Brennendheißer Schnee
1.
Als ich noch jung war, hat Agnes mir immer crème brûlée gemacht. Für mich hat sie immer eine besonders dicke Schicht braunen Zucker darauf gestreut. Ich sehe sie immer noch vor mir, wie sie die Zuckerkristalle mit einem Brenner zu einer harten Kruste verarbeitete. Es roch dann immer so schön nach Jahrmarkt. Dass ich ausgerechnet jetzt daran denken muss… Vielleicht weil hier alles so aussieht, als wäre jemand mit einem Brenner darüber gegangen. Ich bin zum ersten Mal in Montreal. Ich war an so vielen Plätzen dieser Welt, aber hier war ich noch nie. Irgendwie kann ich nachvollziehen, dass Lisa sich in dieser Stadt wohl gefühlt hat. Vor der großen Katastrophe muss es hier noch viel schöner gewesen sein – damals, als der Winter noch Winter und der Sommer noch Sommer war. Nicht so wie heute: Eis von unten, Sonne von oben. Ich kann mich noch genau erinnern, als diese Eiszeit begonnen hat – man konnte es von der Raumstation aus sehen. Eine Eiszeit und das 2006! Niemand hätte das geglaubt. Überhaupt ist die große Katastrophe schwer zu verstehen…
Als die Botschaft mich gestern früh erreichte, da hielt mich nichts mehr auf der Raumstation. Alle haben mich für verrückt erklärt. Uran hätte eine Halbwertszeit von… Wie viel Milliarden Jahre waren das doch gleich? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass es viel zu lange war, um zu warten. Man würde mich nicht wieder auf die Raumstation lassen, wenn ich einmal auf die Erde zurückgekehrt wäre. Ich wäre dann kontaminiert. Nun ja, das ist mir im Moment völlig egal – ich habe Lisa nie viel von dem, was sie mir gab, zurückgeben können. Auch wenn sie mich letztlich nicht gewählt hat, wird sie immer die Frau bleiben, die ich geliebt… liebe.
Zu Lisas Mail hat auch eine Wegbeschreibung gehört – ganz akribisch hat sie aufgezeichnet, wie ich ihr Haus im Montrealer Vorort Laval finde. Leider hat sie nicht aufgeschrieben, dass eine der Brücken über den Sankt-Lorenz eingestürzt ist. Das Leben in der Raumstation hat mich ganz schön verweichlicht. Ich musste über den zugefrorenen Fluss schlittern. Naja, ich robbte mehr auf dem Bauch ans andere Ufer. Die Sonne brannte unerbittlich auf mich herunter. Jetzt habe ich Verbrennungen auf Stirn, Schultern, Rücken und bin auf der Bauchseite unterkühlt… Letztlich wäre ich auch mit gefesselten Armen und Beinen geschwommen, wenn es notwendig gewesen wäre. Sehr lange wird Enya nicht alleine bleiben können. „Meine kleine Tochter heißt Enya" stand in Lisas Mail. „Enya bedeutet ‚Wasser des Lebens'. Das hätte Rokko auch gefallen." Ich hatte zwar nicht den Eindruck, dass dieser Rokko Kowalski ein großer Freund von versteckter Symbolik gewesen ist, aber Lisa kannte ihn besser. Sie wird schon gewusst haben, was sie tut. Wer weiß schon bei der Geburt eines Kindes, ob es mal seinem Namen gerecht wird? Enya Kowalski ist also das Ziel meiner Rückkehr. Sie wird die Windeln bis an die Nase voll haben, immerhin ist sie seit fast zwei Tagen alleine. „Die Kleine wird genauso verstrahlt sein wie alles da unten. Sie wird dir unter den Fingern wegsterben. Statt dein Leben für ein todgeweihtes Kind zu riskieren, solltest du hier bleiben und froh sein, dass es dich nicht erwischt hat." Das hat der Kommandant der Raumstation zu mir gesagt. Vermutlich hat er Recht, aber was ist mir nach der großen Katastrophe schon geblieben? Meine Eltern haben keinen Ausweg aus Berlin gefunden. Meine Schwester – ein übles Schicksal: Sie hat sich bis Baikonur durchgekämpft, wollte dort eine Raumfähre nehmen, aber man hat sie und die Gruppe, mit der sie gereist hat, nicht an Bord gelassen. Sie sind genau durch das „Epizentrum" der Strahlung gekommen. Dann ist jemand ausgerastet, hat um sich geschossen. Meine kleine Schwester war gerade 18, als ihr jemand den Kopf weggeschossen hat. Mein bester Freund Max und sein Frau – anfänglich haben sie noch in Berlin gelebt, doch dann hat der Wind gedreht... Der Kontakt zu ihnen brach ab, als ich auch keine Nachrichten mehr von meinen Eltern gekriegt habe. Was aus Jürgen geworden ist, weiß ich gar nicht. Wahrscheinlich ist er tot – so wie fast alle in Europa, Asien und Nordafrika. Mariella ist noch in Boston – sie ist die wohl tougheste Witwe, die man sich vorstellen kann. Sie ist die Vorsitzende einer Kommission, die sich um Rationierungen kümmert. Das muss ein ziemlich undankbarer Job sein. Sie hat mir angeboten, dass ich mit Enya zu ihr kommen kann. Ich habe so einen Schreck bekommen, als ich sie gesehen habe – über eine Kamera natürlich. Mariella hat kein einziges Haar mehr auf den Kopf – verstrahlt, so wie alle. Niemand weiß, wie lange sie noch hat. Daran will ich gar nicht denken. Ich habe Mariella so lange geliebt und ja, auch betrogen, aber letztlich schätze ich immer noch ihr Wesen. Sie ist eine tolle Frau und… nein, sie verdient es nicht zu sterben, nur weil die politische Elite ihre Vorbereitungen für den atomaren Krieg nicht besser gesichert hat…
Enya! Ich muss zu Enya! Ich habe nur noch sie und sie hat nur noch mich! Ich muss zum Haus der Kowalskis. Laut Lisas Beschreibung kann es nicht mehr weit sein. In der richtigen Straße bin ich schon. Das dritte Haus auf der rechten Seite – das da vorne, das muss es sein. Wie im Film: roter Backstein, eine Holzterrasse, der Rasen vor dem Haus ist verdorrt oder erfroren – so genau kann ich das nicht sagen, er ist jedenfalls nicht grün, eher braun. „Du musst zum Hintereingang kommen. Die Tür ist immer offen" stand in Lisas Mail. Gut, dann gehe ich eben um das Haus herum. „Tritt ein, bring Glück herein" – Lisa stand ja immer auf unsinnigen Nippes, aber dieses Schild ist mehr als nur Kitsch. Es zeigt, dass sie die Hoffnung nicht aufgegeben hat und ich werde das auch nicht…
Davids Hand legte sich auf die Türklinke. Erschrocken zog er sie zurück – er hatte nicht erwartet, dass ihn so eine Eiseskälte noch einmal durchfahren würde. Es war totenstill und David befürchtete, zu spät zu kommen. Trotzdem benötigte er einen Augenblick, um sich dazu durchzuringen, die Klinke erneut in die Hand zu nehmen. Davids Finger umspielten das kühle Metall. „Komm schon, drück sie herunter", befahl er sich selbst.
