Autor: Velence
Titel: Sherlock kennen
Inhalt: Sherlock ist gezwungen, einkaufen zu gehen, natürlich schafft er es nur knapp zu normalen Öffnungszeiten und auch nur, wenn der aktuelle Fall abgeschlossen ist...
Altersfreigabe: ab 12 Jahren
Disclaimer: Alle in dieser Story verwendeten Charaktere und Grundkonzepte sind Eigentum der jeweiligen Rechteinhaber. Sie werden einzig und allein zu Unterhaltungszwecken genutzt. Eine Copyright-Verletzung ist weder beabsichtigt noch impliziert.
Hauptcharakter(e)/Paar(e): John /Sherlock
Kommentar: Für Silverbird!

Sherlock kennen

Kapitel 1 ~ Die erste Zigarette

„Halten Sie hier."

John tat seinen Protest mit einem Seufzen kund. „Sherlock, was wird das?"

„Muss ich dich daran erinnern, was du gesagt hast?", fragte Sherlock beim Aussteigen. Er bezahlte den Taxifahrer, als John grummelnd hinter ihm ausstieg.

„Es ist fast Mitternacht. Weißt du, wie viele Stunden Schlaf ich in den letzten Tagen bekommen habe? Es gibt Menschen, die brauchen Schlaf. Ich will einfach nur in mein Bett!"

Sobald das Puzzle gelöst, der Mörder von Lestrade und seinen Leuten abgeführt worden war und John mit Sherlock ins Taxi nach Hause gestiegen war, verpuffte der Adrenalinkick und Müdigkeit machte sich bei ihm breit. Sherlock hingegen war putzmunter wie und je, vermutlich formulierte er bereits im Kopf einen Bericht von ihrem Fall, den er in Auszügen auf seiner Website veröffentlichen wollte.

Die Kälte ließ John seine Jacke enger an die Körper drücken, während sein Atem sichtbar in der Luft kondensierte.

Sherlock ignorierte ihn und marschierte in die hellerleuchtete Drogerie.

John hatte ihm nach seinem letzen Einkauf eine Standpauke gehalten, die es in sich hatte. Er war furchtbar genervt gewesen, dass er ständig die Einkäufe machen musste, während Sherlock nicht einen Finger krumm machte und sich nicht um die alltäglichen Dinge, wie zum Beispiel Einkaufen, kümmerte. John hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass sie eine Wohngemeinschaft waren und nicht Herr und Diener, aber erst der Mangel an Nikotinpflaster, ohne die Sherlock nicht klar denken konnte, hatte ihn überzeugt.

Sherlock nahm sich am Eingang ein Körbchen und ließ seine Augen über die Regale gleiten. Gähnend trottete John ihm hinterher und fragte sich, warum er nicht im Taxi geblieben und weiter nach Hause gefahren war. Irgendwie war er Sherlock automatisch gefolgt, die Schuld schob er seinem Schlafmangel zu.

„Es gibt Zahnpasta im Angebot", bemerkte John, als er das rote Schildchen entdeckte.

„Deine Zahnpastatube ist zu 80 Prozent gefüllt", erwiderte Sherlock und ging weiter.

„Es gibt sie jetzt günstiger." Trotzig nahm sich John zwei Tuben aus dem Fach und warf sie in Sherlocks Korb.

Sherlock war schon in den nächsten Gang abgebogen, als John ihm hinterher rief, wie Sherlock sich vorher, bevor sie Mitbewohner wurden, ernährt habe, wer ihm die Zahnpasta gebracht habe? Mycroft?

John bekam keine Antwort, reimte sich stattdessen selbst die Antwort zusammen. Sherlock hatte schon vielen Menschen geholfen und bekam vermutlich in diversen Restaurants Essen umsonst, Drogerieprodukte kaufte er sich wahrscheinlich online, obwohl sich John durchaus vorstellen konnte, dass Sherlock Bücher, Fachzeitschriften und Nikotinpflaster selbst kaufen ging. Darüber, wie er das Miniaturlabor in ihrer Küche zusammengetragen hatte, wollte er gar nicht nachdenken, sicher hatte Sherlock einiges im Barts mitgehen lassen.

Sherlock stand nachdenklich vor dem Regal mit Haushaltreinigern. In dem elektrischen Licht wirkte seine Haut noch blasser, aristokratischer mit seinen Wangenknochen und der Nase. Seine Finger trommelten, spielten eine unsichtbare Violine, als wären sie unmittelbar mit seinem Gehirn verbunden.

„Desinfektionsmittel?", schlug John vor. Bei Sherlocks Experimenten sollte man immer etwas Desinfektionsmittel vorrätig haben. Als er wieder keine Antwort bekam, streunerte er allein los. Vorbei an der weihnachtlichen Schokolade nahm er sich eine Packung Lebkuchen und zwei Tetrapacks Eggnog, auf die er plötzlich große Lust verspürte.

Tee war Sherlocks Hauptnahrungsmittel, das er immer im Haus hatte, paradoxerweise war dafür die Milch ständig aus. John kannte inzwischen seinen Lieblingstee und die Marke aus dem Kopf.

„Kaufen wir in Zukunft immer kurz vor Mitternacht ein?", fragte John, nur um festzustellen, dass Sherlock nicht mehr bei den Reinigern war.

Er hatte Sherlock soweit gebracht, ein paar Kompromisse einzugehen; einen Teil der Küche für Lebensmittel freizugeben, nach Möglichkeit, nicht nachts Violine zu spielen oder zu schießen und das Badezimmer nicht mit irgendwelchen Experimenten zu blockieren. Mit dem Kopf im Kühlschrank konnte John leben, ebenso mit Sherlocks Freund, dem Schädel auf dem Kaminsims, sowie seiner mit einem Taschenmesser ausgespießten Korrespondenz und die nackten Füße auf dem Couchtisch – dafür lebte man schließlich in einem Männerhaushalt.

John fand ihn vor den Nikotinpflastern wieder. Er legte die Lebkuchen und den Eggnogg zu den anderen Sachen in den Korb. An seinem Gesicht konnte er lesen, dass Sherlock schmollte.

„Keine große Auswahl", konstatierte John.

„Von denen bekomme ich Hautauschlag", erwiderte Sherlock gereizt.

„Kaugummis?"

„Unbrauchbar." Sherlock schnaubte, wandte sich unwirsch ab und schritt zur Kasse. Er zahlte und packte eilig alles in eine Plastiktüte.

„Es schneit", sagte John überrascht, als sie vor die Tür auf den Bürgersteig traten. Er streckte sein Gesicht gen Himmel, schloss die Augen und ließ ein paar leichte Flocken auf seiner Haut schmelzen.

Sherlock beobachtete das Geschehen. „In Afghanistan sind im Winter vor allem im Norden Schneefälle auch bis in die Täler möglich, du wirst es kaum vermisst haben."

„Nein, Schnee nicht, gewiss nicht." John schaute auf das beleuchtete Schaufenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite. „Allmählich komme ich in weihnachtliche Stimmung, die Musik, die Lichter, der Schnee, das erinnert mich an meine Studienzeit, wir hatten damals viel Spaß mit Eggnogg, Mistelzweigen und Truthahn, aber wenn man solange der Heimat fern ist, schläft zwangsläufig jeder Kontakt ein."

John wandte seinen Kopf zu Sherlock, der seinen nostalgischen Ausbruch nicht kommentierte, und schloss seine Jacke bis zum Hals.

Sherlock drückte ihm die Plastiktüte mit dem Einkauf in die Arme. Er beförderte aus seiner Manteltasche ein Feuerzeug und eine Packung Zigaretten hervor. Er ging zurück zur Tür und stellte sich schützend mit dem Rücken zum Wind, um eine Zigarette anzuzünden.

„Seit wann rauchst du?"

„Seitdem du mir keine Nikotinpflaster mitgebracht hast."

John schnaubte. „Aber Zigaretten kann sich Herr Holmes kaufen."

„Die Zigaretten gehören nicht mir."

Entgegenkommend stellte sich John neben Sherlock, denn der Wind machte jeden Versuch zunichte. Als endlich die Spitze glühte, straffte sich Sherlock und tat genussvoll einen langen Zug. „Ahhhhh", seufzte er befriedigt. „Ich hatte mich fast an die Pflaster gewöhnt. Danke, John."

John schüttelte den Kopf.

Beim Anmachen der Zigarette waren ihm lange Haarsträhnen ins Gesicht gefallen, die ihn listig wirkend ließen, als Sherlock John verschmitzt ansah. Er hob den Glimmstängel an seinen Mund und zog daran, während seine Finger seinen Mund berührten. Sherlock blies eine Rauchwolke durch die gespitzten Lippen aus.

Er hatte eine verstörend snobistische Sexyness inne, die John verwirrte. Um sich abzulenken, trat John an den Straßenrand und sah sich im ausgestorben wirkenden London nach einem Taxi um.

„Gehen wir", sagte Sherlock knapp.

Jetzt fiel John ein, dass die Baker Street nicht weit von hier war, vermutlich hatte Sherlock das mit einkalkuliert, als er das Taxi vor der Drogerie hatte anhalten lassen. Sherlock war wie beim Schach immer drei Schritte voraus und genauso wie beim Schach behielt er seine nächsten Schritte für sich.

Die Kälte hatte John wach gemacht. Er hatte seine Hände tief in die Jackentaschen gestopft. Diesmal störte ihn Sherlocks gehetzter Gang durch das nächtliche London nicht, kaum dass Sherlock seine Zigarette auf dem Asphalt ausgetreten hatte. Hier und da leuchteten Lichterkränze und –ketten in Fenstern. Der Schnee hatte zugenommen und legte sich in einer federleichten, weißen Schicht über alles.

Vor der Haustür angekommen schüttelte sich John den Schnee von Haaren und klopfte ihn von seinen Schultern. Sherlock strich sich gemächlich mit seinen Handschuhen das Weiß von Haaren und Mantel.

John blickte zu ihm, nachdem er fertig war. „Halt still, du hast da etwas auf der Wange", bat er und streckte seine Finger aus. Vorsichtig strichen die Fingerspitzen über die ausgekühlte Haut und entfernten eine lose, schwarze Wimper. Für einen Moment schwebte Johns Hand an Sherlocks Wange, während sein Blick an dessen Lippen haftete, bevor er ihm in die Augen sah.

John wandte sich rasch ab, fummelte den Schlüssel aus der Jacke und ging nach oben in die Wohnung, kaum dass er aufgeschlossen hatte.

„Ich habe Lust auf Eggnogg", erklärte er.

Mit der Plastiktüte, die Sherlock ihm nicht wieder abgenommen hatte, ging John in die Küche.

„Das war... interessant." Finger für Finger löste Sherlock seine Handschuhe nacheinander und streifte sie ab. Der Schal folgte den Handschuhen an seinen Platz im Flur, wo Sherlock seinen Mantel säuberlich aufhängte.

„Willst du auch?", rief John aus der Küche. Er hatte seine Jacke über einen Stuhl gehängt und suchte zwei saubere Gläser aus dem Schrank. „Ah, er ist noch da", murmelte er, als er den Bourbon entdeckte. Er runzelte die Stirn, als er daneben ein Einmachglas mit irgendetwas Menschlichem sah, schnell machte er die Schranktür wieder zu.

„Du ignorierst mich", sagte Sherlock.

„Sherlock, du ignorierst mich die meiste Zeit", antwortete John.

„Du hättest mich vor der Tür fast geküsst."

„Habe ich nicht. Sahne und eisgekühlt wäre jetzt gut." John stellte Sherlock ein Glas Eggnogg mit Schuss auf den Couchtisch.

„Dich stört es, wenn andere wie selbstverständlich davon ausgehen, dass wir ein Paar sind."

„Nur weil wir zusammen wohnen!", unterbrach John verärgert. Er setzte sich in seinen angestammten Sessel vor dem Kamin und probierte einen Schluck. Die Fertigmischung war er gar nicht mal schlecht, auch weil er lange keinen selbstgemachten bekommen hatte, und mit einem Schuss Bourbon schmeckte sie gleich um Längen besser.

„Der Flirt mit Anthea, der Assistentin meines Bruders, war eine direkte Reaktion darauf", fuhr Sherlock ungerührt fort. „Dein Interesse an Sarah ist jedoch echt, allerdings hat du die Nächte bei ihr bisher auf dem Sofa verbracht."

„Woher...?"

„Du bist jedes Mal mit Nackenschmerzen nach Hause gekommen."

„Du magst Sarah nicht sonderlich."

Sherlock schnaubte. Er fuhr mit seiner Deduktion fort. „Du hattest keine Probleme damit, sie um ein Date zu bitte. Das bedeutet, du hast genügend Erfahrung, um mühelos romantische Annäherungsversuche zu beginnen oder jemanden für einen One Night Stand anzusprechen. Und trotz einiger erfolgreicher Dates hattet ihr bisher keinen Sex, nicht aus Desinteresse oder Impotenz-"

„Impotenz?" John funkelte ihn böse an.

„Im Krieg-"

„Genug! Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass deine Kommilitonen dich gehasst haben!", gab John sarkastisch zurück. Sebastian Wilkes, Mitarbeiter bei der Shad Sanderson Investment Bank und Sherlocks alte Uni-Bekanntschaft, hatte ihm das bereits beim ersten Treffen über Sherlock gesagt. John wusste sehr gut, warum Sherlock ein Einzelgänger war; Sherlock eckte überall mit jedem an. Höflichkeit war ein Fremdwort für ihn.

„Über die Jahre hast du wahrscheinlich ein paar Männer getroffen, die dir gefallen haben, aber die Impulse hast du vorsichtig gebändigt."

„Okay, es reicht, Sherlock!" John stand auf, stellte das leere Glas auf dem Kamin ab und starrte ihn genervt an. „Worauf willst du hinaus?"

Sherlock hatte sich bequem aufs Sofa gefläzt. „Du fühlst dich von mir angezogen."

John verschränkte die Arme vor der Brust. „Das Gespräch hatte wir doch schon am ersten Abend im Restaurant."

„Ich erinnere mich", tat Sherlock mit einem gelangweilten Schulterzucken ab.

„Und wenn ich es täte? Wenn ich mit dir flirten würde?", fragte John herausfordernd und kam näher. „Würdest mich abblitzen lassen wie die arme Molly, bei der du so tust, als wüsstest du nicht einmal, wie man Flirten buchstabiert."

Sherlock ließ sich zurück in die Polster sinken und streckte seine Beine über eine Ecke des Couchtisches aus.

„Selbst wenn ich es tun würde, du bist ein kalter Fisch. Dir ist es völlig egal, ob du jemanden mit deinen hochintelligenten Deduktionen verletzt. Du interessierst dich für nichts und niemanden außer deinen mörderischen Puzzles." Mit diesen Worten rauschten John ab, doch schon auf dem Flur bereute er die Worte, die er nicht mehr zurücknehmen konnte.