "Lostadlasguil: mixen, aufbrühen, dem Prinzen servieren, und bleib bei ihm bis er eingeschlafen ist!"

Befangen stand der Elb auf der Schwelle und starrte vom Heiler zum König, wie um den Befehl bestätigen zu lassen. Thranduil nickte und fügte etwas weniger herrisch hinzu: "Schick bitte deinen Vater zu mir und warte bei meinem Sohn, bis ich komme. Ich weiß noch nicht, wie spät es wird."

Eilig verbeugte sich der Heilerlehrling, trat stumm aus dem Raum und schloß die Tür hinter sich. Im stillen Zimmer erwarteten vier feine Elbenohren den erleichterten Seufzer, und als er kurz darauf erklang, kicherten sowohl Heiler als auch König kindisch.

"Daß du ihn aber auch immer so schocken mußt", lachte Thranduil.

Selebist wedelte mit dem Zeigefinger: "Ah ah, wer SO leicht einzuschüchtern ist, hat es nicht anders verdient."

"Ist er so schlecht?"

"Würde ich ihn dann zu deinem Sohn schicken?" konterte der Heiler schmunzelnd. "Nein, Ivanneth ist in der Tat mein bester Schüler, aber er muß lernen, sich durchzusetzen. Stell dir vor, er würde sich vor lauter Scheu nicht trauen, einem Patienten ein lebenswichtiges Kraut einzuflößen, bloß weil demjenigen der Geschmack nicht zusagt."

Nach kurzem Nachdenken sah Thranduil das ein und nickte. "Er ist so anders als sein Vater", meinte er.

"Ach was", winkte Selebist ab, "sie schlafen beide gern bei der Arbeit ein." Er erkannte das verschmitzte Funkeln in den Augen seines Freundes sofort. "Wirst du Alachel hier zur Rechenschaft ziehen? Ich weiß, du wirst ihn auch triezen."

Der König grinste.

*******

Gewissenhaft durchsuchte Ivanneth das Notfallregal und seufzte, als er wie erwartet nicht fand, was er benötigte. Kaum ein Elb hatte momentan Schlafprobleme, weswegen die Zutaten für Lostadlasguil nicht zum Notfallvorrat gehörten. Er würde die Kräuter aus dem Kellerlager holen müssen.

Er beeilte sich die drei Stockwerke nach unten, schritt hastig durch die langen, gewundenen und verzweigten Gänge und bog schließlich zum Kräuterlager ein. Hier fand er die Zutaten schnell, und da er wußte, daß der Prinz schon eine ganze Weile nicht geschlafen hatte, nahm er vorsorglich ein paar mehr Kräuter mit. Nur für den Fall, daß er sie in naher Zukunft noch einmal bräuchte.

Dann packte er noch einige andere Heilmittel ein, von denen der Vorrat oben langsam zuneige ging, und verließ anschließend das Lager. Im Gang erinnerte er sich, daß er seinen Vater zum König schicken sollte – sofort. Allerdings war inzwischen ziemlich viel Zeit verstrichen, so daß Ivanneth in einen leichten Lauf verfiel, um möglichst bald in die Gemächer des Prinzen zu gelangen.

Als er um eine Ecke schoß, überrannte er um ein Haar einen anderen Elben. Sein Tempo hätte beide fast zu Boden geworfen, doch der Kleinere drehte sich im letzten Moment zur Seite und fing den stolpernden Mann auf. Seine Hände auf Ivanneths unbedeckten Oberarmen fühlten sich kühl an, und er schüttelte sie unachtsam ab. Den offenbar jugendlichen Elb würdigte er keines Blickes, drückte ihn grob von sich und fuhr ihn im Weiterlaufen an: "Paß doch auf, du Tölpel."

Ihn störte es gar nicht, daß den Jüngeren keine Schuld traf. Immerhin war er der Heilerlehrling, und Heiler mußten ab und zu in Eile sein, das war doch klar. Alle anderen hatten eben aufzupassen und den Weg zu räumen! Und der Kleine hätte ihn fast von seinem Auftrag abgehalten … Als er den Boden auf sich zukommen sah, hatte er sich für einen Augenblick ernsthaft gefragt, ob er die große Halle und das Quartier des Prinzen noch rechtzeitig erreichen würde.

Wenige Minuten später war der Tee aufgebrüht, und Ivanneth machte sich auf zu seinem Vater und Legolas.

*******

Nachdem Legolas auch mit dieser Frage vergeblich auf eine Antwort von innen oder außen gelauscht hatte, kehrte er der stetig schwächer flackernden Tinu den Rücken und in sein rotgolden erleuchtetes Schlafgemach zurück. Obgleich weiträumig und elegant ausgestattet, mangelte es dem Zimmer an Persönlichkeit. Selbst Legolas sah ein, daß kaum zwei Gegenstände darin etwas über ihn aussagten; weder die verschiedenen Schriftstücke, welche er alle mit gleichem Interesse studierte, noch die Einrichtung, von seinem Vater ausgesucht, oder Andenken und Kleinigkeiten, wie andere Leute sie gern ausstellten.

Die nur zur Beruhigung seines Vaters ausgestellten Figuren und Bücher betrachtete der Prinz nicht als persönlich, da sie lediglich den Schein wahrten. Allenfalls fanden sich zwei oder drei selbstgeschnitzte Kerzenhalter und -ständer auf dem Fensterbrett beziehungsweise in den Regalen und auf dem Schreibtisch, auf welche er wirklich viel Mühe verwendet hatte und die ihm auch etwas bedeuteten. Doch sie paßten alle so perfekt zu den Möbeln, daß sie gar nicht auffielen. Und natürlich seine Waffen, welche er an ihren Wandhaltern hinter der Tür aufbewahrte. Das Amulett, welches sich auch darunter befand, schien Legolas höhnisch auszulachen.

Drohend funkelte er die gravierte Medaille an, doch da sie lediglich belustigt zurückfunkelte, nahm er sie schließlich vom Haken und legte sich wieder auf sein Bett. Er hob sie an den Bändern über seinen Kopf und ließ sie sanft im roten Licht baumeln. Kein Wunder, daß Inuel sie für wertvoll gehalten hat, überlegte er. So schimmert sie tatsächlich wie Gold. Dabei handelte es sich lediglich um einfaches, bemaltes Metall mit dem Wappen seines Hauses und einer Kennzeichnung des Trägers als Botschafter Thranduils.

Als Legolas sie zurückforderte, hatte er Inuel zum letzten Mal gesehen. Das war vor sechs Tagen, und er begann sich zu fragen, ob der Junge diese Aufforderung womöglich falsch verstanden hatte – vielleicht als Befehl, dem Prinzen in seiner Heimatstadt nicht mehr zu nahe zu kommen … Und er bezweifelte, daß dieses Amulett solch ein Mißverständnis wert war.

Am dreizehnten Tag ihrer Reise ließ Legolas seinen Begleiter länger schlafen, da sie noch im Laufe des Vormittags die äußeren Dörfer erreichen würden. An diesem Morgen begann der Junge nicht, wie sonst, zum Wachwerden herumzuspringen, sondern schaute pausenlos wie gehetzt über seine Schulter und hielt sich dicht an der Seite des Kriegers.

Legolas wurde dieser Paranoia bald überdrüssig und suchte gezielt etwas Abstand, sowohl durch Schritte als auch durch Sprache. Wahrscheinlich war es aber die Sprache, welche Inuel letztendlich darauf aufmerksam werden ließ, denn gelegentlich sprach der Prinz geschwollener als die Ratsmitglieder. Mit Bedacht gewählte Worte, die der Junge unmöglich verstehen konnte.

Aber er verstand die Absicht, ließ sich zurückfallen und verharrte gelegentlich für einige Minuten, um sich umzuschauen.

"Na, erkennst du die Gegend schon?" erkundigte sich Legolas in einem dieser Momente, seine Stimme triefend von Sarkasmus.

Inuel nickte, ohne darauf einzugehen; entweder bemerkte er es gar nicht, oder es störte ihn einfach nicht. Dann blickte er leicht am Prinzen vorbei, vom Fluß weg in Richtung Norden. "Da ist ein Dorf", stellte er unnötigerweise fest, denn Legolas hatte die entsprechenden Geräusche schon vor einer halben Ewigkeit vernommen. Schweigend gingen sie weiter bis direkt an den Rand der Ortschaft.

Es handelte sich um eine der abgelegeneren Siedlungen, welche im Westen immer seltener wurden, eigentlich nur eine Niederlassung von Handwerkern, ihren Werkstätten und Wohnungen. Zwar hatte Legolas nicht direkt geplant, dort entlang zu gehen, doch wenn er einmal in der Nähe war, wollte er gern einen guten Freund besuchen. Einen sehr geschickten Schmied, mit dem er sich oft über Modelle und Ausführungen beraten hatte. Vielleicht könnte er von ihm …

"Die Stadt ist nicht mehr weit weg", unterbrach Inuel seinen Gedankengang.

Bei dem leisen Unterton von Unwillen hielt Legolas inne, legte den Kopf schief und kniff leicht die Augen zusammen. "Das stimmt", sagte er langsam.

Inuels Hand fuhr unbewußt an seine Brust und verharrte an einer Stelle knapp über seinem Herzen. "Das heißt dann wohl, du bist zurück", murmelte er, ehe er Legolas durch seine Wimpern anschaute. "Nicht wahr?"

Endlich setzte der Prinz die Stadt, den Satz und die Hand des Jungen zusammen und erinnerte sich daran, was sie vor genau einem Mondmonat ausgemacht hatten. Er trat näher und streckte eine Hand aus: "Das bin ich", bestätigte er fest. "Es wird nun Zeit, daß du mir das Amulett wiedergibst."

Mit gesenktem Kopf fummelte sein Freund das lange Band samt Anhänger unter den lumpigen Stoffschichten hervor, hob es zaghaft über seinen Kopf (diesmal ohne hängen zu bleiben) und hielt ihm die glänzende Medaille hin. Als Legolas sie ihm abnahm, bemerkte er durchaus den Widerwillen, mit welchem der Junge sich von dem unnützen Ding trennte. Aber Abmachung war Abmachung …

"Mach dir nichts draus", tröstete er dennoch, "du hast dafür einen Bogen bekommen."

Einen Moment betrachtete Inuel abschätzig die Waffe, welche er den ganzen Weg über getragen hatte, runzelte leicht die Stirn und nahm den Bogen von der Schulter. Dann streckte er Legolas auch den entgegen, diesmal allerdings wesentlich energischer, so daß der Prinz ihn gerade noch vor seiner Brust abfangen konnte.

"Du kannst ihn behalten", erklärte Legolas nachsichtig, mit hochgezogener Braue.

Der Junge schüttelte den Kopf: "Ich kann ihn nicht brauchen."

Beleidigt gab der Prinz zurück: "Nun, ich kann ihn erst recht nicht brauchen!" Mit einem Hinweis auf seine eigene, viel elegantere und vermutlich auch genauere Waffe.

"Wenn das so ist …" Ohne den Blickkontakt zu brechen, änderte Inuel seinen Griff an dem Holz, bereit, den Bogen über sein Knie zu schlagen.

Legolas drehte ihm demonstrativ den Rücken zu, um ihm nicht die Genugtuung seiner Enttäuschung zu gönnen. "Wenn du ihn zerbrichst", wiederholte er eisig einen vergangenen Satz, gesprochen mit der gleichen Bedeutung unter völlig anderen Umständen, "zerbreche ich dich." Daraufhin gönnte er dem Jungen eine kurze Bedenkzeit.

Als er sich umwandte, war Inuel verschwunden.

Der Bogen lag noch da.

Seither hatte er fast die ganze Stadt und sämtliche Dörfer nach dem kurzhaarigen Jungen ausgefragt, aber niemand hatte solch einen Elben bemerkt, geschweige denn wollte ihn von früher kennen, und wäre Legolas nicht zufällig der Prinz gewesen, hätten ihm sicher viele ins Gesicht gelacht. So aber nahmen sie an, daß der Bengel ein Verbrecher sei, und versprachen, die Augen nach ihm offen zu halten.

Doch Inuel blieb unentdeckt. Als wäre er an jenem Tag im Erdboden versunken, denn nicht einmal Fußspuren hatte der geübte Krieger von ihm entdeckt. Zu Zeiten grübelte Legolas ernsthaft, ob er die Wochen mit seinem Begleiter nur geträumt hatte, aber da hing ja noch der zweite Bogen und erinnerte ihn pausenlos an die Ursache seiner Entstehung.

Über sein Seufzen hätte er das leise Klopfen beinahe überhört. Im letzten Moment wurde er darauf aufmerksam, sparte sich aber die Mühe aufzustehen. Wer auch immer ihn jetzt besuchte, käme wahrscheinlich direkt vom König und würde sowieso eintreten. Tatsächlich öffnete sich kurz darauf die Tür, und ein junger Mann in weißer Tunika – mit zwei senkrechten, roten Streifen auf der linken oberen Brusthälfte – balancierte ein kleines Tablett ins Zimmer.

"Ivanneth", lächelte Legolas wissend. "Haben sie dich wieder geärgert?"

Um ein Haar wäre Ivanneth über seine Füße gestolpert und der Inhalt des Glases auf dem Bett gelandet. "Wo-woher wa-weißt d-du das d-de-denn?" stotterte er, während er das Tablett auf dem niedrigen Tisch abstellte. Dann wandte er sich an seinen schnarchenden Vater: "Wach auf, Ada! Der König will mit dir schimpfen, los, steh schon auf!"

Augenblicklich schoß der ehemalige Offizier aus dem Sitz in Angriffsstellung, komplett mit gezogenem Dolch, zwar noch schlaftrunken, aber definitiv abwehrbereit. Gegen wen auch immer … die beiden Jüngeren suchten vorsichtshalber Deckung.

"Ada!" rief Ivanneth empört von der anderen Seite des Bettes, wo er mit dem Prinzen kauerte.

"Hm? Ah-waaahhhh…" gähnte der Ältere ausgiebig, streckte sich und wischte schnell mit einer Hand über die Augen. Dann entdeckte er die geduckten Jungs. "Was macht ihr denn da unten?" fragte er vorwurfsvoll. "Hast du etwa den Prinzen geweckt, Iv?"

"Nein", antwortete der nur vor Fremden schüchterne Elb, "ich wollte dich wecken, Ada. Aber du schläfst ja wie ein Faultier! Bist eingepennt und hast nicht mal gemerkt, daß der Prinz die ganze Zeit kein Auge zugetan hat. Ein schöner Wächter", endete er die Anklage in einem Murmeln.

"Ist das wahr?" richtete sich Alachel an Legolas und erhielt prompt ein bestätigendes Nicken, ohne Entschuldigung oder Reue. "Also dann, hurtig wieder ins Bett." Das kleine Mißgeschick tat seiner Würde keinen Abbruch, und seine Kommandos kamen so fest wie eh und je. So überwachte er zufrieden, wie der Prinz unter die Bettdecke kroch und artig seinen Tee austrank, bevor er Legolas der Aufsicht seines Sohnes überließ, um sich dem König zu stellen.

Die jungen Männer starrten ihm nach und seufzten erleichtert, als die Tür sich schloß.

"Faultier, huh?" murmelte Legolas, den die schnelle Wirkung der Kräuter mit einem Mal daran erinnerte, daß er seit dem vorigen Morgen nichts gegessen hatte. "Genau …" Es fiel ihm immer schwerer, seine Gedanken zu ordnen; er fühlte sie zunehmend auseinanderlaufen. "… wie …" Irgendwie schmeckten die Mahlzeiten aus der Schloßküche nicht mehr – nicht so wie die von … "… Inuel."

Ivanneth konnte zwar die letzten Worte nicht mehr verstehen, aber es beruhigte ihn, daß er die Kräuter offenbar richtig gemischt hatte, was die sofortige Reaktion des Prinzen bewies. Leise sah er sich im Zimmer um, das er seit seiner Jugend zum ersten Mal wieder betrat, bestaunte vor allem die große medizinische Schriftsammlung, welche von dem karmesinroten Feuerball noch immer ausreichend angestrahlt wurde.

Dadurch kam ihm der Gedanke, daß es zum Schlafen viel zu hell sei. Also zog er leise und umsichtig die beiden schweren Vorhänge vor den hohen Fenstern zu. Anschließend ließ er sich auf die Couch sinken und vom Frieden der Dunkelheit in den Schlaf wiegen.

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"Ich bitte nochmals um Vergebung, Majestät, ich schäme mich wirklich außerordentlich für mein unverzeihliches Betragen …"

"Halt bitte die Luft an, Alachel", verlangte Thranduil Stunden später auf dem Weg zurück zum Quartier seines Sohnes. "Du hast dich jetzt oft genug entschuldigt." Was Selebist und ich aus vollen Zügen genossen haben.

"Keine Entschuldigung kann meine Nachlässigkeit wiedergutmachen", beharrte der Wächter. "Es war der Prinz, der hätte ruhen sollen, nicht ich."

Die Erwähnung seines Sohnes brachte die Sorgenfältchen wieder auf Thranduils Stirn. "Und er hat sich tatsächlich nicht gesträubt?" erkundigte er sich nochmals, ungläubig.

"Nicht mal ansatzweise." Auch Alachel verfiel in einen lockereren Ton, da er selbst die Beunruhigung des Königs teilte. "Sobald wir in sein Zimmer kamen, zog er sich um und legte sich auf das Bett, ohne einen Ton. Er hat mich sogar aus diesem alten Kinderbuch vorlesen lassen. Eigentlich hatte ich den Vorschlag als Scherz gedacht, aber dann schien mir, er hoffe ehrlich, daß ich ihn damit ermüde."

"Das ging nach hinten los", beschwerte sich Thranduil kleinlaut. Er wußte, wie ungern sein Freund las und aus welchem Grund er es trotzdem getan hatte, wofür er sogar dankbar war.

Alachel seufzte niedergeschlagen: "Ich weiß. Hoffentlich bringt die Medizin irgendwas."

Als sie die Gemächer des Prinzen erreichten, stellte Thranduil verblüfft fest, daß das Vorzimmer stockfinster war. Gerade wollte er Alachel befehlen, einige der Kerzen zu entzünden, als er aus Legolas' Raum einen panischen Schrei vernahm. Bestürzt lief er zur Tür, wobei der Hauptmann ihn um Längen schlug. Noch ehe er sie jedoch öffnete, drang ein weiterer Ruf heraus, diesmal tiefer, fragend und definitiv kohärenter als der vorige.

Durch die Tür stürmten sie erneut in totale Finsternis. Alachel hörte seinen Sohn irgendwo zwischen Couch und Bett fluchen, Thranduil hörte von weiter vorne ein empörtes Quietschen und kratzende Geräusche, dann einen weiteren Schrei – wobei ihm das Blut gefror, als er Legolas als die Ursache erkannte – und ein knarzendes Reißen. Kaum hatte er das als den gewaltsam herunter gezogenen Vorhang bestimmt, erhellte plötzlich die nächtliche Tinu die Szene, doch der König entdeckte nichts außer einem tiefschwarzen Umriß. Gleichzeitig ertönte ein noch viel geräuschvolleres Scheppern, darauf in unmittelbarer Folge ein Plumpsen, Tapsen und Klirren und Schleifen …

All das in den wenigen Sekunden, welche Thranduil von der Zimmertür zum Fenster brauchte. Schließlich sprang er über die Holz- und Glassplitter der mit enormer Kraft aufgesprengten Scheiben auf die Galerie, wo Tinu wie ein voller Mond die Umgebung erleuchtete, und hielt im Angesicht des schwarzen Ungetüms inne. Nun, nicht wirklich im Angesicht, denn eigentlich handelte es sich um nichts als einen riesigen Stoffhaufen – ein Vorhang, wie Thranduil feststellte, unter welchem er mit tödlicher Gewißheit seinen Sohn wußte.

Tödlich, weil Legolas gerade über die Brüstung stürzte.

Als der König selbst besagte Brüstung erreichte, lag sein Sohn in einem dunklen Haufen auf den gemalten Wipfeln des Waldbildes. Ungefähr vierzig Meter mußte er gefallen sein, ohne den Sturz kontrollieren zu können, doch falls er sich verletzt hatte, schien er es selbst nicht zu bemerken: Der Stoffhaufen rappelte sich auf und stürmte davon. In diesem Augenblick erkannte Thranduil, daß sein Sohn nicht mehr klar dachte; andernfalls hätte er den störenden Vorhang einfach von seinem Kopf gezogen.

"Legolas!" rief er der wild um sich schlagenden Gestalt zu. Er bekam keine Reaktion. Unter sich entdeckte er schon Alachel, der auf jeder Ebene mehr vom Lärm angelockte Wachen einsammelte und sich Treppe für Treppe abwärts kämpfte, um den verwirrten Prinzen wieder einzufangen. Thranduil holte tief Luft, um noch einmal zu rufen. Abrupt hielt er inne, als sein erster Schrei ein verspätetes, dünnes Echo aus den dunklen Gängen erhielt.

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A/N: *niegelnagelneues selbstgebasteltes Schild zück und grell leuchtende Aufschrift präsentier*

KÜNSTLERISCHE FREIHEITEN

(Danke für den Tipp, Sally. ^.~)

Und zwar Folgendes: Wie groß genau der Palast ist, hab ich nirgendwo gefunden. Bilbo brauchte zwar einige Wochen, um alle Ecken zu erforschen, hat den unterirdischen Bau allerdings nie als "Stadt" bezeichnet, wenn ich mich richtig erinnere. Trotzdem hieß es, in Zeiten der Not biete die Höhle allen Elben Zuflucht … Entsprechend ausgedehnt ist meine Vorstellung. Die Zwergenhilfe kann ich auch nicht beschwören, sie ist sogar eher unwahrscheinlich, aber ich möchte gern glauben, daß sich die Völker früher echt prima verstanden. Die Architektur hab ich ebenfalls frei erfunden, und das Fackellicht war mir einfach zu düster. Ich bitte um Vergebung. ^^"

Ein direkter Widerspruch zu Tolkien sind die Siedlungen: "[Thranduils] Leute schürften weder Metalle und Edelgestein, noch bearbeiteten sie es. Sie gaben sich nicht mit Handelsgeschäften ab und bestellten auch nicht den Boden." Muß das langweilig gewesen sein … Wenn ihr euch jetzt wundert, wovon sie lebten; ich glaube, sie waren so gut wie ständig auf der Jagd. Sicher könnt ihr euch denken, daß wenn ich sowas absichtlich übergehe, die Dörfer später noch eine gewisse Rolle spielen, nicht wahr? ^.~

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Bedeutungen der Elbenworte:

Lostadlasguil = Zusammensetzung, bedeutet "Schlaftee"

Selebist = Zusammensetzung, bedeutet "Kräuterwissen"

Ivanneth = "September"

Tinu = "Stern, Funken"

Lalaith = "Lachen"

Alachel = "Wildbach" (Wie gesagt, den Namen dachte sich knivez aus, und eigentlich hat er keine Bedeutung. Aber aus der Zusammensetzung der Worte für "wild" und "Bach" könnte man diese Form ableiten, und ich finde sie sehr passend für den Charakter. ^^)

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Sämtliche Klarheiten beseitigt? Bitte, dann bestürmt mich jetzt mit Fragen. Ich freu mich schon, ^.^

Eure Mel