Teil I – Der Irrkönig naht
"Fürchtet Euch, bald ist's so weit!
Ein Schatten der Vergangenheit
verflucht und jährlich neu geborn'
es ist der finstre König Thorn!
Aus seinem Reich steigt er empor
so leiht ihm wieder Euer Ohr
und tut stets das, was er Euch sagt
Sonst statt Kopf Ihr bald 'nen Kürbis tragt!
Er bringt uns Spuk und Schabernack
so zieht Euch an Kostüm und Frack!
Denn schon beim nächsten Glockenschlag
Hört, es ist Irrkönigstag!"
"Du willst mir doch nicht erzählen, dass du das auswendig gelernt hast?"
"Natürlich. Wir mussten das Gedicht früher immer aufsagen, sonst gab es keine Süßigkeiten. Außerdem waren das nur die ersten drei Strophen."
Denngar klappte beinahe der Kiefer nach unten. "Das alles für ein bisschen Süßkram?"
"Ach, komm schon. Welches Kind freut sich denn nicht über Süßigkeiten?" entgegnete Miranda. "So etwas ähnliches gab es bei euch Norn doch bestimmt auch."
"Nicht wirklich. Manchmal, wenn wir bei der Jagd geholfen haben, durften wir vom Honigtopf naschen." erzählte der Norn. Miranda kicherte, als sie sich den kleinen Denngar vorstellte, wie er in den Honigtopf griff.
"Einmal hat mir mein Onkel sogar eine Flasche Met gegeben."
"Dein Onkel hat dir Met gegeben? Als Kind?" fragte Miranda schockiert. "Und dann?"
"Ich wollte nie mehr etwas anderes zu trinken." lachte er. "Aber mein Onkel wusste, wann ich genug hatte. Er meinte, ich sollte es in meinem Alter noch nicht übertreiben. Die Wahrheit war, dass er Angst hatte, wir würden ihm den ganzen Met wegtrinken."
"Ich war vierzehn, als ich das erste Mal Wein probiert habe. Ich mochte ihn nicht, weil er mir nicht süß genug war. Dann hab ich... Meine Güte, war mir das peinlich." sagte Miranda unsicher.
"Komm schon, erzähl. Ich werd's niemandem sagen, versprochen." drängte Denngar gespannt.
"Na gut. Ich hab Zucker in den Wein gekippt. Bis obenhin. Danach war mir speiübel. Das schlimmste ist, dass Faren bei dem Bankett dabei war. Er erinnert mich noch heute gern daran..."
Denngar versuchte angestrengt, nicht zu lachen, doch dabei bekam sein Gesicht fast die selbe Farbe wie Mirandas Haare.
"Alles in Ordnung? Vergiss nicht, Luft zu holen."
Denngar holte tief Luft. "Nein. Mir gehts gut. Tolle Geschichte." keuchte er. Fast wäre er in Gelächter ausgebrochen. Er wollte nicht, dass sie es ihm übel nahm, auch wenn sie das vermutlich nicht getan hätte. Sie lachte häufig über sich selbst. Und über Denngar, aber sie meinte es immer gut. Ein wenig Humor und Optimismus konnten nie schaden.
"Ach ja, ich freue mich schon auf die ganzen tollen Kostüme der anderen." sagte Miranda fröhlich. Denngar seufzte.
"Ich verstehe noch immer nicht, warum ihr euch alle verkleiden müsst... habt ihr Angst, dass der Irre König Euch sonst heimsucht?"
"Oh, nicht nur das, mein Lieber. Es heißt, dass ihm einst sämtliche Geister aus seinem Reich des Wahnsinns nach Tyria gefolgt sind. Also hat sich jeder verkleidet, um nicht aufzufallen oder um die bösen Geister sogar zu vertreiben!" erklärte sie, ganz in ihrem Element.
"Aha. Und was hat es mit den Süßigkeiten auf sich? Und diesem furchtbaren... Zuckerkorn?" fragte er schaudernd.
"Du magst es doch nur nicht mehr, nachdem du dich letztes Jahr damit vollgestopft hast!"
"Ich hab nun mal große Hände! Und ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass das Kolben waren."
"Zehn Kolben auf einmal. Ich bekomme nicht mal einen davon runter, ohne vorher satt zu werden. Außerdem waren die eigentlich für die Kinder... Naja, das heißt, dieses Jahr bleibt mehr für mich. Auch wenn ich auf meine Figur achten sollte..."
"Du hast doch kaum was auf den Knochen!" meinte Denngar.
"Für Norn-Verhältnisse vielleicht..."
"Fang nicht schon wieder damit an."
"Ich weiß, ich weiß... alles nur Muskeln." sagte sie zwinkernd.
"Na schön. Du hast gewonnen. Ich habs ja nicht so gemeint, du bist perfekt, so wie du bist!"
"Ach, wirklich? Na dann warte nur, bis ich mein Kostüm an habe... Bin gleich wieder da."
Es dauerte nicht allzu lange, bis Miranda sich umgezogen hatte, doch Denngar nutzte die Zeit, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Es war bereits kurz nach Sonnenuntergang und die ersten Kinder waren bereits auf den Straßen, um in ihren Kostümen Leute zu erschrecken und um Süßigkeiten zu betteln. Denngar mochte Götterfels. Aber ihm fehlten die Berge und der Schnee.
Auf Mirandas Schreibtisch lag ein auffälliges Buch mit grünem Einband. Denngar hatte das Buch schon einmal gesehen, vor vielen Jahren. Es zeigte zwei dreieckige Augen und einen gezackten, lachenden Mund. Die Memoiren des Verrückten König Thorn. Das Gesicht des Irrkönigs war von einem leichten, pulsierendem Licht erhellt. Denngar entschied sich, das Buch einmal genauer anzusehen und streckte die Hand danach aus. Plötzlich entflammten die Augen auf dem Buch und blickten ihn böse an. Er schreckte zurück und rieb sich die Augen, um sich zu vergewissern, dass er nicht einfach nur müde war und halluzinierte. Das Buch zuckte unruhig auf dem Schreibtisch, als wolle etwas im Inneren herausbrechen. Denngar fühlte sich wie von einer unsichtbaren Kraft zu dem Buch hingezogen und seine Hände schlugen von ganz alleine die Seiten auf. Mit einem lauten Brüllen und einem unheimlichen Gelächter öffnete sich das Buch und aus der Dunkelheit stieg der Wahnsinnige König Thorn mit seinem brennenden Kürbiskopf hervor. Er packte den Norn am Kragen und zog ihn mit sich hinab, während sich das Buch hinter ihnen wieder schloss.
"Willkommen zurück, Kommandeur! Habt Ihr mich vermisst? Hahaha!"
"Was soll das, Thorn? Warum bin ich hier?" fragte Denngar wütend. Vielleicht zu wütend. Thorn starrte ihn grimmig an und schien jegliches Licht, das in seinem verdrehten Reich des Wahnsinns schien, zu ersticken. Sein Kürbiskopf flammte in einem riesigen Inferno auf und der Irrkönig wuchs zu einer Größe an, mit der er Denngar zwischen den Fingern hätte zerquetschen können.
"Redet man so etwas mit einem KÖNIG? Hast du etwa deinen RESPEKT verloren, Denngar?"
Denngar sah sich in seiner Situation machtlos. Es war vermutlich weniger gefährlich, einen Altdrachen zu verärgern, als den Irrkönig Thorn. Besonders, wenn man sich in seinem Zuhause befand. "Verzeiht, Eure furchteinflößende Hoheit." entschuldigte er sich und verbeugte sich tief.
"Ahahaha! Hahahaha! Köstlich! Der mächtige Kommandeur, Schrecken der Altdrachen, verneigt sich vor mir. Die alten Echsen sind bestimmt grün vor Neid! Ehehehe!"
Denngar rollte die Augen. Wenn jemand einen furchtbaren Sinn für Humor hatte, dann der Irrkönig. Aber Denngar hatte eine wichtige Lektion über die letzten Jahre gelernt, wenn es um den Irrkönig und seine Witze ging. Einfach lachen. Also lachte er lauthals. Er verstummte augenblicklich, als Thorn ihm eine riesige Klinge an den Hals hob. "Hab ich gesagt, dass du LACHEN sollst? Du lachst, wenn ich es SAGE!" brüllte er so zornig, dass sich seine geisterhafte Stimme beinahe überschlug. Denngar nickte nervös. Er atmete auf, als Thorn die Klinge senkte. Nur, um sie sofort wieder zu erheben. "Ha, erwischt! Hahaha!"
Diesmal lachte Denngar nicht. Egal, was man tat, es passte dem König nicht.
"Warum denn so ernst? Vielleicht solltest du die Situation mit etwas mehr Humor nehmen. Wie wär's mit GALGENHUMOR?"
Ehe sich Denngar versah, steckte er Hals über Kopf in der Klemme. Besser gesagt mit dem Hals in einer Guillotine. Er schluckte, als er das blutbefleckte Beil über sich sah. "WAS? Ich habe doch gesagt: GALGENHUMOR! Na, was soll's. Eigentlich ist das noch viel besser! Was sagst du? Du suchst dir einen hübschen Kürbis als Kopf aus, und ich mache dich zu meiner rechten Hand! Bildlich gesprochen, natürlich. Glaub mir, es ist gar nicht so schlimm, einen Kürbis als Kopf zu haben, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat! Hahaha!"
"Ein... verlockendes Angebot, aber die Drachen sind noch immer da draußen, Eure... öhm... Schreckhaftigkeit. Aber vielleicht komme ich darauf zurück." äußerte Denngar vorsichtig.
"Ooooh, die bösen Drachen! Glaubst du, dass deine Freunde nicht ohne dich auskommen? Wer braucht schon einen Kommandeur, der herumläuft und Befehle gibt, weil er sich für wichtig hält?"
Denngar hätte große Lust gehabt, Thorn an seiner Stelle unter der Guillotine zu sehen, auch wenn es bei ihm keinen großen Unterschied gemacht hätte.
"Habe ich überhaupt eine Wahl?"
"Natürlich. Du darfst entscheiden, ob du es freiwillig tust oder OB ICH DICH DAZU ZWINGEN MUSS! Denk ruhig noch etwas nach, so lange du noch denken kannst. Wir haben alle Zeit der Welt. Huahaha... Oh, hast du das gehört? Das war der Uhrturm! Deine Zeit ist aus. Entscheide dich!"
"Na schön. Ich nehme an. Unter einer Bedingung!"
Thorn ging dichter an Denngar heran. Er sah in mit seinem lodernden, in einen Kürbis geschnitzten Augen an. "Du glaubst, du kannst MIR Bedingungen stellen?"
Denngar sagte nichts. Aber er hielt dem Blick des Irrkönigs stand und blickte genau so finster wie er zurück. "Ahahahaha! Ich mag dich, Denngar! Dann stell deine... Bedingung. SOFORT!"
"Wenn Ihr mich zu Eurer... rechten Hand oder was auch immer macht, müsst Ihr mir im Gegenzug dabei helfen, die restlichen Altdrachen zu töten."
"Einverstanden!"
Das Fallbeil raste hinab.
Denngar wachte auf.
Vor ihm stand eine Gestalt, die aussah, als wäre sie eine Dienerin des Verrückten Königs. Denngar fasste sich an den Hals. Sein Kopf war noch dran. Die Gestalt sah ihn an, die bleichen Hände in die Hüfte gestemmt. Sie hatte schwarze Flügel und Hufen an den Füßen. Sie trug eine Kapuze, die das Gesicht verbarg, mit Ausnahme der beiden glühenden, denen des Irrkönig ähnelnden Augen. Das "Gewand" war in der Mitte offen und bestand im Grunde aus zwei breiten Stoffstreifen, die über die weiblichen Reize der Kreatur gespannt waren. Um die Hände und Beine hatte sie schwarze Leinentuch-Streifen gewickelt, die am oberen Ende lose herab hingen.
"Bist du etwa eingenickt?" fragte die Gestalt lachend. Denngar sah sie erschrocken an.
"Miranda? DAS ist dein Kostüm?"
"Es scheint dir ja ganz offensichtlich zu gefallen. Hab ich es dir nicht gleich gesagt?"
"Das... Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich davon halten soll..." gestand er.
"Wieso? Es sieht doch gut aus. Und gruselig. Oder meinst du, es ist zu... gewagt?"
"Vielleicht spricht da nur der Krieger in mir, aber es sieht nicht so aus, als ob es dich vor irgendetwas schützen würde. Auch nicht vor der Kälte. Und erst recht nicht vor neugierigen Blicken."
"Ach, Denngar... Dafür hab ich doch meine Magie."
"Schützt die auch vor den neugierigen Blicken?"
"Hm. Kommt ganz darauf an, von wem sie kommen. Wie witzig, dass gerade du dich das fragst. Dir sind die Augen eben fast aus dem Kopf gefallen." sagte sie zufrieden.
"Wenigstens ist mein Kopf noch dran..." murmelte Denngar vor sich hin und starrte auf das Buch auf dem Schreibtisch. Das Buch, das nicht da war.
"Hast du etwa wieder in meinen Briefen herum geschnüffelt?"
"Was? Nein! So was würde ich doch nie tun. Außerdem bist du die Schnüfflerin von uns beiden."
"Orden der Gerüchte, schon vergessen? Aber komm, wir müssen uns noch um dein Kostüm kümmern."
"Oh nein, ich zieh mir nicht schon wieder so einen Anzug an wie letztes Jahr!" protestierte er.
Miranda seufzte. "Stell dich nicht so an. Du sahst verblüffend gut darin aus!"
"Und ich verkleide mich erst recht nicht als so ein... was auch immer das ist."
"Das soll ein Lich sein. Magier, die ihr Leben über den Tod hinaus verlängert haben." erklärte sie.
"Und warum sind ihnen dadurch Flügel und Hufe gewachsen?" fragte Denngar skeptisch.
"Woher soll ich das wissen? Glaubst du, ich habe je einen gesehen? Ist das wichtig?"
"Schon gut, es hat eh keinen Sinn, mit dir darüber zu streiten." stöhnte Denngar genervt.
"Freut mich, dass du das erkannt hast. Keine Sorge, du musst dich nicht als Lich verkleiden. Weder Flügel, noch Hufe, versprochen." versicherte sie ihm etwas enttäuscht. Was für ein Langweiler...
"Ich geh es kurz holen. Und schlaf mir nicht schon wieder ein."
"Mhm." murmelte er. Er ließ seinen Blick über die prall gefüllten Bücherregale an der Wand schweifen. Das Buch mit dem markanten Einband fand er jedoch nirgends. Denngar schaute wieder aus dem Fenster. Es war stockfinster geworden, obwohl die Straßen von Götterfels normal zu dieser Zeit hell erleuchtet waren. Er ging näher an das Fenster, doch er sah nichts als undurchdringliche Schwärze. Er versuchte, ruhig zu bleiben und nicht die Nerven zu verlieren. Er war einfach zu müde. Er setzte sich wieder und schaute sich im Zimmer um, einfach nur, um sich wach zu halten.
Er bemerkte einen Schatten, der sich von der Treppe aus näherte. Denngar wollte nach seiner Axt greifen, doch er hatte sie natürlich nicht dabei. Der Schatten wurde größer, er wuchs und wuchs, bis er den ganzen Raum einnahm. Er erhob sich und nahm Form an. Die Form des Irrkönig Thorn.
"Du glaubst, du kannst MIR entkommen, Denngar? Es ist Halloween! Zeig doch mal ein wenig BeGEISTerung! AHAHA! Na, wie fühlt man sich so ohne Körper?"
Denngar fror plötzlich am ganzen Leib. Er wollte sich die zitternden Arme reiben, doch seine Hände glitten einfach durch sie hindurch. Er war völlig durchsichtig.
"Oh, du lachst ja gar nicht... Ich dachte, dir würde dieser kleine Scherz gefallen. Dass das ein wahrer Schenkelklopfer werden würde. Ach, stimmt ja... du hast ja gar keine Schenkel mehr!"
"Zum Totlachen, wirklich!" antwortete Denngar spontan. Ihm wurde der Wortwitz erst im Nachhinein bewusst. Thorn brüllte vor Lachen.
"Ja! JA! Genau das ist es! DAS ist der Geist von Halloween! Du begreifst es ja vielleicht doch noch endlich. Hat ja auch lange genug gedauert."
"Warum kommt Ihr erst jetzt zu mir, nach all den Jahren?" fragte Denngar. "Ich war immer dabei!"
"Stimmt, das muss man dir lassen. Aber immer, weil dich deine Freunde dazu überredet haben. Wie wäre es, wenn DU mal etwas Initiative zeigst? Halt, du bist ja gar kein Dieb. Hehehe. Kapiert?"
"Ich... achso, stimmt. Hehe." lachte er halbherzig. "Ja, für einen Dieb... bin ich... öhm... zu groß."
Thorn fasste sich an die "Stirn" und schüttelte seufzend seinen Kürbiskopf.
"Es ist hoffnungslos..."
