Gefangene der Angst

Summary: Christine und Raoul gelingt die Flucht vor Erik, allerdings sind sie noch lange nicht in Sicherheit, denn Erik jagt sie.

Ein letztes Mal für Erik singen. Ein letztes Mal - und dann sofort verschwinden. Christine hatte es so mit ihrem Verlobten verabredet und so würde es sein. Sie wusste, dass Raoul mit mehreren Leibwächtern am Bühnenausgang auf sie wartete, es würde für sie keinen Schlussapplaus geben heute, das wäre zu riskant. Sie würde auch nicht in ihre Garderobe gehen, sich nicht umziehen, nicht ihre persönlichen Sachen holen, denn sie wusste, dass Erik hinter dem Spiegel auf sie wartete.

Christine weinte, als sie von der Bühne kam. Sie weinte, weil sie nur zu genau wusste, was sie Erik antat, welche Schmerzen sie ihm zufügte. Raoul deutete ihre Tränen jedoch als Angst, er nahm sie sanft in die Arme und führte sie zu dem kleinen Seitenausgang, wo eine Kutsche mit vier Pferden auf sie wartete. Während sie durch die Oper gingen, wurden sie von sieben bewaffneten Männern eskortiert und hinter der Kutsche warteten deren Pferde. Raoul wollte kein Risiko eingehen und hatte keine Kosten gescheut. Auf der schweren Kutsche befand sich ein großer Koffer, der die notwendige Reisekleidung für beide enthielt, Raoul trug eine weitere Tasche, in der er äußerst präzise Pistolen hatte, außerdem ein Messer an seinem Gürtel, auch wenn er bezweifelte, dass Erik sich auf eine Messerstecherei mit ihm einlassen würde.

Der Kutscher war entsprechend instruiert und die Kutsche raste davon.

Christine weinte immer heftiger.

"Bald ist es vorbei", tröstete Raoul und legte die Arme um sie, "Ich bin bei dir, alles wird gut."

"Ich weiß nicht, ob ich mir je vergeben kann, was ich ihm heute antue!" schluchzte die junge Frau, die immer noch das Kostüm der Marguerite im Büßerkleid trug. Der Vicomte seufzte. Er fand es eigenartig, dass Christine Erik ständig bedauerte, obwohl dieser Mann ein gemeiner Mörder und Entführer war. "Du kannst nichts dafür", tröstete er, "dieser Erik hat sich das ganz alleine zuzuschreiben. Wenn er dich normal behandelt hätte, wäre das alles nicht nötig." "O Raoul, du verstehst das nicht. Ich verdanke Erik doch so viel, er liebt mich und ich verrate ihn", schluchzte die junge Frau. Der junge Mann entschied, dass es besser wäre, nichts zu sagen und zu hoffen, dass sie sich wieder beruhigen würde.

Die Flucht war gut geplant. Sie bewegten sich zunächst auf einer vorgezeichneten Fluchtroute, wobei sie nie mehr als eine Nacht an einem Ort verbrachten, die Kutsche immer noch von sieben bewaffneten Männern begleitet. So reisten sie in einem Zickzackkurs in Richtung Nordosten, um dann die Kutsche und die Wache allein weiter in Richtung Norden zu schicken. Falls Erik ihnen folgte, sollte er die Kutsche verfolgen und so die Spur verlieren.

Nun reisten die beiden Verlobten, verkleidet als einfache Arbeiter, mit dem Zug zurück nach Paris, wo sie vom Comte de Chagny in Empfang genommen und in das Chateau südlich von Paris gebracht wurden.

Christine war von den Strapazen der Reise erschöpft und froh, ein paar Tage an dem selben Ort bleiben zu können.

Der Comte nahm seinen Bruder in sein Arbeitszimmer und fragte ihn eindringlich, was diese Aktion bedeuten sollte. Raoul gestand seinem Bruder, dass er und Christine auf der Flucht vor dem mysteriösen Erik waren, der Christine für sich haben wollte und nun auf Rache sann. "Bruder, das ganze klingt mir sehr nach einem schlechten Roman", ärgerte sich der Graf, "Ich verstehe zwar, dass du deine Sängerin mit dieser Flucht beeindruckst, aber über das Alter für solche Spiele seid ihr beide schon lang hinaus. Um Himmels willen, sei doch vernünftig! Es gibt niemand, der euch verfolgt. Und was soll das alles überhaupt werden?"

"Ich will sie heiraten, das weißt du. Und ich bin mir sicher, dass wir verfolgt werden, dieser Erik existiert, ich habe ihn ja sogar schon selbst gesehen. Er wird uns töten, wenn wir ihm eine Gelegenheit dazu geben, deshalb haben wir ja versucht, ihn nach Norden zu schicken, während wir in Wahrheit wieder Richtung Süden reisen. Ich habe nicht vor, lange Pausen einzulegen. Christine und ich werden ab jetzt eine unvorhersehbare Route nehmen, nicht einmal wir selbst wissen, wo wir wann sein werden, denn ich habe Städtenamen auf Karten geschrieben und wir werden jedes Mal eine einzige Karte ziehen und diese bestimmt dann, wohin wir reisen. Sind wir dort, ziehen wir die nächste Karte. So kann uns keiner folgen, weil nicht einmal wir selbst wissen werden, wo wir am nächsten Tag sein werden." Der Comte ließ sich mit einem Seufzen in seinen Schreibtischsessel sinken. "Und wie lang willst du das durchziehen?" erkundigte er sich, "Du kannst doch nicht den Rest deines Lebens kreuz und quer durch Europa reisen. Und wie wollt ihr bezahlen? Ich bin zwar verpflichtet, dir eine gewisse Apanage zu bezahlen, aber die ist nicht unerschöpflich, außerdem, wie soll ich dir Geld schicken, wenn ich nicht weiß, wo du bist?" "Ich werde immer wieder nach Paris kommen, so werden wir das machen", überlegte Raoul, "Ich glaube nicht, dass Erik damit rechnet, dass wir uns nach Paris zurückwagen, deshalb wird er uns hier nicht suchen."

"Du kannst doch nicht mit einer Sängerin einfach so eine Weltreise unternehmen, denk an deinen Ruf, an den Ruf unserer Familie!" "Auch daran habe ich gedacht. Ich werde sie heiraten, gleich morgen."
"Und wenn ich damit nicht einverstanden bin?"
"Du bist nicht mein Vormund, du bist mein Bruder. Ich heirate sie morgen."
Eine Weile sahen sich die Brüder schweigend an, dann gab der ältere nach. "Auch wenn du verrückt bist, du bist mein Bruder und ich helfe dir. Heirate sie, reise um die Welt, aber beschwer dich nachher nicht bei mir, wenn du so nicht glücklich wirst."

Die Hochzeit war weder feierlich noch romantisch. Das Brautpaar erschien in Reisekleidern in der kleinen Kapelle, wo nur ein Priester und zwei Trauzeugen - der Graf und dessen Gutsverwalter - anwesend waren. Keine Musik, keine Glocken, kein Brautkleid, ja nicht einmal eine Ansprache und selbstverständlich keine Feier. Jegliches Aufsehen war vermieden worden, aus Angst, Erik könnte davon erfahren und die Hochzeit in ein Blutbad verwandeln. Unmittelbar nach der Trauung reisten der Vicomte und die frischgebackene Vicomtesse ab.

Diesmal reisten sie nach Calais, wo sie sich bei nahezu jeglichem Büro, das Schiffspassagen vermittelte, nach einer Passage nach England erkundigten. Sie gingen so weit, dass sie ein junges Paar, beide Arbeiter aus einfachem Hafenarbeitermilieu, dafür bezahlten, dass sie die unter dem Namen "de Chagny" gebuchte Reise nach England antraten. So würde Erik, wenn er ihnen folgte, nach England geschickt, während sie sich in Wahrheit noch in Frankreich befanden und diesmal auf dem Weg in Richtung Süden.

Keiner der beiden konnte die Schönheit Frankreichs im Frühjahr und im Sommer genießen. Ständig wechselten sie die Kutschen, nahmen manchmal den Zug, manchmal Postkutschen, manchmal eine gemietete Kutsche und manchmal eine Kutsche, die der Familie de Chagny gehörte. Nie mehr als ein paar Tage an einem Ort, immer auf der Hut. Keinesfalls nach Einbruch der Dunkelheit das Zimmer verlassen, egal ob sie in einem Gasthof, einem noblen Hotel oder einem der Güter des Grafen de Chagny übernachteten. Tagsüber fühlten sie sich relativ sicher, denn Christine wusste, dass Erik aufgrund seiner Entstellung sich verbergen musste und daher nur in der Dunkelheit reisen konnte. Erik wäre nie in der Lage, einen Zug oder eine Postkutsche zu nehmen, aber ein Pferd würde er wohl auftreiben können. Soweit möglich hielten sie sich tagsüber genau dort auf, wo viele Menschen waren, besuchten Jahrmärkte, Kirchtage, Ausstellungen. Je mehr Menschen, desto besser, denn
Erik würde sich nie und nimmer in eine Menschenmasse wagen.

Aber die ständige Flucht war anstrengender, als sie es gedacht hatten. Besonders Christine litt darunter und Anfang des Herbstes wurde es unerträglich. Ihr war ständig übel, sie musste sich mehrmals am Tag übergeben, wurde immer blasser und schwächer. Raoul zwang sie schließlich, einen Arzt aufzusuchen, da er sich ernsthafte Sorgen um sie machte. Die Sorge war begründet, denn der Arzt gratulierte ihnen zu dem freudigen Ereignis. Christine war schwanger.

Das stellte sie vor ein neues Problem. Wenn sie so weitermachen würden, ständig auf der Flucht, kreuz und quer durch Frankreich, würde Christine das Kind verlieren, sie wäre den Strapazen nicht gewachsen. "Wir haben keine Wahl", entschied Raoul, "Wir brauchen Hilfe. Mein Bruder hat bisher immer zu uns gehalten, ich bin sicher, er wird uns auch jetzt nicht im Stich lassen."

Der Graf de Chagny war entsetzt, als er seinen Bruder und dessen Frau sah. Beide waren in dem halben Jahr merklich gealtert, beide wirkten um mindestens zehn Jahre älter. Raoul hatte abgenommen und es zeigten sich weiße Haare in seinem blonden Schnurrbart, Christine war enorm blass und hatte tiefe, dunkle Falten unter den Augen, ihre Lippen waren schmal geworden. Ihre einst vollen hellblonden Locken waren zu einem strengen Knoten hochgesteckt, um zu verbergen, dass ihr Haar dünner geworden war, durch die ständige Angst und die Strapazen der ununterbrochenen Reise war ihr Haar sehr dünn und glanzlos geworden.

"Mein Gott, was ist denn mit euch passiert?" rief der Graf. "Nichts, uns geht es gut", antwortete Raoul mit einem humorlosen Lächeln, "Aber wir müssen leider deine Hilfsbereitschaft strapazieren. Unsere Flucht muss irgendwo ein Ende finden, wir brauchen eine sichere Bleibe... Wir bekommen ein Kind." "Und da muss wieder der große Bruder als Retter in der Not herhalten, was?" ärgerte sich der Graf, dann riss er sich zusammen und wandte sich an Christine: "Entschuldige. Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch, ich freue mich wirklich für euch, aber, bitte versteh mich nicht falsch, meine Liebe, so kann das wirklich nicht weitergehen."

"Da sind wir alle einer Meinung", stimmte Christine zu, "Ich weiß, dass wir hier nichts verlangen können, aber eine Bitte würdest du doch anhören?"

Der Graf lächelte, als er antwortete: "Nicht nötig. Ich warte schon länger darauf, dass ihr eure völlig verrückte Flucht irgendwann satt habt. Ich verstehe wirklich nicht, wie ihr so paranoid sein könnt." Er griff in die Schreibtischschublade und zog ein paar Zeitungen hervor, die er seinem jüngeren Bruder in die Hand drückte. "Eure Flucht ist seit mindestens drei Monaten völlig überflüssig. Das Phantom ist in der Oper zurück und aktiver denn je. Ich glaube nicht, dass er gleichzeitig hinter euch her jagen und in der Oper sein kann. Wenn euer mysteriöser Verfolger tatsächlich das Phantom der Oper ist, dann hat er schon im Juni die Jagd aufgegeben. Ihr beide seht ja Gespenster!"

Verblüfft blätterten Raoul und Christine die Zeitungen durch. Bei einigen Artikeln merkte Christine an, dass das auch ganz normale Unfälle sein konnten, wie sie ständig vorkamen, aber einige der Ereignisse waren so merkwürdig, dass sie sich sicher war, dass Erik dahintersteckte. Erleichtert atmete sie auf, zum ersten Mal seit sie vor Erik geflohen war. Sie war sich sicher, dass Erik sie gejagt hatte, aber wenn er seit Juni in der Oper war, dann musste er es sich aus irgendeinem Grund anders überlegt haben. "Ich hätte nie gedacht, dass Erik aufgeben würde", seufzte sie, "Vielleicht will er uns nur in Sicherheit wiegen? Wir müssen wieder fort von Paris!"

"Auch das habe ich erwartet", antwortete der Graf, "Und mir wäre es wirklich Recht, wenn ihr euren Spleen nicht hier auslebt. Ich habe ein Chateau in Südfrankreich, dazu gehören ausgedehnte Ländereien. Das stelle ich euch gern zur Verfügung, mit allem drum und dran. Wenn du dich als Verwalter dort nützlich machen willst, wäre es mir sehr recht." "Ich hab keine Ahnung..." begann Raoul, dann hellte sich sein Gesicht auf und er fuhr fort: "Aber ich kann es ja lernen."

Christine streichelte nachdenklich ihren Bauch. Seit sie wusste, dass sie schwanger war, machte sie das unbewusst öfter. "Aber wenn er uns dann doch findet?" gab sie zu bedenken. Wieder war es der Graf, der mit einer Idee kam: "Auch daran habe ich gedacht. Wenn es euch so wichtig ist, stelle ich euch einen Leibwächter zur Verfügung. Der Mann ist wirklich gut, ein ehemaliger Soldat, der weiß, wie man ein Lager absichert vor Angriffen. Er ist bereit, euch hinzubringen und dort für eure Sicherheit zu sorgen."

Der Graf läutete einem Diener und sagte, er solle doch bitte Pierre Bertrand holen. Wenig später ging die Tür auf und drei riesige struppige Hunde streckten ihre Nasen zur Tür herein. Hinter den Hunden stand ein hagerer Mann mit einem struppigen grauen Bart, einer scharf geschnittenen Hakennase und einer Augenklappe über dem rechten Auge. Als er den Hut zog, wurde sein kahler Schädel sichtbar und eine scheußliche Narbe auf der linken Schädelseite, außerdem fehlte das halbe linke Ohr.

Der Mann vollführte eine vollendete Verbeugung, sagte aber nichts. "Das ist Pierre Bertrand", stellte ihn der Graf vor, "Am besten, Sie stellen sich selbst vor?" "Über mich gibt es nichts zu wissen", meinte der Angesprochene, "Ich heiße Pierre Bertrand, war früher Soldat und bin ein alter Kämpfer, nicht mehr und nicht weniger." "Sie müssen es aber nicht mit einem gewöhnlichen Angreifer aufnehmen", sagte Christine ernst, "der Mann ist ein Genie." "Auch ein Genie entgeht nicht den Nasen meiner Hunde", erwiderte Pierre nicht ohne Stolz und tätschelte einem der Hunde den Kopf, während ein anderer Hund zu Christine lief und ihr aufs Kleid sabberte. Pierre zog den Hund rasch am Halsband von ihr weg und entschuldigte sich, es sei noch ein junges Tier, das sich noch nicht zu benehmen wüsste. Christine mochte Hunde und fand es nicht schlimm.

"Stört es Sie, wenn ich rauche?" fragte Pierre und zog ein Zigarettenetui hervor. "Nein, gar nicht, aber bitte nicht zu nah bei der Vicomtesse", antwortete Raoul besorgt. Pierre brummte irgendetwas Unverständliches in seinen Bart, ging zum Fenster, öffnete es, lehnte sich lässig an die Fensterbank und zündete seine Zigarette an. Die Hunde legten sich zu seinen Füßen auf den Boden.

Eine peinliche Stille trat ein, während Pierre Rauchwölkchen demonstrativ zum Fenster hinaus blies. Schließlich war es Pierre, der das Schweigen brach: „Etwas mehr muss ich über den Feind schon wissen." „Was wollen Sie wissen?" gab Raoul die Frage zurück. „Alles."

„Also gut", begann Christine und setzte sich in einen Polstersessel, „Sein Name ist Erik, ob das sein richtiger Name ist, weiß ich nicht, aber er nannte sich eben so. Er ist groß, etwas größer als Sie und sehr dünn, fast bis zum Skelett abgemagert, seine Schultern sind viel schmaler als Ihre. Das Auffälligste ist sicher, dass er keine Nase hat und überhaupt aussieht wie eine ägyptische Mumie, die zum Leben erwacht ist." Pierre zog die Augenbrauen hoch. „Das ist ein Scherz?" fragte er erstaunt. „Nein, kein Scherz!" beharrte Christine, „Er sieht wirklich so aus. Aber das ist nicht alles. Er… um ehrlich zu sein, wir sind auf der Flucht vor dem Phantom der Oper."

Einen Moment lang starrte Pierre Christine erstaunt an, dann brach er in schallendes Gelächter aus. „Das ist gut! Das ist wirklich gut!" rief er, immer noch lachend, „Ich lach mich schief, das ist der originellste Streich, den mir je jemand gespielt hat." Dann sah er, dass die anderen drei ernst blieben. Er räusperte sich und sagte: „Kein Scherz? Sie – Sie meinen das wirklich ernst? Ich glaubs nicht… das ist tatsächlich Ihr Ernst!"

„Leider", seufzte Phillippe, „Leider ist das nicht lustig." „In dem Fall bitte ich um Entschuldigung", antwortete Pierre verlegen, „Ich war absolut sicher, dass Sie sich einen Scherz auf meine Kosten erlauben. Das klingt einfach zu unglaublich. Bitte fahren Sie fort, ich weiß so gut wie nichts über das Phantom der Oper."

Christine, die schließlich am meisten wusste, setzte ihre Schilderung fort: „Das Phantom, also Erik, ist ein Genie und er kann Dinge, die sonst keiner kann. Er geht durch Wände und durch Mauern, er hört Dinge die im Büro passieren, wenn er im Keller ist, er ist überall gleichzeitig und es gibt nichts, was ihm verborgen bleibt." „Und doch konnten Sie vor ihm fliehen", bemerkte Pierre, „Also ist er kein echter Geist." „Nein, nein er ist ein Mann", beeilte sich Christine zu versichern, „Aber er weiß so viel und kann so viel. Ich weiß nicht, wie er das macht, aber er kann sich in der Nacht regelrecht unsichtbar machen und dann ist er plötzlich da… Er kann überall raufklettern, als ob er fliegen könnte, er kann… er kann Leute verschwinden lassen… Ich habe solche Angst!"

Pierre drückte seine Zigarette am äußeren Fensterbrett aus und nahm sich eine neue, die er sogleich anzündete. „Er ist ein geschickter Mörder, ist es das, was Sie mir sagen wollen?" fragte er. Christine nickte, zog ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase. Pierre fuhr beinahe sanft fort: „Aber er hat ein Handicap: sein Aussehen, er kann sich nicht unbemerkt in der Öffentlichkeit bewegen." „Nachts schon", gab Raoul zu bedenken.

„In Ordnung. Und meine Aufgabe wäre?" fragte Pierre. „Das, wovon Sie mir erzählt haben", antwortete Phillippe, „Sie sagten, Sie waren Soldat in der Fremdenlegion. Sie haben Angriffe und Kämpfe aller Arten überlebt, Sie wissen, wie man umgeben von Feinden überlebt. Sorgen Sie dafür, dass mein Bruder und seine Frau sicher ins Chateau in Südfrankreich kommen und verwandeln Sie das Chateau in eine uneinnehmbare Festung." „Festungsbau ist nicht meine Spezialität", brummte Pierre, „Aber im Davonlaufen bin ich ganz große Klasse. Ich sag Ihnen, warum ich noch am Leben bin: weil ich ein Feigling bin und alles zu tun bereit bin, was ich tun muss, um zu überleben. Meine Aufgabe war stets, das Basislager zu bewachen und den Rückzug zu decken."

„Ganz so ein Feigling sind Sie nicht", widersprach Phillippe freundlich. „Woher willst Du das wissen?" fragte Raoul, der absolut nicht überzeugt war, dass dieser seltsame Söldner Christine beschützen könnte. „Weil er mir das Leben gerettet hat", antwortete Phillippe schlicht, „Ich war auf dem Heimweg, allein, zu Fuß, als zwei Männer mit Messern auf mich losgingen. Pierre hat sie beide überwältigt und mich gerettet. So haben wir uns kennen gelernt."

„Ich bin arbeitslos und habe außer meinen Hunden niemand und nichts", brummte Pierre, „Wer sollte einem alten Soldaten wie mir Arbeit geben? Wenn der gute Comte de Chagny mich nicht eingestellt und fürs Nichtstun bezahlt hätte, wäre ich immer noch in der Gosse. Ich bin ihm zu Dank verpflichtet und werde es auch mit einem Phantom aufnehmen, wenn es sein muss. Ich glaube ja, dass Ihr Phantom nicht halb so gefährlich ist wie Sie glauben und nicht einmal einen klitzekleinen Bruchteil so gefährlich wie Rebellen, aber wenn Sie mich als Wachhund wollen, stehe ich zur Verfügung."