Ein Jahr nach Kriegsende auf Ingleside

Anne saß gedankenverloren auf den Verandastufen. Hinter ihr saß in einem bequemen Schaukelstuhl ihre jüngste Tochter Rilla mit ihrem kleinen Kriegsbaby, das den gewichtigen Namen James Kitchener trug und liebevoll Jims gerufen wurde. Sie las ihm eine Geschichte vor, bevor es Zeit war ihm seinen Abendbrei zu geben und ihn schlafen zu legen. Trotz ihres „Adoptivenkels" fühlte sich Anne an diesem schönen Oktoberabend keineswegs alt. Nur wenn sie an den Verlust ihres Sohnes Walther dachte, der nicht aus dem Krieg heimgekehrt war, und an ihren vermissten Shirley, fühlte sie die Last ihrer 54 Lebensjahre.

Nichts desto trotz genoss sie den Sonnenuntergang, einen der letzten dieses Jahres 1919, den man noch im Freien genießen konnte. Das Klappern von Hufen und das Geräusch von Wagenrädern kündete von der Ankunft einer Kutsche. Es war Gilbert, der von einem langen Tag voller anstrengender Hausbesuche zurückkehrte. Er hatte es nicht einmal geschafft zum Mittagstisch heimzukehren. Der angesehene Arzt brachte eigenhändig die Pferde in den Stall und versorgte sie, bevor er den Stall für die Nacht verschloss. Anne erhob sich von den Stufen und ging ihm entgegen, als er sich mit seiner alten, schwarzen Arzttasche, an der er hartnäckig festhielt, zum Haus kam. Sie begrüßten sich wortlos mit einer liebevollen Umarmung, die mehr von ihren Gefühlen ausdrückte, als Worte es hätten tun können. Auch Gilberts Gesicht war von seinem 56jährigen Leben gezeichnet und sein Haar ergraut, seit die Kunde von Walthers Tod nach Ingleside gedrungen war. Er legte seinen Arm um die Hüfte seiner Frau und siegingen gemeinsam hinein. Während Gilbert die Arzttasche in seinem Arbeitszimmer ablegte, holte ihm Anne eine Tasse Tee aus der Küche, die Susan vorsorglich bereithielt. Sie war mit der Zubereitung eines einfachen Abendessen beschäftigt, während am Küchentisch der kleine Jims seinen Abendbrei verschlang.

Vor dem Kamin, in dem ein kleines Feuer brannte, saß Gilbert bereits in seinem Lieblingssessel und nahm mit einem dankbaren Lächeln die Tasse entgegen. Anne setzte sich in den zweiten Sessel und legte ihre Hand auf den Kopf des daneben stehenden Porzellanhundes Magog. Diesen besaß sie mit seinem Ebenbild Gog bereits seit ihrer Heirat und erinnerte sie immer wieder an ihre herrliche Studienzeit am Redmonds College. Dieses befand sich in Kingsport, wo sie sich drei Jahre ein Haus mit Freundinnen geteilt hatte. Die Besitzerinnen hatten sich auf große Weltreise begeben und ihr Heim vermietet. Als sie zurückkehrten und von Annes Zuneigung zu den Hunden hörte, schenkten sie sie ihr zur Vermählung. Seit dem standen sie am Kamin jeden Hauses, in dem Anne und Gilbert lebten.

„Bist du sehr erschöpft, mein Liebster?" fragte Anne nun.

„Heute spüre ich jeden meiner Knochen" antwortete Gilbert, woraus Anne schloss, dass er todmüde war.

„Soll ich dir Wasser für ein Bad wärmen, damit du dich etwas entspannen kannst?"

Ein Bad zu bereiten, war eine aufwendige Sache, schließlich musste das Wasser im Freien aus dem Brunnen gepumpt werden, in der Küche auf dem Ofen gewärmt und nach oben ins Badezimmer getragen werden. Für den kleinen Jims genügten drei Eimer, wollte ein Erwachsener Baden mussten an die 20 Eimer Wasser geschleppt werden.

„Nein, der ganze Aufwand nur für meine alten Gebeine lohnt nicht. Nach dem Essen lese ich die Zeitung und gehe dann gleich schlafen. Vielleicht könntest du es vorher mit einer Wärmflasche anwärmen, das genügt vollkommen."

Anne nickte zustimmend und legte noch einen Holzscheit ins Feuer.

„Ich bin froh, dass die meisten unserer Kinder zur Zeit nicht in Glen sind. Diese Grippe- Epidemie wütet furchtbar und ich kann kaum etwas tun", erzählte Gilbert traurig.

„Eigentlich sollte ich Rilla und Jims auch noch fortschicken. Schließlich könnte ich die Krankheit ja auch noch mitbringen und sie anstecken."

Ihr Herz krampfte sich bei dem Gedanken zusammen, hätte sie ihren Geliebten doch beinah an eine heimtückische Krankheit verloren. Sie hatte ihr aber auch die Augen für ihre wahren Gefühle geöffnet und für das Happy- End zwischen ihnen gesorgt.

„Aber wohin wollen wir sie schicken? Überall wird gespart und jeder Esser ist ein Esser zu viel", gab Anne zu bedenken.

„Ich weiß", seufzte er und strich sich mit der Hand die Stirn glatt, die von vielen Sorgenfalten bereits geprägt war.

Ein zurückhaltendes Klopfen an der Tür holte beide aus ihren Gedanken.

„Das Essen steht auf dem Tisch", verkündete Susan.

Gleichzeitig erhob sich das Paar und folgte Susan ins Speisezimmer. Er war für vier Personen gedeckt und wieder einmal überkam Anne der traurige Gedanke daran, dass an dieser Tafel früher gewöhnlich doppelt so viele Personen gespeist hatten. Auch Rilla, die ihr Kriegsbaby gerade zu Bett gebracht hatte, trat nun ein und man setzte sich zu Tisch. Susan sprach das Gebet und teilte dann die Brotsuppe aus, die sie bereitet hatte. Für den Herrn Doktor gab es eine Scheibe Braten dazu, die vom Mittagessen für ihn aufbewahrt worden war. Ein Schälchen von Susans selbst gemachten Apfelmus beendete das spartanische Mahl, das wie so oft schweigend eingenommen worden war.

Als man sich erhob, bat Anne ihre treue Haushaltshelferin um die Bereitung einer Wärmflasche. Gilbert ging in sein Arbeitszimmer, um den Inhalt seiner Arzttasche für den nächsten Tag zu überprüfen und die Zeitung zu lesen. Anne setzte sich im Salon an ihren Sekretär, um den letzten Brief ihrer Freundin Diana zu beantworten.

Liebste Diana,

lang ist es her, dass ich von mir hören ließ. Das Leben in Ingleside geht seinen gewohnten Gang, aber so sehr man es auch möchte, man kann die Tage nicht mehr so genießen wie früher. Da du mit dem Verlust deines geliebten Freds ebenso gestraft worden bist wie ich, wirst du mich verstehen. Auch von Shirley haben wir immer noch nichts gehört. Jedes Telefonläuten, jedes Geräusch eines Fuhrwerkes oder Automobiles lässt mich hoffen, dass es Kunde von ihm bringt. Auch unsere treue Susan ist nicht mehr die Alte. Nur wenn Miss Cordelia mit ihren Klatschgeschichten aufwartet, lässt sie noch die eine oder andere spitze Bemerkung hören. Wo ist nur all die Fröhlichkeit geblieben?

Wenn Rilla nicht wäre, die uns mit ihren Anekdoten aus dem Jugend- Rot- Kreuz unterhalten würde, wäre das Lachen schon ausgestorben in Ingleside. Neben ihrem Kriegsbaby organisiert sie weiterhin Spendenaktionen für die Kriegsopfer in der Alten Welt. Ich kann diese fast nicht mehr bedauern. Schließlich haben die mich meinen Walther und vielleicht auch noch Shirley gekostet. Auch Gilbert ist so wenig zum Lachen zumute wie mir. Zur Zeit geht auch noch derGrippe um in Glen und er ist von früh bis spät unterwegs. Obwohl wir nicht mehr viel Zeit miteinander verbringen, sind wenigstens unsere Gefühle füreinander noch die alten. Ich glaube, wenn wir uns nicht hätten, um uns gegenseitig zu stützen, wäre es längst vorbei mit unseren Leben. Jem ist sobald er konnte nach Kingsport, um sein Medizinstudium wieder aufzunehmen. Man hat ihm und allen anderen Kriegsheimkehrern besondere Konditionen für ihr Studium eingeräumt, so dass er durch die Jahre im Krieg nicht allzu viel Zeit bis zum Examen verliert. Seine Verlobte Faith arbeitet derweilen kräftig an ihrer Aussteuer. Die beiden wollen heiraten, sobald Jem seinen Arzttitel in der Tasche hat. Di ist sehr beliebt bei ihren Kollegen in Windy Willows. Wenn ich von ihr höre, denke ich immer recht wehmütig an meine Zeit als Direktorin dort zurück. Ich bin froh sie bei Rebecca Dew in guten Händen zu wissen, wenn der ihr kleines Häuslein auch nicht zu vergleichen ist mit dem Haus der Witwen, in dem ich damals wohnte. Der Pringle- Clan, zahlreich wie eh und je, frisst meiner Tochter aus der Hand, seit sie wissen, dass sie das Kind von Anne Shirley ist. Ich muss einen sehr nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben. Von unserer Nan muss ich dir wohl kaum berichten. Ich denke doch du siehst sie ab und zu in Avonlea. Wenn ich daran denke, dass sie deine Enkelkinder unterrichtet! Sie hält das alte „Green Gables" sicher auf Vordermann, nachdem Rachel Lynd kaum noch das Bett verlassen kann und Davys Frau mit dem häuslichen eher auf Kriegsfuß steht. Dafür soll sie ihm ja im Stall und auf dem Feld kräftig zur Hand gehen.

Nun habe ich dich so weit alle Neuigkeiten aus dem alten Glen St. Mary berichtet. Ich umarme dich herzlich und hoffe auf ein baldiges Wiedersehen.

Für immer deine Anne

Nachdem der Brief kuvertiert war, löschte Anne die Lichter und ging in die Küche. Diese blitzte wie jeden Abend, wenn Susan sie verließ. Auch die Wärmflasche lag, in eine Decke gehüllt, bereit. Mit dieser stieg Anne nach oben zum Schlafzimmer und steckte sie unter Gilberts Decke. Dann kleidete sie sich für die Nacht um und legte sich nieder, um noch ein wenig in dem Roman zu lesen, den Gilbert ihr zum Hochzeitstag geschenkt hatte. Ein wertvolles Geschenk in Zeiten des Papier-mangels. Dies läge wohl an den vielen sinnlosen Berichten, die Wilson während des Krieges verfasst hatte, pflegte Susan dann zu sagen.

Kurze Zeit später hörte Anne die Schritte ihres Mannes auf der Treppe. Er ging zuerst ins Bad und kam dann im Pyjama ins Nachtgemach. Gilbert schlüpfte unter seine Decke und wendete sich mit einem Lächeln seiner Frau zu. „Ich hoffe heute Nacht schweigt das Telefon einmal still, sonst reiße ich es aus der Wand." Anne lächelte, legte ihr Buch zur Seite und löschte das Licht. Dann kuschelte sie sich in die Arme ihres Mannes. „Ach, mein Anne- Mädchen, wenn ich dich nicht hätte." Das war seine Art „Ich liebe dich" zu sagen und glücklich schlief Anne nach einem langen Gute- Nacht- Kuss ein.

Gilberts „Wunsch" nach einer ungestörten Nachtruhe war erhört worden und so saß er nun mit Frau, Tochter und Haushaltsperle beim Frühstück und das Telefon befand sich noch an der Wand. Damit der Doktor für seinen Arbeitstag gestärkt war, hatte Susan Rührei gemacht. Die Eier hatte sie im Morgengrauen höchstpersönlich aus den findigen Verstecken der Ingleside- Hühner gesammelt. „Wohin fährst du heute morgen als erstes?" erkundigte sich Anne.

„Ich sehe als erstes nach Miranda Milgrave. Ihr Kind müsste eigentlich jeden Tag kommen."

„Ach, liebe Frau Doktor, wenn ich bedenke wie wir ihre heimliche Hochzeit damals organisiert haben", seufzte Susan.

Dieser Gedanke entlockte allen am Tisch ein Schmunzeln, hatte man doch ihren Vater, Mr. Pryor, damit gehörig eins ausgewischt. Er war streng gegen eine Verbindung seiner Tochter mit Joe gewesen, nachdem er sich für die Uniform entschieden hatte. Der als „Mondgesicht- mit- Schnauzbart" titulierte Kirchenälteste hatte sich vor knapp einem Jahr als der Krieg zu Ende gegangen war bei Nacht und Nebel abgesetzt. Miranda erhielt wohl gelegentlich Nachricht von ihm, ließ aber nichts davon in der Öffentlichkeit verlauten.

„Rilla, gehst du nachher mit mir ins Regenbogental spielen?" fragte Jims seine „Adoptivmutter". „Tut mir leid, mein Schatz, aber deine Eltern kommen doch heute mit dem Mittagszug von ihrer Reise zurück. Da wollen wir sie doch vom Bahnhof abholen."

James Kitchener Anderson hatte nochmals drei Wochen in Ingleside gewohnt, während sein Vater mit seiner englischen Frau eine Kanadarundreise machte. Diese ersetzte die ausgefallenen Flitterwochen und sollte der Ausländerin ihre neue Heimat näher bringen. Das marmeladenverschmierte Gesicht des kleinen Mannes verzog sich zu einem Weinen.

„Deine Eltern haben sicher schon Sehnsucht nach dir und werden dir etwas schönes von ihrer Reise mitgebracht haben", tröstete Anne ihn und es gelang ihr die Tränenflut damit zu verhindern.

Gilbert verließ den Frühstückstisch als erstes. Er gab seiner Frau einen Abschiedskuss, strich Jims, der ihm ans Herz gewachsen war, und seiner Tochter über den Kopf. Mit den Worten:

"Pass gut auf meine Frauen auf, Susan" ging er hinaus.

Er holte seine Arzttasche und verließ das Haus. Etwas wehmütig blickte er im Stall auf sein fast ungebrauchtes, verhülltes Automobil, das er wegen der Benzin- Sparpläne zur Zeit nicht fahren konnte. Deshalb spannte er die Pferde ein und rollte davon in Richtung des Milgravschen Hauses. Rilla half derweilen Susan beim Abdecken und Abwaschen, während Anne mit dem kleinen Jims spielte. So oft sie konnte, beschäftigte sie sich mit „ihrem Adoptivenkel". Das unbeschwerte Lachen eines Kindes fehlte ihr in Ingleside. Rilla bekam so die Gelegenheit im Haushalt zu helfen. Seit ihrer offiziellen Verlobung mit Kenneth Ford ließ sie sich von Susan in die Kunst des Kochens, Backens und Nähens einweisen, um eine vorbildliche Hausfrau zu werden. Als Jims sich in ein Bilderbuch vertiefte, ging Anne an ihren Sekretär, um in den Schubläden einmal Ordnung zu schaffen. Sie stapelte alle Briefe, die sie darin angesammelt hatte und fast zum Schluss fiel ihr der letzte Brief von Shirley in die Hände.

Hallo ihr lieben Inglesider!

Der Krieg ist aus! Ich bin sicher nicht der Erste, der euch diese Botschaft überbringt, aber aus vollstem Herzen jubele ich diesen Satz in die Welt. Das Leid und die Gräueltaten haben mich, der ich so emotionslos von zu Hause fortging, ernüchtert. Es ist mir unbegreiflich, wie Menschen sich so etwas antun können. Nichts desto trotz werde ich hier beim Wiederaufbau mit anpacken. Gute Flieger werden hier gebraucht und so werde ich noch ein Dreivierteljahr hier bleiben und erst mit dem letzten Heimkehrerschiff im Juli nächsten Jahres nach Hause kommen. Ich vermisse euch alle sehr, aber ich sehe es als meine Pflicht an mit meiner Hilfe einen Teil meiner Schuld abzutragen. Auch ich habe viel zerstört!

Grüßt bitte die Merediths und alle, die sonst noch an mich denken mögen, herzlichst von

Eurem Sohn Shirley

Wo bist du nur, fragte sich Anne, während eine einzelne Träne über ihr Gesicht rann. Sie hatten nie wieder etwas von ihrem Jüngsten gehört und er war auch im Juli nicht heimgekehrt. Als sie daraufhin Auskunft bei der Luftwaffe einholten, bekamen sie nur gesagt, dass Shirley bis Juli in deren Auftrag in Deutschland geholfen hatte, aber zum Ausschiffungstermin nicht in Bremerhaven erschienen war.

„Tante Anne", rief sie Jims, dem nun langweilig geworden war.

Sie ging zu ihm und nahm ihn auf den Arm.

„Warum weinst du, Tante Anne? Hat dich jemand gehauen?" fragte der 4jährige mitleidsvoll. „Nein, ich habe nur gerade an etwas trauriges gedacht. Möchtest du Ball spielen?"

Da er dies am Liebsten tat, war er sofort abgelenkt. Er ließ sich brav seine Jacke überziehen und warf sich dann im Garten mit Anne den Ball zu bis Rilla aus dem Haus trat. In der Hand hielt sie die Tasche mit Jims Kleidung. Susan stand hinter ihr, um ebenfalls Abschied von ihrem Gast zu nehmen. James Kitchener wurde von der Haushälterin und „seiner Adoptivoma" gedrückt und geküsst, dann spazierte er an Rillas Hand gen Pfarrhaus. Dort erwartete sie Bruce Meredith mit der Kutsche, um sie zum Bahnhof zu fahren.

Anne folgte Susan ins Haus. „Wie wär's mit einer schönen Tasse Tee, liebe Frau Doktor?"

„Da sag ich nicht 'Nein'", antwortete Anne und nahm in ihrem Lieblingssessel im Wohnzimmer Platz. Gleich darauf brachte Susan den Tee und gesellte sich mit einer Tasse zu Anne. Pfefferminzduft stieg in die Luft.

„Diese Minze ist dieses Jahr ganz prächtig gediehen, liebe Frau Doktor. Mit den Bündeln, die wir getrocknet haben, kommen wir sicher den ganzen Winter hin. Das Lachen des kleinen Jims wird mir fehlen. Nun wird es wieder still in Ingleside werden", wechselte sie übergangslos das Thema.

„Wenn dieser elende Krieg nicht dazwischen gekommen wäre, könnten Gilberts und meine Enkel schon durchs Haus toben", antwortete Anne wehmütig.

„Nächstes Jahr heiraten Jem und Faith, Jerry und Nan und vielleicht auch unsere kleine Rilla. Dann wird der Kindersegen nicht mehr lange auf sich warten lassen, liebe Frau Doktor. Und wir müssen auf jedem Arm zwei Babys schaukeln, um ihrer Enkelschar Herr zu werden."

„Gebe es Gott", erwiderte Anne. „Aber das du auf den Flügeln der Phantasie davon schwebst, ist auch eine neue Ader von die, liebe Susan."

„In diesen Zeiten braucht man manchmal Phantasie, um den Tag überhaupt überstehen zu können, liebe Frau Doktor. Dann werde ich jetzt mal das Mittagessen bereiten", meinte sie, während sie sich erhob.

„Mach dir nicht so viele Umstände. Gilbert wird zum Essen wohl kaum da sein und auch Rilla schafft es sicher nicht, wenn sie mit Bruce die Andersons nach Hause fährt."

In diesem Moment klingelte das Telefon und Susan ging in die Diele, um das Gespräch anzunehmen.

"Ingleside, Familie Doktor Blythe", meldete sie sich.

„Ja, einen Augenblick bitte", hörte Anne sie weiter sagen, bevor Susan in der Tür erschien.

„Miss Oliver möchte sie sprechen."

„Sie heißt jetzt Mrs. Grant", erinnerte Anne sie und folgte der Hausperle nach draußen, die in die Küche weiterging.

„Hallo Gertude", sprach Anne in den Hörer.

Sie lauschte ihrer Gesprächsteilnehmerin und antwortete dann:

"Natürlich könnt ihr kommen. Wir haben doch genug Platz, jetzt wo alle wieder aus dem Haus sind. Wir freuen uns euch zu sehen. Gut, dann holen wir euch am Freitag vom 15 Uhr- Zug. Irgendeine Kutsche organisiere ich schon, wenn Gilbert unsere benötigt. Auf Wiederhören."

Anne ging gleich in die Küche weiter, um Susan über den angekündigten Besuch zu informieren. „Wie schön, liebe Frau Doktor. Ich werde gleich nachher die Gästebetten lüften und in der Speisekammer schauen, was wir unseren Gästen noch anzubieten haben. Bin ja mal gespannt auf diesen Mr. Grant, der der armen Miss Oliver so einen Schreck eingejagt hat, damals."

Das Mittagessen nahmen sie gemeinsam in der Küche ein. Anne hätte es nur traurig gestimmt an einer fast leeren Tafel die Sandwiches zu verspeisen, die Susan aus Toastbrot, Bratenresten, Salat und wenig Butter zusammengestellt hatte. Susan war gerade vom Dachboden heruntergekommen, wo sie nach dem Essen die Gästebetten zum Lüften ausgelegt hatte, als Rilla heimkehrte. Sie schaute ein wenig traurig aus, nachdem sie Jims seinen Eltern zurückgegeben hatte. Susan strich ihr tröstend über die Wange und sagte:

"Geh ins Wohnzimmer zu deiner Mutter. Ich bringe die etwas zu essen und eine Tasse Tee."

Rilla folgte und ließ sich auf dem bequemen Sofa nieder.

„Wie war es, mein Schatz?" fragte Anne.

„Mr. und Mrs. Anderson sahen gut erholt und glücklich aus. Auf der Heimfahrt erzählten sie in einem fort von ihren Erlebnissen. Aber sie waren natürlich auch wieder froh daheim zu sein und ihren Jims wieder zu haben. Er weinte anfangs ein wenig, aber als sie ins Haus gingen, fand er sich schnell damit ab, dass er nun nicht wieder mit mir nach Ingleside fahren würde. Bruce und ich trugen das Gepäck rein und verabschiedeten uns dann gleich. Ich soll euch alle grüßen und nochmals für die Gastfreundschaft danken, die wir James Kitchener erwiesen haben."

Da kam Susan auch schon mit dem Imbiss für Marilla.

„Ich habe eine gute Neuigkeit. Gertrude und Robert kommen uns am Freitag besuchen und bleiben übers Wochenende", erzählte Anne.

„Das ist schön", sagte Rilla und biss ins Brot.

2. Gertrudes Besuch

In den nächsten Tagen half Rilla Susan bei den Vorbereitungen. Mit Feuereifer schrubbte sie Böden, scheuerte die Treppen, sogar die, welche zum Dachboden führten und half bei der Vorbereitung von Delikatessen, die man mit Einfallsreichtum aus den rationierten Lebensmitteln zubereiten konnte. Am Donnerstag Abend buk sie einen Butterkuchen, den sie bis zur Perfektion beherrschte. Die Butter dafür hatte sie Miller Douglas in Mr. Flaggs Laden ohne Lebensmittelkarte abgeschwatzt. Am Freitag morgen blinkte das ganze Haus wie ein frischgeputzter Penny. Gilbert versprach auf dem Heimweg die Grants am Bahnhof abzuholen und sollten noch so viele Kinder diesen Nachmittag für den Start in die Welt nutzen wollen. Zum Glück war auch die Grippe- Epidemie eingedämmt, nachdem der Arzt nach neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen für die Quarantäne der Infizierten gesorgt hatte.

Im Haus duftete es nach gebratenem Hähnchen, das zum Abendessen kalt serviert werden sollte und frisch gebackenem Brot, das Rilla eigenhändig geknetet hatte. Ein wenig erschöpft saßen die Frauen von Ingleside im Wohnzimmer, um bei einer Tasse Tee zu verschnaufen. Anne las nebenbei in der Zeitung.

„Wenn man sich die Nachrichten so ansieht, könnte man meinen es hätte nie einen Krieg gegeben", meinte sie.

„Liebe Frau Doktor, solange ich jedes Gramm Mehl zweimal abwiegen muss, damit nicht ein Hauch zu viel im Brot ist und wir unser Gemüse selbst anbauen müssen, herrscht für mich Kriegszustand", erklärte Susan kämpferisch.

Rilla lächelte nur dazu und sah auf die Uhr. Es war gegen zwei und so hatte man noch gut anderthalb Stunden Zeit bis die Grants eintreffen würden.

„Hier steht, dass heute das erste Passagierschiff aus Deutschland in Halifax erwartet wird, das seit Kriegsbeginn gefahren ist."

„Hoffentlich bringt es nicht haufenweise Hunnen in unser schönes Kanada, liebe Frau Doktor. Sie sollen nur bleiben wo sie sind, auch wenn dort nicht der Pfeffer wächst."

Darüber musste Rilla nun lauthals lachen und Anne stimmte ein.

„Dieses Lachen habe ich lange nicht gehört", vernahmen sie da eine Stimme vor der Tür.

„Miss Cornelia", sagte Anne überrascht, als sie sich nach dem Besucher umwendete.

Mrs. Marshall Elliot, wie sie nun seit sehr vielen Jahren hieß, kam in letzter Zeit nicht mehr so oft zu Besuch. Sie war schlecht zu Fuß und deswegen darauf angewiesen, dass ihr Mann sie in der Kutsche nach Glen brachte.

„Ich habe von dem Besuch gehört, den ihr erwartet und dachte, ich schau mal vorbei."

Sie hatte einen großen Korb und ihr Nähkörbchen dabei.

„Rilla, sei so gut und nimm mir den hier ab", sagte sie, während sie den größeren Korb vorstreckte. „Ich habe meine Zitronentörtchen mitgebracht, die der Herr Doktor so gern mag."

Anne musste gleich daran denken, wie Miss Cornelia diese früher Woche für Woche gebracht hatte bis sie Gilbert schier zu den Ohren herausgequollen waren. Und sie erinnerte sich an ihre Zeit als Direktorin in Summerside, als sie einmal bei einem Abendessen geäußert hatte wie gern sie eingelegten Kürbis esse. Bei den folgenden Essens- Einladungen bekam sie diesen nun jedes Mal serviert und in Gläsern mit nach Hause. Ob das Glas noch existiert, welches ich damals im Garten von Windy Willows eingebuddelt habe, fragte sie sich schmunzelnd.

„Ein Penny für deine Gedanken, liebe Anne", sagte die Besucherin, während sie sich unaufgefordert in einem Sessel niederließ.

Susan verließ fluchtartig den Raum, um sich nicht den Tratsch anhören zu müssen, den Miss Cornelia jeden Moment hören lassen würde. Aber Mrs. Elliot blieb vorerst ruhig und nahm ihre Häkelarbeit zur Hand. Anne bot ihr eine Tasse Tee an, die dankend angenommen wurde, aber fast vergessen auf dem Beistelltisch erkaltete.

„Wird das ein Mützchen?" begann die Hausherrin das Gespräch, der die Stille fast unheimlich war. „Ja. Das ist das letzte Stück, das ich für die Babyausstattung für Mary Vance mache. Ich bin so froh, dass ich es nicht ganz verlernt habe so schöne Dinge zu arbeiten, nachdem wir vier Jahre lang fast nichts anderes außer Socken gestrickt haben, liebe Anne."

„Mary Vance wird ihr Kind mit Stolz mit so einem schönen Mützchen zeigen", bemerkte Anne.

„Vielleicht würdest du uns für den Wohltätigkeitsbasar, den Rilla mit dem Jugend- Rot- Kreuz organisiert, ein paar gehäkelte Deckchen zur Verfügung stellen? Ich könnte mir vorstellen, dass diese einen guten Preis erzielen würden. Und da dieser Basar die Abschlussaktion unseres Roten Kreuzes ist, wäre es doch schön, wenn noch einmal eine große Summe zusammenkäme."

„Wann war der Basar, liebe Anne? Ich werde langsam vergesslich."

„Am Tag vor Heiligabend", erinnerte sie Anne.

„Ihr könnt auf mich zählen", versprach Miss Cornelia.

„Hat den nun eigentlich Miranda Milgrave schon ihr Kind bekommen?" erkundigte sie sich dann. „Seit meine Beine nicht mehr so wollen, wie ich will, erfahre ich kaum noch etwas da draußen. Ich wünschte manchmal ich wohnte hier in Glen. Mr. Elliot ist zwar den ganzen Tag unterwegs, aber für Klatsch und Tratsch hat er ja so gar nichts übrig, so dass ich auch über ihn nichts erfahre."

„Das Milgrave- Baby lässt noch auf sich warten. Gilbert ist sehr besorgt deswegen und ist täglich bei ihr, manchmal sogar zweimal. Er denkt darüber nach, ob er sie nicht ins Krankenhaus verlegen soll, um dort das Kind per Operation zu holen. Kaiserschnitt, nennt man das wohl und ist eine gut erprobte Methode bei schweren Geburten, wie er mir erzählte."

„Liebe Anne, du weißt was ich für große Stücke auf den Herrn Doktor halte, vor allem seit der Sache mit Dick West. Aber immer dieses neumodische Zeug! Früher kamen die Kinder auch ohne Kaiserschnitt zur Welt."

„Sie reden ganz wie unsere Susan. Die hat auch gesagt: Wenn der liebe Gott gewollt hätte, dass die Kinder aus dem Bauch rausgeschnitten werden, hätte er den Frauen Reißverschlüsse eingearbeitet." „Da gebe ich ihr ausnahmsweise einmal recht, liebe Anne."

„Man hat aber so schon vielen Frauen das Leben geredet, die unter der schweren Geburt sonst gestorben wären", gab Anne zu bedenken, die seit ihrem Streit mit Gilbert wegen der West- Operation nie wieder seine Methoden angezweifelt hatte.

„Jedenfalls hoffe ich, dass Mary Vance die Geburt ihres Kindes auch ohne solchen Schnickschnack übersteht. Ist es nicht erstaunlich, wie viele Kinder im letzten Jahr geboren wurden? Kaum ein Sonntag vergeht ohne Taufe."

„Ich glaube der Krieg hat den Männern die Augen geöffnet, wie vergänglich das Leben ist. Und mit einem Kind haben sie doch die Möglichkeit etwas von sich zurückzulassen."

„Ja, liebe Anne, so denken eben nur Männer. Ich kann die Frauen nur bewundern, die ein Kind nach dem anderen zur Welt bringen. Ich meine sechs Kinder ist doch eine vernünftige Zahl, aber bei Mrs. George Hayworth drüben in Overharbour ist das vierzehnte unterwegs!"

„Und sie hat nicht eins davon verloren", sagte Anne, die Mrs. Hayworth dafür bewunderte.

Rilla betrat nun das Wohnzimmer. „So, Gertude und ihr Mann können kommen. Ich habe den Tisch gedeckt und mit den letzten Astern aus dem Regenbogental geschmückt."

Da man im Garten wegen des nötigen Kartoffel- und Gemüseanbaus keinen Platz mehr für Blumenbeete hatte, wurden nun an einem sonnigen Plätzchen im ehemaligen Spielparadies ein paar Blumen für die Tafel gehegt und gepflegt.

In diesem Moment läutete es an der Tür und wie ein Wirbelwind war Rilla im Flur, um sie zu öffnen. „Gertrude", rief sie freudig und Anne erhob sich, um ihre Gäste zu begrüßen. In der Diele stand Rilla in inniger Umarmung mit ihr. Mr. Grant stand, lächelnd über diese innige Wiedersehens-Freude, hinter ihr. Anne gab ihm deshalb als erstes die Hand und als Rilla und Gertrude auseinander-gingen, umarmte auch sie die ehemalige Lehrerin ihrer Tochter, die so lange ihre Hausgenossin gewesen war. Nachdem sie ihre Mäntel und Hüte abgelegt hatten, bat man sie ins Wohnzimmer, wo Miss Cornelia gespannt auf die Gäste wartete. Ein erster Blick auf Robert Grant nahm sie für ihn ein.

Als Gilbert, der die Pferde ausgespannt und versorgt hatte, eintrat, ging man zu Tisch. Zur Feier des Tages hatte Susan neben Tee auch etwas von dem streng rationierten Kaffeepulver aufgebrüht. Der Tisch bog sich fast unter Köstlichkeiten. Neben Rillas Butterkuchen und Miss Cornelias Zitronentörtchen stand ein Marmorkuchen, eine Apfeltorte und eine kleine Schüssel Schlagsahne bereit. Man ließ es sich schmecken und plauderte dabei über Gott und die Welt. Rilla strahlte glücklich zu der bewunderten Frau und so übernahm Anne an ihrer statt den Aufwasch. Susan hatte die Hilfe zwar abgelehnt, weil es sich für die Hausherrin nicht zieme die Gäste zu verlassen, aber hatte kein Glück mit diesem Einwand.

Miss Cornelia verabschiedete sich gleich nach dem Tee, da Marshall mit der Kutsche vorgefahren war und Gilbert ging in sein Arbeitszimmer.

„Lass uns noch einen Spaziergang machen, bevor es dunkel wird." schlug Gertrude vor.

„Ich möchte Robert gern das Regenbogental zeigen, während die Sonne untergeht."

Rilla stimmte zu und so schlenderten sie kurz darauf zu dritt davon.

Das Wochenende verging wie im Flug und am Sonntag reisten die Grants mit dem Nachmittagszug wieder ab. Sie hatten ein paar herrliche Tage verbracht und versprachen bald einmal wieder zu kommen. Rilla und alle anderen Bewohner von Ingleside wurden auf einen Gegenbesuch eingeladen. Gilbert fuhr noch einmal zu den Milgraves, nachdem er Anne und Rilla vor dem Haus abgesetzt hatte, die mit am Bahnhof gewesen waren. Es war kälter geworden und so waren sie froh, dass Susan sie mit einer Tasse Tee erwartete und ein Feuer im Kamin gemacht hatte. Sie nahmen ihre Handarbeiten zur Hand. Rilla umhäkelte gerade ein Taschentuch für ihre Aussteuer. War der Stoff schon nicht von feinster Qualität, sollte wenigstens der Saum nobel ausschauen, dachte sie.

3. Eine große Überraschung

Susan entzündete die Lampen, da es im Zimmer schon zu dämmern begann und Anne vertiefte sich in ein Buch über Gartenbau. Sie plante bereits den Gemüseanbau des nächsten Jahres, da noch nicht vorauszusehen war, wann die Regierung die Sparpläne aufheben würde. Die Haushaltsperle nahm ihr Strickzeug zur Hand.

Nachdem sie vier Jahre lang in jeder freien Minute gestrickt hatte, konnte sie sich schwer daran gewöhnen dies nicht mehr zu tun. Und so strickte sie nun in jeder freien Minute Socken in allen Größen, die in Carter Flaggs Laden zu geringen Preisen verkauft wurden. Man sollte es kaum glauben, aber sie gingen weg wie die warmen Semmeln. Viele Hausfrauen hatten nämlich die Nase voll vom Socken stricken und häkelten lieber mal wieder eine neue Tischdecke. Diese waren nun gute Kundinnen von Susan, die nahezu täglich ein paar Strümpfe vollendete. So vergingen die Stunden und es wurde Zeit an die Abendessens- Vorbereitungen zu gehen.

„Wo nur der Herr Doktor bleibt, liebe Frau Doktor", wunderte sich Susan.

„Vielleicht haben bei Miranda ja die Wehen eingesetzt", meinte Anne, die sich schon lange nicht mehr besorgt zeigte, wenn Gilbert länger ausblieb. Kopfschüttelnd ging Susan in die Küche. Da klingelte es an der Tür.

„Wer mag das wohl sein, um diese Zeit?" fragte Anne und stand auf um zu öffnen.

Rilla hörte, wie ihre Mutter die Tür öffnete und im gleichen Moment ausrief:"Oh mein Gott".

Nur Sekundenbruchteile später als Erwiderung ein erschrockenes „Mutter!"

Rilla eilte in den Flur. Ihre Mutter lag am Boden und über ihr kniete- Shirley.

„Sie ist ohnmächtig geworden."

In diesem Moment stürzte Susan aus der Küche, die sofort die Stimme ihres geliebten, braunen Jungen erkannte hatte.

„Shirley", rief sie voller Freude und dann erblasste sie. „Walther", stammelte sie und nun erst blickte Rilla auf und sah, dass es wirklich und wahrhaftig ihr tot geglaubter Bruder war.

Dieser stand mit ausdruckslosem Gesicht in der Tür. Neben ihm befand sich eine blonde, hübsch anzusehende Frau, die nun die Initiative ergriff.

„Shirley, bring doch deine Mutter aufs Sofa und sie holen bitte ein Glas Wasser", befahl sie zuletzt Susan.

Wortlos gehorchte die Haushaltsperle und Shirley nahm seine Mutter auf die Arme und trug sie ins Wohnzimmer. Rilla stand wie versteinert im Flur und starrte Walther an, der hilflos vor der Tür verharrte. Susan eilte mit dem Glas durch die Diele und Rilla gelang es mit tonloser Stimme zu sagen:"Willst du nicht hereinkommen?"

Walther trat zögerlich ein und ließ sich von Rilla aus dem Mantel helfen. Stumm sah er sich in der Diele um als sähe er sie zum ersten Mal. Ein wenig unsicher ergriff Rilla seine Hand, als glaube sie, sie könne vielleicht durch ihn durchgreifen, weil er nur ein Geist sei, der mit ihrem anderen Bruder von den Schlachtfeldern heimgekehrt wäre.

„Shirley, mein Junge", hörte sie nun im Wohnzimmer die Stimme ihrer aufgewachten Mutter und führte Walther hinein. Anne lag noch immer auf dem Sofa, aber ein wenig Farbe war in ihr Gesicht zurückgekehrt.

„Walther", hauchte sie. „Wie kann das sein? Man schrieb uns doch du wärest tot."

Aber Walther antwortete nicht, sondern Shirley ergriff nun das Wort.

„Setzt euch, ich erkläre euch alles. Wie ich euch letzten Oktober schrieb, habe ich in Deutschland beim Wiederaufbau geholfen und Ruth kennen gelernt. Wir haben uns sofort in einander verliebt und geheiratet. Als ich im Juli in Bremerhaven an Bord des Schiffes gehen sollte, musste ich an Walther denken und das ich mich nicht von ihm verabschieden hatte können. Und so beschloss ich nach Frankreich zu fahren und wenigstens einmal an seinem Grab zu stehen. Ruth hätte mich auf dem Militärschiff sowieso nicht begleiten können und reiste nun mit mir. Wir suchten das Schlachtfeld auf, auf dem Walther umgekommen sein sollte und fragten uns zum Soldatenfriedhof durch. Dabei kamen uns Ruths Französischkenntnisse zugute. Sie spricht perfekt französisch und englisch, weil sie vor dem Krieg in einem großen Unternehmen Sekretärin war, das Geschäfte in alle Welt machte.

Auf dem Friedhof las ich jeden einzelnen Namen, auf jedem einzelnen Kreuz. Ich fand zwar einen Walther Blythe, wunderte mich aber, dass sein zweiter Vorname, Cuthbert, nicht dabei stand, wie es bei so vielen anderen Opfern der Fall gewesen war. Wir brachten in Erfahrung, dass sich in einem nahegelegenen Kloster ein Lazarett befunden hatte und noch Listen der Gefallenen aufbewahrt wurden.

Ruth konnte mich leider nicht in die Anlage begleiten, aber der Abt sprach leidlich englisch und berichtete mir, dass alle Kreuze entsprechend der Armee- Identifikationsmarke beschriftet worden waren. Es habe nur ein nicht identifizierbares Opfer gegeben, das aber gar nicht tod gewesen war. Der Soldat war durch seine Marke mit dem Leben davongekommen. Die Kugel, die das Herz beinah getroffen hätte, blieb darin stecken und machte sie unkenntlich. Nur ein Splitter fügte ihm eine harmlose, aber stark blutende Wunde zu. Schlimmer war die Kopfwunde, die er sich beim Sturz zuzog. Durch die blutverschmierte Uniform und die tiefe Bewusstlosigkeit glaubte man ihn tod und ließ ihn für die Totengräber liegen.

Als man ihn auf den Wagen heben wollte, bemerkte aber einer von diesen noch ganz schwache Atemzüge und so brachte man Walther ins Lazarett. Seine Kameraden mussten ihn für tod gehalten haben und da noch ein zweiter Walther Blythe an diesem Tag auf dem Feld war, der fiel, klärte sich der Irrtum nie auf. Walther hat wegen der Kopfverletzung das Gedächtnis verloren und keiner der anderen Überlebenden hatte ihn identifizieren können.

Deswegen lebte er noch unter den Mönchen und ging ihn bei der Arbeit zur Hand. Ich bat den Soldaten sehen zu dürfen und mein Gesichtsausdruck, als ich Walther aus der Ferne im Kräutergarten Unkraut jäten sah, überzeugte den Abt sofort, dass dies mein Bruder sei. Und so brachte ich Walther und meine Ruth mit dem ersten Schiff gen Heimat nach Hause. Wir fuhren nach Deutschland und schifften uns in Bremerhaven ein.

Vorgestern liefen wir in Halifax ein und mit dem Abendzug erreichten wir Glen. Carter Flagg war am Zug, um eine Kiste abzuholen und nahm uns auf der Ladefläche mit."

Tief luftholend, beendete Shirley seinen Bericht.

„Der liebe Gott ist allmächtig", sprach Susan, das erste mal in ihrem Leben gänzlich fassungslos. „Liebe Frau Doktor, Rationalisierung hin oder her, dieses Ereignis schreit nach einem Cognac." Noch immer wie erstarrt, nickte Anne nur. Im Arbeitszimmer des Doktors, wo der gute Tropfen aufbewahrt wurde, musste die Haushaltsperle bei aller Freude über Shirleys Rückkehr doch den Kopf schütteln zu seiner Hunnenbraut. Aber sie würde sich hüten ein Wort zu sagen, hatte es doch dem Allmächtigen gefallen Walther in den Schoß der Familie zurückkehren zu lassen.

Sie trug die Karaffe und einige Gläser auf einem Tablett nach nebenan und schenkte einen fingerbreit für alle ein. Auch Rilla, die ungewohnt schweigsam war, erhielt ein Glas. Wortlos tranken alle, Rilla hustete beim ersten Schluck des ungewohnten Getränkes. Der Alkohol trieb allen die Farbe in die Wangen und mit neuer Kraft erhob Anne sich vom Sofa. Sie schloss Shirley in die Arme.

„Das du endlich wieder zu Hause bist, wir waren so in Sorge um dich."

„Ich schrieb euch aber doch im Juli einen Brief, in dem ich euch von meiner späteren Heimkehr berichtete."

„Wir haben nie mehr einen Brief erhalten und die Luftwaffe teilte uns mit, du wärest vermisst. Egal, nun bist du Zuhause. Und das du uns Walther wiedergebracht hast! Das können wir dir nie genug danken."

Etwas verlegen winkte Shirley ab.

„Willkommen in der Familie Blythe, Ruth", begrüßte sie dann ihre erste Schwiegertochter und umarmte sie ebenfalls kurz. Nun wendete sie sich Walther zu, der teilnahmslos in seinem Sessel der Geschichte gelauscht hatte. Er schaute nun verlegen drein, als die Frau, die seine Mutter sein sollte, ihn in die Arme schloss.

„Es ist schön, dass du wieder da bist. Du hast uns so gefehlt. Auch wenn du dich nicht an uns erinnern kannst, hier bist du daheim. Und auch wenn du es mit dem Kopf nicht begreifen kannst, so wirst du es doch im Herzen fühlen, wenn du erst einige Zeit hier in Ingleside gewesen bist."

Auch Susan drückte nun „ihren" Shirley herzlich zur Begrüßung, reichte seiner Braut aber nur zurückhaltend die Hand und strich Walther einmal über die Wange.

„Mein lieber Junge, wenn du erst einmal meinen berühmten Silber- und Gold- Kuchen gegessen hast, wirst du dich ganz wie Zuhause fühlen. Liebe Frau Doktor, ich werde jetzt erst einmal ein dem Anlass entsprechendes Abendessen bereiten." sprach es und war schon zur Tür hinaus.

„Und du Rilla, wie wäre es mit einem Kuss für deine heimgekehrten Brüder", fragte Shirley. Stürmisch warf sich seine kleine Schwester ihm in die Arme und küsste ihn gleich auf beide Wangen. Genauso herzlich empfing sie ihre Schwägerin, aber vor Walther zögerte sie.

„Lieber Walther, es ist so schön das du wieder da bist. Ich werde dir all unsere Lieblingsplätze zeigen, von unseren schönen Zeiten erzählen und dir deine Gedichte zu Lesen geben, die du früher so herrlich zu schreiben verstandest. Und vielleicht fällt dir dann alles wieder ein."

Diese lieben Worte rührten ihn und so war er es, der sie umarmte.

„Rilla, versuchst du bitte deinen Vater zu finden", bat Anne, da sie in diesem Moment unmöglich den Raum verlassen konnte. Die Jüngste ging zum Telefon und probierte es als erstes bei den Milgraves. Dort war aber nur Mrs. Milgrave, Joes Mutter, und berichtete, dass Dr. Blythe ihre Schwiegertochter und ihren Sohn schon vor Stunden ins Krankenhaus gefahren hatte. Sie überlegte sich, dass ihr Vater dann wohl kaum so bald zurück gewesen sein könnte, um noch einen anderen Patienten aufzusuchen und kehrte unverrichteter Dinge ins Wohnzimmer zurück.

„Ist schon gut, dann erfährt er es eben etwas später", sagte Anne froh und heiter wie in alten Tagen.

Ingleside lag in tiefster Finsternis als Gilbert gegen Mitternacht nach Hause kam. Müde spannte er die Pferde aus und versorgte sie mit Heu, bevor er ins Haus ging. Die Tür war nicht abgesperrt, was ihn verwunderte. Susan schloss sie eigentlich immer, wenn sie ins Bett ging und ließ die Seitentür für ihn auf. Da er aber lange nicht zu dieser späten Stunde heimgekehrt war, hatte er gar nicht mehr daran gedacht und war aus Angewohnheit zum Vordereingang gegangen. Nachdem er nun Ingleside betreten hatte, sperrte er ab und bemerkte erst, als er zu seinem Arbeitszimmer gehen wollte, dass aus der offen stehenden Wohnzimmertür ein Feuerschein drang. Gilbert stellte also seine Tasche ab und betrat den Raum. Im Kamin brannte ein lustiges Feuer, was ungewöhnlich für diese Nachtzeit war, und davor saß in ihrem Lieblingssessel seine geliebte Frau. In ihrem Morgenrock hatte sie sich in das Polster gekuschelt und war eingeschlafen. Liebevoll betrachtete er sie. Der Schlaf hatte alle Sorgen aus ihrem Gesicht genommen, meinte er. Sie sieht fast so jung aus, wie an dem Tag, als ich sie geheiratet habe, dachte er. Dann kniete Gilbert vor seiner Frau nieder, um sie sanft zu wecken. Eine sanfte Berührung der Wange reichte aus und Anne schlug die Augen auf, als hätte sie nur auf ihn gewartet. Und so war es natürlich auch.

„Anne, mein Schatz, du sollst doch nicht auf mich warten. Es reicht doch, wenn ich nächtelang an den Betten meiner Patienten ausharre."

„Oh Gilbert, ich konnte einfach nicht zu Bett gehen", sagte sie ganz aufgeregt. In so einem Zustand hatte er sie lange nicht erlebt. Besorgt fragte er:

„Ist etwas schlimmes passiert?"

„Nein, mein Liebster, etwas wunderbares, aber unglaubliches ist passiert", verkündete sie mit strahlendem Gesicht.

„Shirley ist heimgekehrt!"

Diese Nachricht haute ihn im wahrsten Sinne des Wortes um. Hatte er gerade noch vor ihr gekniet, so saß er nun auf dem Teppich.

„Und es gibt noch etwas wunderbares: Er hat Walther mitgebracht!"

„Du meinst seine sterblichen Überreste."

„Nein, unser Walther lebt! Er ist gar nicht so schwer verwundet gewesen." Und Anne erzählte nun ihrem Mann die ganze Geschichte, wie sie sie von Shirley gehört hatte. Gilbert war genauso fassungslos wie die restliche Familie, als sie dies gehört hatte und Anne brachte ihm einen kleinen Cognac.

Noch lange redeten Anne und Gilbert in dieser Nacht über die Rückkehr ihrer Söhne und es war kurz vor Morgengrauen, als sie schließlich zu Bett gingen.

„Wie geht es Miranda?" fragte Anne, als sie neben ihrem Liebsten lag.

„Die Ärzte haben das Baby per Kaiserschnitt geholt. Es war Rettung in letzter Minute. Die Nabelschnur hatte sich um den Hals des Kleinen gelegt und wäre er auf natürliche Weise zur Welt gekommen, hätte sie ihn erdrosselt. Nun sind beide wohlauf und in etwa zwei Wochen kann Miranda nach Hause."

„Da freue ich mich für die Milgraves. Erst am Freitag habe ich diese neue Methode wieder vor Miss Cornelia verteidigt und wie man sieht zu Recht", erzählte sie ihm.

„Sie haben den Kleinen John Gilbert genannt, nach dem Chirurgen und mir."

„Wenn jede Mutter, die ihr Leben und das ihres Kindes dir verdankt, ihr Kind nach dir benennt, wimmelt es bald in Glen und Umgebung von Gilberts", scherzte Anne.

„Nun ja, ab und zu werden ja auch mal ein paar Mädchen geboren", hielt er dagegen.

Dann küsste er seine Anne, schloss sie in die Arme und war auch schon eingeschlafen.

Nach nur wenigen Stunden Schlaf sprang Gilbert am Morgen aus dem Bett. Die Aussicht gleich seinen Söhnen entgegenzutreten, ermunterte ihn mehr als eine ganze Nacht voll Schlaf. Trotzdem rasierte und kleidete er sich vorbildlich, da auch eine Schwiegertochter ins Haus gekommen war, der man ordentlich unter die Augen treten musste. Als Gilbert schließlich nach unten kam, waren alle um den Frühstückstisch versammelt und erwarteten ihn bereits. Shirley sprang sofort auf, als sein Vater eintrat und eine so herzliche Umarmung wie diese hatte man bei diesen beiden noch nie erlebt. Susan traten vor Rührung Tränen in die Augen. Walther erhob sich etwas zögerlich von seinem Stuhl. „Mein Junge", sagte Gilbert mit belegter Stimme. Er schloss auch diesen Sohn in die Arme und zum vierten Mal spürte Walther die Liebe, die ihm von diesen, für ihn fremden Menschen, entgegengebracht wurde. Gilbert begrüßte auch Ruth und dann setzte man sich zum Frühstück nieder.

Den Anlass würdigend, begab Dr. Blythe sich nicht gleich nach der Mahlzeit zum ersten Hausbesuch. Statt dessen setzte er sich mit seinen Söhnen ins Wohnzimmer, um sich von Shirley nochmals von Walthers Entdeckung und die Zeit in Deutschland berichten zu lassen. Ruth half Susan und Rilla ganz selbstverständlich bei der Hausarbeit. Dabei war sie so ordentlich und bescheiden, dass sogar die Haushaltsperle mit ihrer Abneigung gegen alles deutsche, sie bewundern musste. Eigentlich ist sie ja nun gar keine Hunnen mehr, sondern eine Kanadierin, verteidigte sie die aufkommende Zuneigung für Ruth vor sich selbst. Und wenn der Allmächtige es so gewollt hat. Es steht schließlich schon in der Bibel: Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. Für ihren Shirley wäre auch keine einheimische Frau gut genug gewesen.

Anne ließ derweilen die Telefondrähte erglühen. In Carter Flaggs Laden würde die Rückkehr der Blythe- Jungs an diesem Morgen der einzige Gesprächsstoff sein und sich die Nachricht so in Windeseile verbreiten. Die Merediths und Miss Cornelia sollten die Neuigkeiten aber von ihr persönlich erfahren. Nach diesen Anrufen wählte sie die Nummer des Pfarrhauses in Avonlea. Dort bat sie die Frau des Reverend einen Boten zum Schulhaus zu schicken, der Nan die Nachricht überbrächte. Di bekam sie persönlich ans Telefon, als sie in der Summerside- High School anrief. Diese war ganz fassungslos, dass ihr Lieblingsbruder fast unverwundet nach Hause zurückgekehrt war. Da Jem im College war, als Anne schließlich nach Kingsport telefonierte, hinterließ sie ihm eine entsprechende Mitteilung bei seiner Pensionswirtin. Als nun alle informiert waren, die von der Heimkehr ihrer Söhne wissen mussten, gesellte sich Anne zu diesen. Rilla aber dachte an zwei weitere Personen, die vor allem von Walthers Überleben tief getroffen sein würden und so rief sie als erstes bei Gertrude Grant an, die es gar nicht fassen konnte, dass sie den lieben Walther nur um wenige Stunden verpasst hatte. Da die zweite Person nicht telefonisch erreichbar war, gab Rilla bescheid, dass sie einmal fortmüsse und begab sich zum Postamt. Unterwegs wurde Rilla von jedem Passanten angehalten und gefragt, ob es den wahr sei, was überall erzählt würde. Ihr heiterer Gesichtsausdruck war aber für alle Bestätigung genug. Auch auf dem Postamt musste sie viele Fragen beantworten, bevor sie endlich ihr Telegramm aufgeben konnte.

An Una Meredith, Hauswirtschafts- Schule Charlottetown

Liebe Una Stop Erschreck bitte nicht Stop Gute Nachricht Stop Walther lebt Stop Er ist gestern mit Shirley heimgekehrt Stop Deine Rilla

Die Botschaft hätte sie normalerweise ihre gesamten Ersparnisse gekostet, aber Mrs. Maxwell erließ ihr die Gebühr und bekam dafür einen überschwänglichen Wangenkuss ihrer Kundin. Diese kleine Rilla ist wirklich eine besondere junge Dame geworden, dachte die ältere Frau, als sie ihr nachblickte.

Nach einem fröhlichen Mittagessen begab Gilbert sich an seine Arbeit. Auch in der größten Freude dachte er nicht daran seine Pflichten zu vernachlässigen. Allerdings erlaubte er es sich heute einmal nicht persönlich nach Miranda Milgrave zu sehen, sondern sich nur telefonisch nach ihrem Befinden zu erkunden. Dann machte er seine übliche Hausbesuchsrunde, während Shirley seiner Frau und Walther Glen und das Regenbogental zeigte. Rilla musste dafür mit Anne die zahlreichen Besucher unterhalten, die sich am Nachmittag einstellten um die letzten Heimkehrer von Glen zu begrüßen.