Autor: Maik aka Bringhimup

Mailadresse: siehe Profil!

Disclaimer: Nichts an dieser Geschichte gehört mir, außer dem generellen Plot. Alle originalen Charaktere und Schauplätze, die aus dem HP-Universum entnommen sind, gehören J. K. Rowling oder Warner Bros. oder wem auch immer. Ich mache damit kein Geld.

AN: Die Geschichte ist endlich fertig. Sie ist ziemlich lang geworden (ein gutes Stück über 300.000 Wörter) und wurde von meinem Kumpel Ralf in etwa sechsmonatiger Arbeit BETA gelesen. Hier mal ein kleiner Nachweis seiner Tätigkeit:

Von ursprünglich 336.994 Wörtern sind noch 327.224 übriggeblieben.

Von ursprünglich 2387 "sagte/n" sind noch 876 übriggeblieben.

Die Zahl der Apostrophe hat sich dagegen von 82 auf 432 erhöht.

Die Zahl der Semikola auch: von 23 auf 411.

Die Zahl der Kommata? Ursprünglich waren es 23.231, jetzt sind es 26.001.

Da allerdings Tausende fehlerhafter Kommata entfernt und andererseits Tausende fehlender Kommata ergänzt wurden, bleibt die Zahl der tatsächlichen Kommafehler im dunkeln.

Was man allerdings feststellen kann, ist die Anzahl der Kommata vor einem "und". Davon gab es im ursprünglichen Text gerade einmal 19, jetzt sind es 3512.

Bevor ihr euch beschwert, dass alles in der alten Rechtschreibung gehalten ist, muss ich euch mitteilen, dass Ralf die neue deutsche Rechtschreibung verachtet und nicht gewillt war, sie zu benutzen, auch wenn ich alles nach der neuen geschrieben hatte.

Wenn Interesse bestehen sollte, kann man auf Anfrage die gesamte Geschichte von mir als Datei bekommen (schreibt einfach eure Mailadresse in euer Review. Achtung! Manchmal macht FanFiction,net aus der Mailadresse Müll). Es sind 845 Seiten (Verdana und Schriftgröße 12) und als PDF-Datei 2,8 MB.

Was eine Fortsetzung angeht, so muss ich euch mitteilen, dass ich davon noch kein Wort geschrieben habe. Ich kann nichts versprechen, aber auch ich will eine Fortsetzung haben … also werde ich sie wohl schreiben müssen. Allerdings erst, nachdem ich eine Fortsetzung zum Halb-Blut Prinzen geschrieben habe und damit Rowlings Fehlschlag mit Buch sechs ausgebügelt habe.

Inhaltsangabe: Harry ist nach Sirius' Tod - wie in so vielen Geschichten - am Boden zerstört, doch wird er aus seiner mentalen Gefängniszelle errettet. Er entschließt sich, ernsthafter zu lernen, und tatsächlich scheint das zu funktionieren. Dann beginnt der Krieg, und mal wieder wird unser Zauberlehrling von einem Schicksalsschlag getroffen, ehe es zu einer großen Schlacht kommt und er tatsächlich die Liebe findet. Danach passiert allerlei, was ihr am besten selber lest. Das Ganze ist übrigens auch eine Harry/Hermine-, Ron/Luna-, Neville/Ginny-Romanze; und nun wünsche ich euch viel Spaß.

HARRY POTTER UND DER ZWEITE KRIEG BEGINNT

Kapitel 1 - Unerwartete Hilfe

Es war ein schöner und außerordentlich warmer Tag, was durchaus ein wenig ungewöhnlich war, da der Sommer dem Kalender zufolge soeben erst begonnen hatte. Keine Wolke stand am Himmel, und nur der Kondensstreifen eines vorbeigeflogenen Flugzeuges war an ihm zu sehen. Ein lauer Wind fegte durch die Straßen, doch ein Junge mit stechend grünen Augen empfand es im ersten Moment als sehr angenehm. Irgendwie schien dieser leichte Wind nicht nur durch seine wirren schwarzen Haare zu wehen, sondern er schien auch seine schlechten Gedanken kurz zu verscheuchen, ehe sie um so härter zu ihm zurückkehrten. Das Treiben auf der Straße vor dem Bahnhof King's Cross war geschäftig wie immer, und so kam er nur langsam auf dem Bürgersteig voran. Er sah sich nach dem Auto seiner Verwandten um und glaubte es vielleicht hundert Meter entfernt auf der anderen Straßenseite entdeckt zu haben. Unsicher drehte er sich zu seinem Onkel, der ihm einfach nur zunickte. Zielstrebig, aber doch gemächlich näherte er sich dem Fahrzeug, während ihm Onkel Vernon, Tante Petunia und Dudley weiter folgten. Onkel Vernon grummelte die ganze Zeit irgend etwas, doch Harry hörte ihn gar nicht richtig, sondern hing weiter seinen Gedanken nach. Augenblicke später waren sie schon da, der Kofferraum wurde geöffnet und Harry James Potter, der Junge, der überlebte, versuchte seinen schweren Koffer ohne jede Magie hineinzuwuchten.

Kaum saß er im Wagen – seine Eule hatte er bei sich im Innenraum –, sank seine Stimmung schlagartig, ohne daß er wußte, warum. Aus dem Fenster konnte er Onkel Vernon beobachten, der noch kurz in einem Zeitungsladen verschwand, jedoch sofort zurückkam. Sein dicker Onkel stieg in den Wagen, steckte den Schlüssel ins Zündschloß und drehte ihn herum. Mit einem lauten Geräusch startete der Motor. Flüssig reihte sich sein Onkel in den Verkehr ein und schlug den Weg nach Hause ein.

Nach Hause; für drei von ihnen. Nicht jedoch für den schwarzhaarigen Jungen auf der Rückbank, der eingequetscht hinter seinem Onkel saß, welcher seinen Sitz maximal zurückschieben mußte, um überhaupt hinter das Steuer zu passen. Sie fuhren noch einmal an dem Bahnhof vorbei, und er konnte noch einen letzten Blick auf Hermine Granger und ihre Eltern erhaschen, die ebenfalls das Gebäude verließen. Er sah ihr noch einmal in ihre rehbraunen Augen, und sie erwiderte diesen Blick für einen winzigen Moment. Ein Blick, der ihn fesselte und mehr sagte als tausend Worte. Sie war sein bester Freund; noch mehr, als Ron Weasley es war, weil nur sie überhaupt in der Lage zu sein schien, auch nur annähernd zu begreifen, was wirklich in ihm vorging. Ron war es, der Spaß in sein trübes Leben brachte – bei ihr jedoch, da war es so viel mehr. Im letzten Moment hob sie noch den Arm zum Gruß, doch dann verschwand sie schon aus seinem Blickfeld, das kurzzeitig warme Gefühl in seinem Herzen war fort, und er war wieder allein … allein mit seinen letzten lebenden Verwandten. Er war allein mit den Menschen, die er am wenigsten mochte, ohne sie zu abgrundtief zu hassen.

Wie Harry es in all den Jahren gewohnt war, sprachen sie während der ganzen Fahrt fast gar nicht und erst recht nicht mit ihm. So starrte er einfach nur still aus dem Fenster und gab sich ganz seinen Gedanken hin. Der Tod seines Paten Sirius Black und die Prophezeiung gingen ihm dabei einfach nicht aus dem Kopf. Er versuchte die Gedanken daran zu verdrängen, doch mußte er sich stets aufs neue fragen, ob er es nicht doch hätte anders machen müssen - natürlich hätte er. Unglaublich dämlich war er vorgegangen und hatte alles mißachtet, was man ihm jemals beigebracht hatte. Er hatte den Zweiwegespiegel vergessen, der alles hätte verhindern können, und hatte dem Wesen geglaubt, dem er niemals hätte Glauben schenken dürfen. Seine Verzweiflung wuchs, und seine Augen wurden feucht, doch hielt er die Tränen zurück. Niemand bemerkte es. Dudley spielte mit einem Gameboy, während Onkel Vernon sich auf die Straße konzentrierte und Tante Petunia die Augen geschlossen hatte und sich an die Kopfstütze anlehnte. Wieder sah er aus dem Fenster und stellte fest, daß ihm seine Freunde schon jetzt fehlten, kaum daß er eine halbe Stunde von ihnen getrennt war, und er fragte sich verzweifelt, ob er jemals über all das hinwegkommen würde, was sich im letzten Jahr als zusätzliche Last auf seine Schultern gelegt hatte. Inständig hoffte er es, doch allein der Glaube daran fehlte ihm.

Als sie im Ligusterweg Nummer 4 in der Einfahrt anhielten, bemerkte er erst, wie schnell die Zeit vergangen war. Mühsam stieg er aus dem Auto und versuchte dabei Hedwigs Käfig möglichst ruhig zu halten. Er holte seinen Koffer und schleppte alles ins Haus. Keine unnötigen Worte verlor er, stieg die Treppe nach oben, öffnete die Tür zu seinem Zimmer, verschwand dahinter und schloß sie wieder. Behutsam stellte er Hedwigs Käfig auf den Schreibtisch, öffnete ihn und auch das Fenster. Seine schöne Schnee-Eule kletterte hinaus, außen am Käfig hoch und breitete ihre großen Flügel aus, die sie endlich wieder strecken durfte. Harry hatte erwartet, daß sie sofort losfliegen würde, doch schien sie das nicht vorzuhaben.

Sein Koffer blickte ihn plötzlich merkwürdig an, zumindest wirkte es einen Moment so, und ein komisches Gefühl, wieder hierzusein, packte ihn. Absolut nichts hatte sich hier verändert, und auf eine merkwürdige Art beruhigte ihn das. Er wollte gerade den Koffer öffnen und auspacken, als ihm ein Schauer über den Rücken lief und er es vorzog, sich zuerst auf das Bett zu setzen. Die Augen seiner Eule funkelten ihn mitfühlend an, und er gab sich dem Moment des Selbstmitleides hin, bevor die Schuldgefühle zurückkamen. Langsam ließ er den Oberkörper sinken, bis er gänzlich auf dem frisch bezogenen Bett lag. Der Geruch von Tante Petunias Waschpulver und Weichspüler stieg ihm in die Nase, ein Geruch, den er nicht ausstehen konnte.

Kaum hatte er sein Bettzeug am offenen Fenster plaziert, um es ein klein wenig auszulüften, sah er wieder seinen Koffer und begann ihn auszupacken. Fast ganz unten fand er den beschädigten Zweiwegespiegel, den ihm Sirius einst geschenkt, den er aber niemals benutzt hatte. Obwohl er ihn irgendwie als Andenken an seinen Paten behalten wollte, warf er ihn in den Mülleimer, erinnerte es ihn doch noch mehr an den schlimmsten Fehler seines Lebens.

In weniger als zehn Minuten hatte er alles ausgepackt und wußte nun nicht so recht, was er tun sollte. Er spürte keinen Hunger, keinen Durst und ging deshalb erst einmal auf die Toilette. Was sollte er dann tun? Hinausgehen ... in die Sonne, kam es ihm in den Sinn, doch im gleichen Moment erschien es ihm nutzlos und töricht. Er blickte zu seinen Büchern, die auf dem Schreibtisch neben Hedwigs Käfig lagen und nahm eines von ihnen, welches er nie zuvor gelesen hatte. Es war ein Buch, welches ihm Hermine schon vor ein paar Wochen geschenkt hatte und das sie selbst auswendig zu können schien. Ein Buch, welches sie wahrscheinlich nie mehr im Leben zu lesen brauchte.

»Eine Geschichte von Hogwarts« las er laut den Titel und seufzte. Wie oft hatte sie Ron und ihn über den Inhalt belehren müssen und wie oft hatten sie sich darüber beschwert - er wußte es nicht mehr. Als Hermine es ihm geschenkt hatte und er sie nach dem Grund gefragt hatte, hatte sie nur einen Blick auf Ron geworfen und geantwortet, daß dieser es nie lesen würde, sie bei ihm aber noch Hoffnung hätte. Obwohl sie es ihm schon vor Wochen gegeben hatte, hatte er es bisher nicht für nötig gehalten, auch nur einen Blick hineinzuwerfen. Kaum hatte er das Buch geöffnet, fiel ihm eine Widmung auf. Hermine hat doch tatsächlich etwas für mich hineingeschrieben, dachte er.

»Für meinen besten Freund Harry. Du kannst immer auf mich zählen, egal was kommt. Deine Hermine«, las er ganz leise, und selbst Hedwig, die nur wenige Zentimeter von ihm entfernt saß, hätte es nicht verstehen können. Sie hatte diese Widmung vor Sirius' Tod geschrieben, doch zweifelte Harry nicht für eine Sekunde, daß es auch für diese Angelegenheit Gültigkeit haben würde. Augenblicke später lag er auf dem Bett und begann tatsächlich zu lesen.

»Essen ist fertig«, rief plötzlich eine weibliche Stimme von unten, und es konnte nur die von Tante Petunia gewesen sein.

Harry blickte leicht erschrocken auf und legte das Buch zur Seite, von dem er schon fast ein Drittel gelesen hatte. Wie konnte das sein, eben noch habe ich zu lesen begonnen, und nun sind Stunden vergangen? Wie konnte das sein? Er versuchte, sich das Gelesene in Erinnerung zu rufen, fast so, als ob er nicht glauben konnte, es tatsächlich aufgenommen zu haben. Ein merkwürdiges Gefühl überflutete ihn, als er sich an unglaublich vieles zu erinnern schien. Zuerst dachte er, daß es nur die Dinge wären, die Hermine ihm so oft heruntergebetet hatte, doch dann fielen ihm auch Sachen ein, die sie nie erwähnt hatte.

Zwanzig Uhr war es, was ihm ein weiterer Blick sagte, und obwohl er nicht den geringsten Hunger verspürte, beschloß er tatsächlich, etwas zu essen. Er stopfte eine Socke als Lesezeichen in das Buch und lief langsam die Treppe hinunter. Zwar sprach keiner mit ihm, doch überraschte ihn ein voller Teller mit dick belegten Broten. Harry griff ein halbes davon, das wohl mit einem Streichkäse belegt war und nahm einen Bissen. Obwohl er sich anstrengte, schmeckte es beinahe nach nichts, und als er den Brocken schluckte, wirkte es, als ob ein großer Stein seine Speiseröhre hinunterrutschen würde. Ein Schluck kalter Milch wurde von ihm hinterhergeschickt, der den Stein nur unmerklich beschleunigte und tonnenschwer in seinen Magen plumpsen ließ. Er wollte zu einem weiteren Bissen ansetzen, doch das unangenehme Gefühl von eben hinderte ihn daran. Essen mußte er etwas, doch sein Körper schien sich dagegen zu sträuben. Zögerlich erhob er sich vom Tisch und erntete verunsicherte Blicke seiner Familie, wenn man sie überhaupt als solche bezeichnen konnte.

Gemächlich drehte er sich zur Tür, die zum Flur führen würde, aber bevor er wieder nach oben gehen konnte, hielt ihn Tante Petunia am Arm fest.

»Du kannst gern die Nachrichten sehen«, sagte sie nur kurz und biß von ihrem Brot ab. Nur für einen Moment wunderte er sich auch darüber, doch glaubte er nicht daran, in den Nachrichten etwas Interessantes hören zu können, und entschied sich, wieder nach oben zu gehen, ohne auch nur ein Wort zu sagen.

An der Treppe warf er einen Blick zurück und sah gerade noch, wie Dudley sich über seine Brote hermachte. Kaum war er wieder in seinem Zimmer, schrieb er schnell seinen ersten kurzen Brief an Remus Lupin und schickte Hedwig damit los, die noch immer auf ihrem Käfig gehockt hatte. Er schrieb kaum mehr, als daß es ihm gutging, und verstaute dann seine Schreibutensilien. Danach holte er seine Bettwäsche vom Fenster und ging zurück zum Bett, wo er das Buch nahm und es bei der Socke wieder aufschlug.

Über das Lesen vergaß er, an Sirius zu denken, und das vor allem auch deshalb, weil die Lektüre zu seiner Überraschung überaus fesselnd war. Mit der Zeit wurde es draußen dunkler, und er mußte seine Leselampe einschalten und das Fenster schließen, um keine Mücken herbeizulocken. Mit jeder Seite, die er las, nahm seine Müdigkeit zu, und obwohl er eigentlich gerade an einer spannenden Stelle angekommen war, beschloß er gegen zwei Uhr, endlich schlafen zu gehen. Zum Weiterlesen waren seine Augen sowieso nicht mehr fähig und hatten schon in der letzten Stunde beinahe ununterbrochen gebrannt. Als er das Buch schließlich zuschlug, hatte er gerade darüber gelesen, warum das Trimagische Turnier abgeschafft worden war, und obwohl er erwartet hatte, nur bei der Erwähnung des Turniers an Cedrics Tod zurückdenken zu müssen, war es nicht passiert. Ein wenig wunderte er sich darüber und hoffte, daß es ihm mit der Erinnerung an Sirius' Tod auch einmal so gehen würde. Schließlich schaltete das Licht aus und sah noch einen Moment an die Zimmerdecke, ehe er die Augen schloß.

Bilder erschienen vor ihm, und sie waren so nah, so echt, als ob er sie wirklich sehen könnte. Er sah das Ministerium vor sich, den Raum mit den zwölf Türen, die Regale mit den Prophezeiungen und die Todesser. Schreckliche Bilder sah er nur einen Moment später, als Sirius langsam durch den Torbogen fiel und ihn dabei so seltsam ansah. Sein Puls beschleunigte sich, und immer mehr Gedanken und Bilder strömten auf ihn ein, ihm wurde speiübel und er schnellte in seinem Bett hoch.

Verwirrung und Angstgefühle stiegen unglaublich schnell in ihm auf, und die Dunkelheit lastete schwer auf seiner Seele. Der Ausdruck in Sirius Augen war so schrecklich gewesen; Harry wollte das nicht noch mal sehen, unter keinen Umständen. Überschüssige Feuchtigkeit bildete sich in seinen Augen, doch hielt er mühsam die Tränen zurück, welche seine Seele weinen zu müssen meinte. Der Retter der Welt durfte nicht weinen, dachte er und riß sich am Riemen. Er fühlte, wie sich die Dunkelheit über ihn legte und nach ihm zu greifen schien. Schatten jagten ihm einen Schrecken ein, und er begann unmerklich zu zittern. Mit jeder Sekunde fühlte er sich unwohler und war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Er wollte zu seinem Zauberstab greifen und an seiner Spitze ein Licht erleuchten lassen, doch es war ihm nicht möglich. Sein Atem setzte aus und sein Herz begann zu rasen, er fing an zu schwitzen, und Panik stieg in ihm auf. Was sollte er nur tun? Wie sollte er aus dem Bett kommen? Harry wollte methodisch vorgehen, doch schaffte er es nicht einmal, wieder zu atmen. Sollte er jetzt ersticken? Die Panik in ihm wurde immer größer, und seine Zunge schien anzuschwellen. Noch immer konnte er sich keinen Millimeter rühren, sein Blick begann durch den Sauerstoffmangel zu verschwimmen, und starke Kopfschmerzen setzten ein. Jeden seiner Herzschläge spürte er pochend in seinem Schädel und drohte ihn platzen zu lassen. Die Adern an seinen Schläfen und an seinem Hals fühlte er förmlich anschwellen, und mit jeder Sekunde wurden sie dicker. Der Druck in ihm wurde immer größer, kaum noch zu ertragen, bis er sich plötzlich in einem lauten Schrei löste.

»HILFE!«

Hatte er es wirklich getan? Hatte er um zwei Uhr in der Nacht gewagt, seinen Onkel, Tante und Cousin mit einem lauten Schrei zu wecken, nur weil ihm die Dunkelheit Angst machte und ihm die Luft raubte?

Mit einem Satz war er aus dem Bett gesprungen und schaltete das Licht wieder ein. Sich gleich etwas besser fühlend, begann er sich unsicher im Zimmer umzublicken. Dunkelheit hatte ihm niemals zuvor Angst gemacht, und er war unsicher, was er dagegen tun sollte, als er einige laute Geräusche im Haus hörte. Momente später kam jemand laut trampelnd den Flur entlanggejagt, und Harry wußte, daß es nur Onkel Vernon sein konnte. Was sollte er tun? Wie sollte er es erklären? Wollte er es überhaupt erklären? Nein, er wollte nicht mit seinem Onkel reden, er wollte mit niemandem reden. Reden heißt erinnern, erinnern heißt nicht vergessen. Er wollte vergessen, dachte er, als schon laut die Tür aufgerissen wurde und ihn damit aus seinen Gedanken riß.

»Was ist hier los?« brüllte Onkel Vernon, der einen Besenstiel in der Hand hielt, mit dem er wohl potentielle Angreifer abwehren wollte. Hektisch blickte er sich im Zimmer um, sah zum Fenster, blickte in jede Ecke, bis sein Blick an Harry hängenblieb: »Was brüllst du wie am Spieß?« Sein Onkel war zornig und senkte für einen Moment den Besenstiel, bis er ihn doch wieder hob und damit nun wohl Harry drohen wollte.

»Ich – es - tut mir leid … Alptraum!« stotterte Harry mehr, als daß er es sagte, und hob entschuldigend die Arme.

Nah an der Wahrheit dran, doch weit genug weg, dachte er und wollte schon wieder in Richtung seines Bettes gehen, als Dudley in der Tür auftauchte.

»Geh wieder schlafen, mein Junge, Potter hatte nur einen Alptraum«, sagte Vernon zu seinem Sohn, und seine Stimme hatte irgendwie einen gehässigen Klang angenommen. Er wandte sich wieder Harry zu, als Dudley tatsächlich davontrottete. »Und du … mach hier nie wieder so ein Theater!« Offensichtlich enttäuscht, ihn nicht benutzen zu können, ließ Vernon den Besenstiel sinken und drückte sich rückwärts aus dem Zimmer.

Langsam hatte sich Harry ein wenig entspannt, wischte den kalten Schweiß von seiner Stirn und trocknete seine Hand an seinen Shorts. Er setzte sich auf seinen Schreibtisch und begann zu grübeln. Wieso sah er plötzlich diese Bilder? In Hogwarts träumte er zwar schlecht, aber er konnte wenigstens einschlafen. Lag es an seinen Zimmernachbarn, die immer da waren ... jede Nacht? Was sollte er jetzt nur tun? Wie sollte er mit alledem fertig werden? Ging das, ohne fremde Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen – und das war das letzte, was er tun wollte? Für einen Moment überlegte er, zu einem Muggelarzt zu gehen, doch auch diesen Gedanken verwarf er schnell. Wenn er aus Versehen zuviel erzählen würde, gäbe es wahrscheinlich kaum eine Chance, eine Einweisung in eine Nervenklinik zu verhindern; und ob selbst Dumbledore ihn aus einer solchen wieder herausholen konnte, dessen war sich Harry nicht sicher.

Bei dem Gedanken an seinen Schulleiter packte ihn kurz eine Welle des Zorns, ehe sie genauso schnell wieder abebbte. Obwohl er es so sehr gewollt und auch versucht hatte, konnte er seinem Schulleiter nie wirklich lange böse sein. Natürlich hatte sich Harry wie ein Bauer in einem Schachspiel gefühlt, doch wenn er ehrlich war, hätte er es an Dumbledores Stelle vielleicht genauso gemacht. Seine Absichten waren stets gut, und er stand eindeutig auf der richtigen Seite, auch wenn er alt geworden war und dies negative Konsequenzen nach sich zu ziehen schien. Auch war es irgendwie ein tröstlicher Gedanke, daß selbst er einmal Fehler machte, die schlimme Folgen haben konnten, denn es schien ihn menschlicher und damit Harry ein wenig ähnlicher zu machen. Wenn es nämlich eines gab, was Harry in seinem noch jungen Leben wahrscheinlich erheblich mehr gemacht hatte als Dumbledore in seinem ganzen Leben, dann waren es Fehler.

Allein der Fehler, nicht an den Zweiwegespiegel gedacht zu haben, wog für Harry jedoch weitaus schwerer als jeder Fehler, den ihm Dumbledore am Ende des letzten Schuljahres gebeichtet hatte. Das Dumbledore Ron und nicht ihn zum Vertrauensschüler gemacht hatte, war ihm im nachhinein sogar sehr recht gewesen, und bei der Angelegenheit mit der Prophezeiung war er sich auch nicht sicher, warum er zornig auf seinen Schulleiter sein sollte. Sicher hätte er es ihm früher sagen können, vielleicht sogar müssen, doch tief in seinem Inneren wollte er auch jetzt noch nichts davon wissen.

Zum Mörder werden oder selbst ermordet werden, so hatte die Prophezeiung gelautet, von der er noch nicht einmal seinen Freunden erzählt hatte und von der er sich unsicher war, ob er es ihnen jemals würde sagen wollen.

Nicht einmal Hermine hatte er es sagen können, zu groß war seine Angst gewesen, sie würde ihm nur noch mit Verachtung in die Augen sehen können. Irgendwie wußte er zwar, daß es Blödsinn war, so von seiner Freundin zu denken, doch war ihm ihre Meinung über ihn viel wichtiger, als es seine eigene war.

Daß Dumbledore ihn nicht selbst in Okklumentik unterrichtet hatte, war zwar sicher ein Fehler gewesen, doch sollte er ihm böse sein, weil dieser sein eigenes Leben vor Voldemort hatte schützen wollen? Zu gut konnte sich Harry noch daran erinnern, wie er Voldemort in seinem Geist gespürt hatte, er beinahe Besitz von ihm ergriffen hatte und das unbändige Verlangen ausgelöst hatte, Dumbledore anzugreifen. Zudem hätte er ohne den Unterricht bei Snape niemals in sein Denkarium sehen und so einige für ihn unglaublich kostbare Erinnerungen erblicken können, die ihm eine nie geahnte Sichtweise auf seine Eltern, Sirius, Remus und Snape selbst ermöglicht hatten. Die Erinnerungen waren sowohl wertvoll als auch unangenehm gewesen, bedeuteten sie doch, daß sein Vater nicht der makellose Held gewesen war, während zugleich Snape nicht so schlimm war, wie er es sich hatte immer einreden wollen.

Sicher war er auf Dumbledore zornig wegen all dieser Dinge, doch hielt dieses Gefühl nur selten lange an, da er sowieso lieber dazu neigte, in Selbstmitleid zu versinken. Dies war eine Sache, die Harry im letzten Jahr zwar an sich ausgemacht hatte, die er aber nicht zu ändern vermochte. Er wollte es liebend gern - sich ändern -, doch es war schwer, weil es viel einfacher war, in liebgewonnene Verhaltensweisen zurückzufallen; und dies war eine, die er sehr liebgewonnen hatte, auch wenn er es sich nie wirklich würde eingestehen können.

Als er das nächste Mal auf die Uhr sah, bemerkte er, daß es schon halb drei war. Es war nun eigentlich wirklich an der Zeit, schlafen zu gehen, doch hielt ihn irgend etwas davon ab, einfach vom Schreibtisch aufzustehen und das Licht auszuschalten. Er wollte hier raus. Er wollte nicht hier sein. Aber vor allem wollte und konnte er nicht allein sein. Doch wo sollte er hin? Hogwarts war nicht möglich. In der Schule war nur Filch zurückgeblieben, und mit ihm allein würde es noch schlimmer sein, als hier allein zu bleiben. Sicher könnte er bald in den Grimmauldplatz, doch allein der Gedanke an diesen Ort ließ dunkle Gefühle in ihm aufsteigen. So dunkle Gefühle, daß es ihm Angst machte. Vielleicht würde er irgendwann dahin zurückkehren können, doch im Augenblick schien ihm dies fast unmöglich zu sein. Der Fuchsbau war die schönste Idee, die ihm kam, doch konnte er solange nicht dahin zurück, wie es die Weasleys nicht konnten, weil Voldemort ihr Zuhause bedrohte.

Ohne eine Lösung für sein Problem rutschte er vom Schreibtisch und ging zum Fenster. Er schob den rechten Vorhang zu Seite und blickte hinaus in eine sternenklare Nacht. Wie gerne würde er schlafen können, einfach die Augen schließen und nichts Schlimmes sehen. Vielleicht von einem hübschen Mädchen träumen oder von einem Sieg beim Quidditch, doch statt dessen wußte er nur zu gut, daß er Sirius sterben sehen würde, und das war das letzte, wovon er träumen wollte.

Widerwillig ging er zu seinem Bett zurück, ließ aber das Licht an. Dunkelheit hab' ich in meinem Leben genug erlebt, dachte er und legte sich hin. Sich entspannend, versuchte er ganz langsam die Augen zu schließen. Seine Okklumentikübungen kamen ihm in den Sinn, und er versuchte seinen Geist zu leeren. Kaum hatte er die Augen vollständig geschlossen, sah er Sirius fallen. Er zwang sich unter größter Anstrengung hinzusehen. Nicht die Augen öffnen, ertrag es einfach, dachte er und biß sich dabei auf die Unterlippe. Er spürte nur einen leichten Schmerz, schmeckte aber sofort das leicht metallische Blut. Hart kämpfte er mit sich, wie er es nur selten getan hatte. Immer und immer wieder sah er es wie in Zeitlupe und hielt es kaum noch aus, bis er plötzlich etwas anderes sah, das nur kurz Zeit davor passiert war.

Er sah den Todesser, den Hermine in der Mysteriumsabteilung stummgeflucht hatte … wie er eine jähe peitschende Bewegung mit dem Zauberstab vollzog und eine Art violetter Flammenschweif glatt Hermines Brust durchfuhr. Sie gab nur noch ein leises »Oh!« von sich, so, als ob sie selbst überrascht gewesen wäre, brach zusammen und blieb reglos am Boden liegen. Harry hörte, wie er laut ihren Namen schrie, doch wußte er genau, daß es damals passiert war und Onkel Vernon nicht kommen würde, um ihn dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Ein weiterer schlechter Gedanke durchfuhr ihn und ließ ihn immer panischer werden. Laß sie nicht tot sein, laß sie nicht tot sein, es ist meine Schuld, wenn sie tot ist - er sah sie daliegen, und eine starke Übelkeit überkam ihn. Er wußte, daß alles nur Erinnerungen waren, Hermine überlebt hatte, doch die Emotionen waren übermächtig.

Harry konnte nicht mehr und riß entsetzt die Augen auf. Sofort entspannte sich sein Körper, und er merkte, daß er sich brutal in seine Bettdecke gekrallt hatte. Erleichterung machte sich kurz in ihm breit, doch gleichzeitig auch die Furcht, nie mehr sorglos einschlafen zu können. Plötzlich spürte er etwas auf seinem Kinn. Etwas Warmes lief dort hinunter. Unbewußt wischte er es weg und betrachtete seine Hand. Es war sein eigener Speichel, mit einer kleinen Menge Blut vermengt. Dies ließ ihm bewußt werden, daß er sich soeben verletzt hatte, auch wenn es nicht wirklich schlimm war. Von alledem erschöpft, zog er seine Beine an und umklammerte sie mit seinen Armen, während er auf den leeren Käfig von Hedwig starrte. Soll ich es wagen? Soll ich meine Augen schließen, fragte er sich übermüdet, und tat es dann einfach. Schmerz, überall nur Schmerz.

Erschrocken riß er die Augen auf und sah auf die Uhr. Er war zehn Minuten eingenickt, aber gleich wieder aufgewacht. Seine Müdigkeit aber war nun noch größer geworden, so daß er sofort wieder die Augen schließen mußte, egal was auch immer kommen würde. Wieder schrak er hoch, und die Verzweiflung in ihm wuchs, als er sah, daß er wieder nur einige Minuten weg gewesen war.

Stundenlang ging es so weiter. Meist schaffte er zehn Minuten, einmal sogar eine halbe Stunde, aber manchmal war es auch viel weniger. Sein Geist war überflutet mit den schrecklichsten Bildern seines Lebens, und er konnte sich in dieser Nacht nicht erholen. Das genaue Gegenteil war der Fall.

Als er sich morgens um halb acht zum Frühstück schleppte, fragte ihn sogar Onkel Vernon, ob alles in Ordnung sei, so schlecht sah er aus. Er selbst hatte es nicht gesehen – einen Grund, in den Spiegel zu schauen, hatte er nicht finden können –, doch war er laut Onkel Vernon leichenblaß. Wenn er die Situation genau betrachtete, was ihm mit seinem strapazierten Geist sehr schwer fiel, wunderte es ihn nicht - was nur zu verständlich nach einer Nacht wie dieser war, die ihn wohl mehr Kraft gekostet hatte, als wenn er sie irgendwo durchgemacht hätte.

Am Frühstückstisch fielen ihm immer wieder die Augen zu, und sofort waren die grausamen Bilder da, die ihm jeden Appetit raubten. Zwei Bissen und drei Schluck Milch quälte er sich hinunter, ehe er nach einem kurzen Toilettenbesuch, der ihm kaum Erleichterung verschaffte, wieder in seinem Bett verschwand und den ganzen Tag in einer Art Wachkoma dahinvegetierte.

Zum Mittagessen hatte er sich gar nicht mehr die Mühe gemacht herunterzugehen, und auch zum Abendessen fehlte ihm jeder Wille. Tante Petunia brachte ihm später etwas nach oben und saß sogar kurz auf seinem Bett, schien es aber nicht fertigzubringen, ihm irgend etwas zu sagen. Von dem Essen war am nächsten Morgen noch alles unberührt, wenn man von zwei fehlenden Bissen an einem Wurstbrot absah. Auch das Glas mit Orangensaft war noch voll, was seine Tante am nächsten Morgen veranlaßte, sich doch noch einmal zu ihm zu setzen. Harry hatte sich sogar die Mühe gemacht, sich umzudrehen und sie anzusehen, doch noch immer sagte sie kein Wort. Alles, was sie letztlich tat, war den Teller und das Glas gegen frisches Essen auszutauschen und das Fenster zu öffnen, durch das am Mittag Hedwig zurückkam, was Harry aber nicht mehr wirklich mitbekam. Dieser ständige Wechsel von kurzem Einnicken und sofortigem Aufschrecken währte noch immer an, auch wenn er beim Aufschrecken keine körperliche Reaktion mehr zeigen konnte.

Später am Abend war Tante Petunia wohl wieder da, doch Harry lag nur kraftlos im Bett und döste vor sich hin. Plötzlich spürte er, wie er auf den Rücken gedreht wurde, jemand seinen Kopf hob und er heftig anfangen mußte zu schlucken und sich dabei mehrmals verschluckte. Er mußte husten und wurde auf den Rücken geschlagen, bis es aufhörte. Doch all das sah er nur verschwommen. Seine Brille hatte er längst nicht mehr auf der Nase, und seine Augen waren so übermüdet und knallrot, daß er selbst mit Brille nicht mehr als Schemen wahrgenommen hätte. Er spürte, wie er wieder ins Bett gelegt wurde und wie jemand aus dem Zimmer verschwand und eine undefinierbare Zeitspanne später zurückkam. Wieder wurde sein Kopf angehoben, und jemand steckte ihm etwas in den Mund. Er wollte sich dagegen wehren – wer weiß schon, wer ihm da etwas verabreichen wollte –, allein die Kraft fehlte. Wieder mußte er etwas schlucken, und tatsächlich konnte Harry irgend etwas schmecken - es war ekelhaft süß. Das Licht wurde ausgemacht und er allein gelassen. Schwer senkten sich seine Augenlider, und endlich driftete er in einen Schlaf, der die Bedeutung des Wortes vielleicht sogar verdiente.

Am nächsten Morgen erwachte er in seinem eigenen Erbrochenen, zumindest roch es so. Jemand hatte irgendwas geschrien und ihn herumgedreht, bis Harry in der Lage gewesen war, ein bißchen von dem zu begreifen, was an diesem Morgen vor sich zu gehen schien. Tante Petunia war in seinem Zimmer und versuchte, ihn aus seinem Bett zu ziehen, bis sie es erfolglos aufgab. Sie verschwand aus dem Raum und kam mit Onkel Vernon zurück. Harry wollte ihm was sagen, doch er ließ es bleiben. Mühelos hob er Harry aus dem Bett und brachte ihn ins Bad. Unsanft legte er ihn in die Wanne und drehte kaltes Wasser auf, was Harrys Sinne sofort weiter belebte. Immer klarer hörte er ihn, während er immer mehr zu frieren begann.

»Was tust du?« waren Harrys erste Worte, die er seit Tagen sprach.

»Dich waschen, Bengel. Hast dich voll gekotzt«, antworte sein Onkel grimmig und irgendwie zornig. Hab' ich überhaupt was gegessen, fragte sich Harry, den es jetzt vor Kälte schüttelte.

»Bitte wärmer«, zischte er mit klappenden Zähnen, und tatsächlich drehte Onkel Vernon das warme Wasser auf.

Ein angenehmes Gefühl überflutete ihn zum ersten Mal, seit er am Bahnhof noch einen letzten Blick auf Hermine hatte erhaschen können. Onkel Vernon zog ihm überraschend die Sachen aus, spülte sie ab und wrang sie aus, bevor er sie ins Waschbecken warf. Langsam stellte sein Onkel das Wasser ab und holte ein Handtuch, mit dem er anfing, Harry abzutrocknen, der all dies über sich ergehen ließ.

»Kannst du stehen?« fragte er Harry aggressiv, doch diese Frage konnte dieser ihm nicht beantworten. Onkel Vernon zog ihn hoch und versuchte ihn in der Ecke abzustellen, was nicht gelang, da Harrys Beine sofort nachgaben. »Hilf mit!« brüllte er, und Harry versuchte es wirklich.

»Kann nicht«, brachte er nur mühsam heraus und wurde von Vernon aus der Wanne gehoben.

»Hier hat er frische Sachen«, sagte Tante Petunia, die in der offenen Tür erschien. Normalerweise wäre es Harry sehr unangenehm gewesen, wenn sie ihn nackt gesehen hätte, doch im Augenblick war ihm alles egal. Vernon setzte ihn auf der Toilette ab und trocknete ihn weiter, während Tante Petunia wieder verschwand.

Wenige Minuten später lag Harry schon wieder in seinem Bett und Onkel Vernon wollte ihn zwingen, etwas zu essen. Abermals konnte er den widerlichen Gestank von Waschpulver und Weichspüler riechen, doch er ignorierte es, was ihm nicht leicht fiel, da auch Dudleys abgetragener Schlafanzug danach roch.

»Iß endlich was Richtiges, ich muß zur Arbeit. Dudleys Powerdrink mußtest du ja erbrechen«, zischte er Harry wütend an.

»Was habt ihr gestern getan?« fragte Harry verwirrt, während ihm Onkel Vernon eine Scheibe Brot in den Mund drücken wollte, wogegen er sich sogleich zur Wehr setzte.

»Eine Schlaftablette und der Drink«, zischte Vernon, nachdem er Harrys schwache Gegenwehr überwunden hatte.

Widerwillig zwang sich Harry zu kauen und spülte den Brei mit Saft hinunter. Noch immer war es, als würde er Steine essen, und längst waren die Traurigkeit und die Angst vor den schrecklichen Bildern in ihn zurückgekehrt. Als Harry den Teller leer gegessen hatte, verschwand Onkel Vernon sauer aus seinem Zimmer und schloß die Tür. Wieder allein ... immer allein.

Tonnenschwere Steine lagen jetzt in Harrys Bauch und machten jede Bewegung mühsam und anstrengend. Natürlich wußte er, daß die Dursleys ihm nur halfen, weil sie sonst mit Mad-Eye Ärger bekommen würden, doch es war ihm egal. Einige Augenblicke döste er so vor sich hin, ehe ihm langweilig wurde und er sich wieder Hermines Buch nahm. Bis kurz nach zwei hatte er auch den Rest davon gelesen und sogar erstaunlich viel behalten, was ihm bei seinem Zustand wie ein Wunder vorkam. Was er als nächstes tun sollte, wußte er nicht, und so döste er weiter vor sich hin, immer versuchend, nicht einzuschlafen.

Mehrmals am Tag quälte er sich kraftlos zur Toilette, da er plötzlich starken Durchfall bekommen hatte, und anschließend zurück in sein Bett, in dem er weiter dösend herumlag. Eigentlich hatte er ja erwartet, Tante Petunia würde ihm zwischendurch das Mittagessen hochbringen, doch kam sie erst abends wieder und hatte erneut einen Teller mit Broten dabei. Kommentarlos stellte sie ihn hin, doch warf sie noch einen ärgerlichen Blick auf ihn, der wohl bedeuten sollte, wenn du sie nicht ißt, schick ich Vernon, der wird sie dir schon reinzwingen. Widerwillig aß Harry zwei Scheiben und trank das halbe Glas mit Saft. Es lag auch eine Tablette bei, die wohl eine Schlaftablette war, doch die ließ er liegen. Warum, das wußte er nicht.

Die Nacht war wieder grausam. Eine Nacht voll schrecklicher Bilder und unerträglicher Erinnerungen, die er nie wieder sehen wollte. Ständig sah er Sirius fallen, Cedric fallen, eine versteinerte Hermine, eine von einem Fluch getroffene Hermine, Neville mit gebrochener Nase, Gehirne, die Ron anfielen, und dann alles wieder von vorn. Er sah Ginny in der Kammer des Schreckens, am Boden liegend, ohne Lebensenergie. Er sah Dementoren, die Sirius den Kuß geben wollten, er sah, wie sie Hermine den Kuß geben wollten, und das gab ihm den Rest.

Bis Tante Petunia ihn schließlich endgültig weckte, hatte er insgesamt höchstens eine oder zwei Stunden geschlafen, aber nie mehr als zwanzig Minuten am Stück. Wie immer brachte sie einen neuen Teller mit Essen, von dem er aber jedesmal noch weniger herunterbekam als von dem zuvor. Inzwischen fühlte er sich zittrig und schwach, nervös und ruhelos, schläfrig und doch auch wach. Seinen Körper wußte er kurz vor dem Kollaps, doch sein Geist hatte einige helle Momente, in denen ihm seine Schuld und Fehler noch verwerflicher und dümmer vorkamen.

Tagsüber quälte er sich wieder mehrmals auf die Toilette, und der Durchfall wurde nicht besser. Leicht hätte er etwas dagegen tun können, doch irgendwie erschien es ihm unwichtig zu sein. Auch diesen Tag bekam er schließlich herum, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, wie er es gemacht hatte. Abends kam Tante Petunia herein und brachte einen weiteren Teller mit Essen.

»Du bekommst heute noch Besuch, in etwa einer halben Stunde«, sagte sie leicht zickig, doch Harry kümmerte es nicht.

Wer sollte schon kommen? Hermine war bei Viktor Krum, und Ron war sowieso nicht zu gebrauchen, zumindest nicht für solche Fälle. Mit Dumbledore hätte er vielleicht gesprochen, doch mit wem sonst hätte er reden können. Molly Weasley hätte ihn erdrückt, und Ginny … mit Ginny wollte er nicht über seine Probleme reden. Vielleicht Neville, Neville würde mich verstehen, dachte Harry, als Tante Petunia schon wieder verschwand. Zwei Bissen nahm Harry und bekam sie kaum hinunter. Er wußte, daß er essen mußte, doch irgendwie konnte er nicht. Er wollte es nicht.

Tatsächlich klopfte es eine knappe halbe Stunde später an der Tür. Eigentlich wollte Harry nichts sagen, doch irgendwie interessierte es ihn, wer gekommen war.

»Herein.«

Der Türknauf begann sich zu drehen, die Tür ging auf, und das Gesicht von Remus Lupin erschien. Ihn hatte er nicht erwartet, doch erschien es ihm plötzlich als die logischste aller Möglichkeit, kaum daß er ihn erkannt hatte. Lupin hatte ein gezwungen wirkendes Lächeln auf den Lippen, als er das Zimmer betrat. Sein Umhang sah ein wenig abgenutzter aus, als er es eigentlich sollte, und unwillkürlich beschloß Harry, ihm zu seinem Geburtstag einen neuen zu schenken, zumindest, wenn sie bis dahin beide noch am Leben sein sollten.

»Hallo, Harry«, sagte er und schenkte ihm jetzt ein Lächeln, was noch aufgesetzter wirkte. Zögernd kam er zu seinem Bett herüber und setzte sich.

»Professor«, war alles, was Harry antworten konnte, immerhin sah er ihm aber in die Augen.

»Es wird Zeit, daß du mich mit meinem Vornamen ansprichst«, sagte er, doch Harry schwieg, »Ich bin wegen Sirius hier«, fuhr sein ehemaliger Professor unbeirrt fort. Dieses direkte Vorgehen verwirrte Harry, doch fand er es zumindest fair. Er spielt halt mit offenen Karten, dachte er.

»Was hab' ich damit zu tun?« fragte er und bereute es sofort. Er wollte nicht wirklich so hart klingen, doch waren die Erinnerungen viel zu frisch. Er wollte nicht darüber reden, noch nicht.

»Er war dein Pate«, sagte Remus etwas trotzig.

»Er – WAR - es«, erwiderte Harry, konnte aber den Blickkontakt nicht halten. Er starrte seine Vorhänge an, und zum ersten Mal fiel ihm auf, daß sie wirklich häßlich waren.

»Wir müssen über ihn reden«, hörte er Remus' Worte und wußte nur zu gut, daß er damit recht hatte. Dennoch konnte er sich einfach nicht überwinden. Seine Augen füllten sich mit Tränen, die er nur unter größter Anstrengung zurückhalten konnte. »Bitte, Harry, rede mit mir.« Seine Worte klangen gequält.

»Ich kann nicht.« Harry lief nun doch noch eine Träne die Wange herab.

»Dann hör mir nur zu … bitte«, sagte Remus, doch Harry wollte eigentlich auch das nicht. Das heißt, er wollte es schon, aber irgend etwas in ihm sträubte sich mit Händen und Füßen. Remus begann zu reden, und Harry hörte nur mit einem Ohr zu. »Er fehlt auch mir so sehr. Er war auch mein letzter wirklicher Freund, und auch ich habe große Probleme, damit umzugehen. In seinem Haus zu sein ist für mich schwer, selbst wenn Kreacher inzwischen gestorben ist und wir alles neu eingerichtet haben. Laß mich dir doch helfen, laß uns doch gegenseitig helfen.« Er griff Harrys Hand. Langsam drehte dieser den Kopf und sah seinen ehemaligen Professor an, erwiderte den Griff aber nicht.

Irgendwann ließ Remus die Hand wieder los, blieb noch eine halbe Stunde, saß dabei aber einfach nur still an Harrys Bett. Zwar fühlte sich Harry in seiner Gegenwart besser, doch wirklich helfen konnte es ihm nicht, während er selbst einfach nicht in der Lage war, einige Worte herauszubringen. So sehr er es versuchte, so wenig konnte er es, was ihn noch mehr verwirrte, als er ohnehin schon war.

»Du mußt hier raus. Sieh dich doch an, du bist krank«, sagte Remus leise, was Harry aus irgendwelchen Erinnerungen, die gerade wieder vor seinem geistigen Auge auftauchten, hochschrecken ließ.

»Ich bleibe«, sagte Harry leise und wandte den Blick wieder ab, »wo soll ich auch hin?«

»Ich nehme dich mit in den Grimmauldplatz«, erwiderte Remus leise und stand auf.

»NEIN«, sagte Harry mit fester Stimme und erschrak beinahe selbst darüber.

»Du kannst nicht hier bleiben.« Remus klang flehend.

»Bitte gehen Sie!«

Fünf Minuten später war er gegangen, und Harry fühlte sich noch elender als zuvor. Beide hatten in diesen Minuten nicht mehr gesprochen, nicht einmal mehr einen Blick getauscht, was ihm im Herzen weh tat. Remus war sein Freund, das wußte er genau, und für ihn war Sirius' Tod vielleicht genauso schlimm, doch war er an seinem Tod zumindest unschuldig – eine Sache, die Harry von sich nicht behaupten konnte.

Augenblicke später schaltete er das Licht aus, da es grell in seinen Augen brannte, und versuchte, irgendwie die Nacht herumzukriegen, was ihm unter Qualen gelang. Diese Nacht sollte die bis dahin schlimmste werden, und sicher war Remus' Besuch daran nicht unschuldig. Eigentlich war nicht Remus' Besuch schuld, das versuchte er sich nur einzureden, es war sein eigenes Verhalten gegenüber einem Freund, was diese Nacht noch schlimmer machte.

Der Morgen war grausam. Sein Kreuz schmerzte vom vielen Liegen, und von der fehlenden Beanspruchung taten seine Muskeln weh. Er würgte ein halbes Brot hinunter und trank nicht mehr als einen Schluck, doch es half ihm nicht viel. Der Durchfall blieb, auch wenn kaum noch etwas herauskam. Tante Petunia hatte die Vorhänge aufgezogen und das Fenster geöffnet, was Harry Gelegenheit gab, einfach nur hinauszustarren, während er versuchte, seine Augen offen zu halten. Den ganzen Tag brachte er so zu und war am Abend so müde wie niemals zuvor. Diesmal hatte er nichts mehr hinunterbekommen und versuchte endlich ein wenig Schlaf zu finden, was aber einfach nicht möglich war.

Die Nacht war wieder ausgesprochen schlimm und der nächste Tag noch schlimmer. Er drohte in einer Spirale immer weiter hinunter- und damit weg vom Leben zu gleiten. Er wußte nur zu gut, was hier mit ihm passierte, konnte aber einfach nichts dagegen machen. Irgendwie brachte er auch die nächsten beiden Tage und Nächte hinter sich, und nun war auch der Durchfall weg. Es gab einfach nichts mehr, was er noch hätte ausscheiden können.

Wieder brachte er einen Tag, eine Nacht und noch einen Tag hinter sich und hatte jetzt jegliches Zeitgefühl verloren, als irgendwann die Tür aufging und jemand hereinkam. In seinem tranceartigen Zustand glaubte er, daß es Tante Petunia sein müßte, doch war sie es nicht. Als er eine starke Umarmung spürte, einen vertrauten Geruch wahrnahm, eine wohlbekannte Stimme hörte, die ihn langsam wieder ganz aufweckte, wußte er, wer es war. Einen Augenblick später hatte er seine Brille auf der Nase und erkannte die Person schemenhaft. Es war Hermine.

»Du mußt sofort hier raus«, hörte er sie hektisch sagen.

»Wo soll ich hin?« fragte er schwach und verlor sich einen Augenblick in ihren braunen Augen, die ihn ängstlich und verwirrt ansahen.

»Grimmauldplatz«, sagte sie, doch er schüttelte sofort den Kopf, wenn auch nur unmerklich.

»Dort sterbe ich«, flüsterte er völlig erschöpft. Erschrocken ließ sie einen Moment von ihm ab.

»Ich bin gleich wieder da … versprochen!« erwiderte sie hastig und verschwand aus dem Zimmer. Minuten später kam sie zurück und begann schnell seine Sachen zu greifen.

»Was machst du hier?« fragte Harry kaum hörbar, doch sie beachtete ihn nicht.

Zielstrebig packte sie seine Bücher und Hedwigs leeren Käfig - welchen sie dafür schrumpfen mußte - in seinen Koffer. Einen Moment dachte Harry darüber nach, daß Hermine dafür Magie benutzte, was ihr untersagt war, ehe ihn ihre Haare in seinen Bann zogen, welche hektisch hin und her schwangen. Noch einigen Minuten kam sie zu ihm herüber und begann ihm den viel zu großen Schlafanzug von Dudley auszuziehen. Wenn er die Kraft dafür gehabt hätte, wäre es ihm peinlich gewesen, doch er wehrte sich nicht, sondern lief nur ein wenig rot an. Sie zog ihm anschließend einige seiner Sachen aus Hogwarts an und verschwand wieder aus dem Zimmer.

Minuten später war sie zurück und hatte Vernon dabei, der ihn ärgerlich aus dem Bett hob. Harry ließ es einfach geschehen und wurde von ihm die Treppe hinuntergetragen; ehe er sich überhaupt klar wurde, was mit ihm geschah, saß er schon in einem Auto.

Er fuhr mit Hermine davon und wußte nicht wohin. Sanft zog sie ihn zu sich heran und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. Vorsichtig umarmte sie ihn und nahm seine Hand in ihre. Zärtlich streichelte sie ihn, während Harry an ihren Haaren roch, die den Duft von Honig zu haben schienen. Wäre er nicht so müde gewesen, hätte er wohl gefragt, wo sie hinfahren würden, doch er schloß einfach nur die Augen und schlief ein.

Als er wieder erwachte, war es dunkel, doch spürte er einen Arm um seinen Körper. Er versuchte sich zu bewegen, doch wollte er die warme und schlafende Person nicht wecken. Er sah eine Uhr an der Wand und versuchte angestrengt zu erkennen, wie spät es war. Erst glaubte er, den kleinen Zeiger auf der Vier zu erblicken, war sich dann aber unsicher, bis er schließlich doch halbwegs erkennen konnte, daß es tatsächlich etwa vier Uhr war; damit mußte er immerhin einige Stunden ohne Alpträume geschlafen haben. Ängstlich schloß er wieder die Augen, aber die gefürchteten Bilder blieben aus. Immer mehr entspannte er sich, bis er wieder einschlief.

»…mine! Frühstück! Kommst du bitte«, hörte er eine leise Stimme und schlug die Augen auf.

Er erkannte ein fremdes Zimmer vor seinen Augen, welches in einer warmen Pastellfarbe gestrichen war. Er konnte eine große hellbraune Kommode mit offenen Schubfächern sehen, vor der Hermine mit freiem Oberkörper stand und in den Schubfächern wohl einen Büstenhalter suchte. Dieser Anblick ließ ihn an seinen Augen zweifeln. Obwohl er seine Brille nicht trug, war alles, was er sah, mehr als scharf. Er sah ihre prallen und zarten Brüste, und das erregte ihn sofort. Ihre Haut sah so samtweich aus, und er ertappte sich bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, sie dort zu berühren. Leicht berauscht fühlte er das Blut aus seinem Kopf und in tiefere Regionen fließen. Am liebsten wollte er sofort aufstehen, zu ihr gehen, ihre Brüste mit seinen Händen umschließen und sie sanft massieren. Trotzdem ihm ihr Anblick sehr gefiel, räusperte sich Harry unbewußt und wurde sofort knallrot. Erschrocken fuhr Hermine zusammen und drehte sich sofort von ihm weg, während sie schnell versuchte, ihre Brüste mit ihren Armen zu verdecken. Voller Scham, sie angestarrt zu haben, drehte sich Harry sofort um.

»Ich – es – tut … ich«, stotterte er und fühlte, daß sein Kopf jetzt so rot wie eine Tomate war.

Eine Ewigkeit wartete er darauf, daß sie etwas sagen würde, doch anscheinend zog sie sich nur weiter an. Er konnte es hören und jede Bewegung von ihr erahnen, während er sie weiter vor seinem geistigen Auge anstarrte. Auf Worte aber wartete er vergebens. Physisch ruhten seine Augen auf einem Schreibtisch mit integriertem Bücherregal, welches außerordentlich gut gefüllt war, tatsächlich aber sah er weiter nur diese perfekten Brüste vor sich. Zwar hatte er in echt noch keine anderen gesehen, war sich aber seltsam sicher, daß es keine schöneren geben konnte. Ihm wurde gleichzeitig heiß und kalt. Denk an was anderes, sie ist deine beste Freundin, du solltest nicht an so was denken, versuchte er sich einzureden, und tatsächlich schien es zu gelingen. Der Schreibtisch, den er jetzt besser wahrnahm, war in der gleichen braunen Farbe wie die Kommode und paßte sehr schön in den gar nicht einmal so kleinen Raum, was er aber erst langsam realisieren konnte. Zwar konnte er sich denken, daß er bei Hermine zu Hause war, doch wollte er sicher sein.

»Wo – wo sind wir?« fragte er zögerlich und hörte sie plötzlich zu ihm herum um das Bett laufen, wo er noch immer mit abgewandtem Gesicht lag.

»Wir sind bei mir zu Hause. Das ist mein Zimmer«, sagte sie, und Harry bemerkte, daß sie bis eben auch noch sehr rot im Gesicht gewesen sein mußte, weil es noch immer eine deutliche Färbung aufwies. Obwohl sie jetzt ein T-Shirt trug und sich darunter ihr Büstenhalter abzeichnete, starrte er sie noch immer so an, als wäre sie nackt. Er zwang sich, in ihr Gesicht zu sehen.

»Ich wollte nicht – es tut mir leid«, sagte er noch einmal und wartete auf ihre Reaktion.

»Sagen wir ... wir sind quitt«, erwiderte sie, und für einen winzigen Moment umspielte ein feines Lächeln ihre Lippen.

Sofort erinnerte er sich dunkel, worauf sie anspielte, und wurde für einen Moment noch röter. Kein Mädchen und keine Frau hatten ihn jemals nackt gesehen, wenn man einmal von seiner Mutter, Tante Petunia und einem gewissen Gespenst in Hogwarts absah, an denen er aber niemals sexuell interessiert sein konnte. Trotzdem war es ihm viel weniger peinlich, als er es sich vorgestellt hätte, wenn man ihn vorher danach gefragt hätte. Wenn es schon ein Mädchen war, dann wenigstens seine beste Freundin. Bei ihr konnte er sich jedenfalls sicher sein, daß sie es niemals jemanden erzählen und sich auch nicht darüber lustig machen würde.

»Okay. Dann sind wir quitt«, sagte Harry leise und blickte zur Decke. Endgültig verschwand das Bild ihrer nackten Brüste vor seinen Augen, und er nahm seine Brille vom Nachttisch. Wieder sah er zur Decke, wo eine ziemlich moderne Lampe hing, die, obwohl sie einzeln betrachtet sehr gut aussah, irgendwie nicht so recht ins Zimmer passen wollte.

»Gefällt sie dir nicht?« fragte sie plötzlich, als hätte sie seine Gedanken lesen können. Was sollte er antworten, wollte sie seine ehrliche Meinung oder würde es sie verletzen. Es ist Hermine, es gibt auf der Welt keine ehrlichere Person, dachte er. Sie würde ihm immer offen die Meinung sagen, also wollte er es auch tun.

»Ich finde sie sehr schön, aber der Rest vom Zimmer paßt nicht dazu«, sagte er und sah sie an.

»Da hast du recht, ist nur das erste Puzzlestück. Mein Zimmer sollte renoviert werden, während ich in Bulgarien bin«, erwiderte sie und ging zur Tür. »Ich geh' runter und hole uns was zu Essen. Bin gleich wieder da.« Geschwind war sie aus der Tür verschwunden.

Sein Magen knurrte. Beinahe erschrocken blickte Harry unter die Bettdecke. Seit vielen Tagen hatte er zum ersten Mal wieder Hunger. Wie konnte das sein? Wie konnte er überhaupt wieder schlafen? Innerlich freute er sich darüber, doch verwirrte es ihn auch. Was war jetzt anders, fragte er sich und kam nach einer Minute zu dem Schluß, daß er nicht mehr allein war. Hermine war bei ihm. Sein bester Freund war hier bei ihm und nicht bei Viktor Krum in Bulgarien. Wieso war sie hier, fragte er sich, doch kannte er die Antwort eigentlich schon, als die Tür wieder aufging. Hermine trat ein und wurde von ihren Eltern begleitet.

»Guten Morgen«, sagte Mrs. Granger und ließ Harry erröten. Wie sah das nur für sie aus! Er lag im Bett ihrer Tochter, spärlich bekleidet, und sie hatte auch hier geschlafen.

»Guten Morgen, Harry«, sagte Mr. Granger, lächelte warm und kam zu ihm herüber.

»Morgen«, war alles, was Harry herausbrachte, während Hermine das Tablett auf ihrem Schreibtisch abstellte. Dort begann sie damit, ein Brötchen zu schmieren, während ihr Vater sich zu ihm aufs Bett setzte.

»Hermine hat uns erzählt, was passiert ist. Tut uns schrecklich leid um deinen Paten. Meine Frau und ich werden gleich das Gästezimmer herrichten, und dann werde ich dich rübertragen, damit du ein bißchen für dich sein kannst«, sagte er und reichte ihm seine Hand.

»Vielen Dank«, flüsterte Harry und ergriff die dargebotene Hand. Auch ihre Mutter reichte ihm die Hand und verschwand einen Augenblick später aus dem Raum. Warum er sich bedankte, wußte er nicht, denn allein sein wollte er nicht.

»Jetzt frühstücke erst mal in Ruhe und komm wieder zu Kräften, du bist ja ganz abgemagert«, sagte Hermines Vater und erhob sich wieder vom Bett, ging hinaus und schloß die Tür.

»Warum hab' ich nicht gleich im Gästezimmer geschlafen?« fragte Harry, und Hermine sah zu ihm auf.

»Wir sind gestern sehr spät angekommen, und der Taxifahrer hat dich hochgetragen, weil meine Eltern schon schliefen. Das Gästezimmer steht voll mit den Dingen, die für die Renovierung meines Zimmers gedacht waren. Da hatte ich wirklich keine Lust mehr … verstehst du?« sagte sie und schmierte ein weiteres Brötchen. Harry verstand schon, allerdings wußte er nicht, warum sie ihn nicht auf der Couch hatte ablegen lassen, was ebenfalls möglich gewesen wäre. Obwohl ihn diese Frage ein wenig quälte, entschied er sich, nicht weiter nachzuhaken.

»Warum bist du hier … und nicht bei Viktor«, fragte Harry ein wenig unsicher.

»Weil du mich brauchst«, erwiderte sie nur knapp und kam mit einem Teller herüber.

Sofort rutschte Harry ein wenig nach oben, um halbwegs aufrecht zu sitzen, und begann zu essen. Still setzte sie sich an den Schreibtisch und schmierte nun für sich ein Brötchen. Beide aßen in Ruhe, und Harry fühlte sich so gut, wie seit der Dusche von Onkel Vernon nicht mehr, als dieser das warme Wasser über seinen fröstelnden Körper hatte laufen lassen. Sein Appetit kehrte zurück, und er bat Hermine um zwei weitere Brötchenhälften. Mit einem Lächeln kam sie der Bitte gerne nach und reichte ihm den gefüllten Teller zurück. Anschließend trank Harry zwei Gläser Milch und fühlte sich satt. Erstmals seit über einer Woche hatte er wieder ein angenehmes Gefühl im Magen und keine tonnenschweren Steine. Nachdem auch sie fertig war, brachte Hermine das Tablett wieder nach unten. Während sie draußen war, sah sich Harry vom Bett aus genauer in ihrem Zimmer um. Es gefiel ihm wirklich gut, und er fragte sich, warum sie es überhaupt renovieren wollte. Es war erstaunlich schlicht und funktionell eingerichtet, gar nicht so, wie er Mädchenzimmer aus dem Fernsehen kannte. Trotzdem war es warm und ermöglichte ein Gefühl von Geborgenheit, welches er bei den Dursleys in all den Jahren nie gespürt hatte.

Einige Minuten später kam Hermine mit ihrem Vater zurück, der Harry ins Gästezimmer tragen wollte; dieser wollte jedoch lieber versuchen zu laufen, was auch Hermine unterstützte. Also half er Harry nur aus dem Bett und stützte ihn, während er auf wackligen Beinen aus dem Zimmer ging. Er bemerkte, daß sie hier im zweiten Stock waren, und wurde nach rechts geführt, wo eine weitere offene Tür war. Das Gästezimmer war kleiner und spartanischer, doch ebenfalls hübsch eingerichtet. Mühsam schleppte er sich ins Bett und legte sich wieder hin.

»Wo habt ihr das Zeug für deine Renovierung gelassen?« fragte Harry, und Hermine lächelte.

»Dad wollte es in die Garage schaffen, doch das hätte viel zu lange gedauert. Hab' alles verkleinert und in die Kiste da gepackt«, antwortete sie. Nun grinste auch Mr. Granger und gab seiner Tochter einen Kuß auf die Wange.

»Wir müssen dann in die Zahnklinik. Es wird spät, also bis heute abend!« rief er den beiden zu und verschwand schon aus dem Raum, nachdem er zum Abschied noch einmal kurz die Hand gehoben hatte. Augenblicke später hörte Harry noch Mrs. Granger rufen: »Tschüs, Hermine, tschüs, Harry!«

Harry sah Hermine direkt in ihre braunen Augen. Wieder hatte sie gezaubert, und Harry konnte sich nicht erklären, warum sie sich offenbar über die Gesetze hinwegsetzen konnte.

»Hast du keine Angst vor Strafe? Ich meine, ständig zauberst du.«

»Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich habe eine Sondergenehmigung«, war alles, was sie lächelnd antwortete, und Harry stellte auch keine Fragen mehr. Er war ihr so unendlich dankbar, hiersein zu können, und wußte nicht, wie er sich jemals dafür revanchieren sollte.

»Was ist mit den Dursleys? Normalerweise muß ich doch länger bei ihnen bleiben, gibt es da keine Probleme?« Harry spielte auf seinen Blutschutz an, der jedes Jahr durch einen Aufenthalt bei den Dursleys aufgefrischt werden mußte.

»Ich denke nicht, daß es Probleme gibt, und hier bist du im Augenblick auch sicher. Mach dir deswegen also keine Sorgen. Professor Dumbledore sagte mir, daß dieses Jahr eine Ausnahme gemacht werden könnte, weil es dir so schlechtging. Wärst du bei ihnen geblieben, dann wärst du vielleicht …« Sie schien nicht weiterreden zu wollen. Es dauerte einen Moment, doch dann fing sie sich offenbar wieder. »Nächsten Sommer mußt du aber auf jeden Fall wieder zu ihnen.«

»Ich verstehe. Auch wenn es mir nicht gefällt.« Er grummelte ein wenig, und sie schien dies sofort zu bemerken.

»Möchtest du allein sein?«, fragte sie und blickte ihn neugierig an.

»Ich weiß nicht«, erwiderte er, wollte es aber keinesfalls. Warum traue ich mich nicht, sie zu fragen, bei mir zu bleiben?

»Dann hole ich mir was zu lesen«, sagte sie und verschwand aus dem Zimmer. Keine drei Minuten später war sie zurück und hatte ein paar Bücher dabei. Eines davon erkannte Harry sofort, er hatte es bei den Weasley-Zwillingen gesehen: es war das Buch über Zaubertränke, welches man im sechsten Jahr brauchte. »Rutsch mal ein Stück«, sagte sie überraschend, und Harry tat es. Ohne zu zögern, legte sie sich neben ihn und begann in dem Buch zu lesen, ohne ein weiteres Wort mit ihm zu wechseln.

»Wo ist denn eigentlich Krummbein?« fragte Harry nach einiger Zeit und blickte sie neugierig an.

»Er ist bei Professor McGonagall. Sie wollte ihn für mich während der Ferien nehmen, weil wir ihn doch schlecht mit nach Bulgarien nehmen konnten«, antwortete sie und sah wieder in ihr Buch.

Da er sich in ihrer Gegenwart offenbar leicht entspannen konnte, rutschte Harry ein wenig tiefer und schloß seine Augen. Alles, was er sah, war Dunkelheit. Es war so merkwürdig für ihn. Warum sah er nicht mehr Sirius sterben? Warum sah er nicht, wie Hermine verletzt wurde? Keine Antworten hatte er auf diese und andere Fragen, doch fühlte er in seinem tiefsten Inneren genau, daß er die Geschichte noch nicht ausgestanden hatte. Wie viele Minuten er mit geschlossenen Augen gegrübelt hatte, wußte er nicht, doch als er seine Lider wieder öffnete, war Hermine in ihrem Buch schon weit vorangekommen.

»Warum möchtest du dein Zimmer renovieren? Ich finde es sehr schön«, unterbrach er die angenehme Stille, die bisher nur durch ihr Atemgeräusch und das Umblättern der Seiten getrübt worden war.

»Ich weiß nicht genau. Ich find' es auch immer noch schön, aber meine Eltern meinten, da ich ja doch langsam erwachsen werde, wäre es Zeit für etwas Moderneres. Sie meinten, wenn ich hier mal ausziehe, brauche ich dann nicht alles neu kaufen, sondern kann dann bereits ein paar Sachen behalten von dem, was sie mir jetzt gekauft haben.«

»Wie lange sieht dein Zimmer schon so aus?«

Sie dachte kurz nach: »Ungefähr zehn Jahre.« Sie blickte dabei nicht von ihrem Buche auf.

»Ich würde nichts ändern!« rief er aus und sah sie von der Seite an. Sie blickte auf, und für einen kurzen Augenblick trafen sich ihre braunen mit seinen grünen Augen.

»Vielleicht hast du recht. Ich glaube, ich lass' es auch«, erwiderte sie lächelnd und wandte sich wieder ihrem Buche zu.

»Was hast du denn noch für Bücher?« erkundigte er sich. Lächelnd reichte sie ihm drei davon herüber. Einen Moment lang betrachtete er die Titel und entschied sich dann für das Buch über Kräuter und Heilpflanzen.

Still lasen die beiden für einige Stunden, bis Harrys Magen wieder laut zu knurren anfing. Mit einem überraschten Blick sah ihn Hermine an, begann zu lächeln und schlug ihr Buch zu.

»Ich hol' uns was zu essen, bin gleich wieder da, dauert ungefähr 'ne halbe Stunde«, sagte sie und sprang schon aus dem Bett, bevor Harry überhaupt antworten konnte. Flink lief sie aus dem Zimmer, und er konnte sie noch die Treppen hinuntereilen hören, ehe einen Moment später die Haustür zuflog und sie wohl das Haus verlassen hatte.

Harry vertiefte sich wieder in das Buch und hatte sie gar nicht zurückkommen hören, als sie plötzlich schon vor ihm stand. Sie lächelte breit, hatte ein Tablett dabei, auf dem vier Pappschachteln standen, und setzte sich wieder zu ihm ins Bett.

»Was gibt es denn?« erkundigte er sich höflich, und sie lächelte noch breiter.

»Chinesisch! Esse ich furchtbar gern, wenn ich zu Hause bin. Einmal hab' ich Nudeln mit viel Gemüse und dann noch Eierreis mit Gemüse und Ente. Dazu gibt es als Vorspeise Frühlingsrollen und Wang-Tang gebacken. Was möchtest du?« Sie stellte dabei das Tablett an ihr Fußende.

»Ich weiß nicht, hab' so was noch nie gegessen.«

»Dann teilen wir alles«, schlug sie vor, nahm sich zwei der vier Schachteln, öffnete beide und stellte sie zwischen sich und Harry. Sie beugte sich noch einmal nach vorn und nahm eine kleinere Schüssel, in der sich wohl eine rote Soße befand. »Na los, hau rein. Die Soße ist das beste«, sagte sie und nahm sich ein kleines dreieckiges Teigstück, das sie in die Soße eintunkte und wovon sie dann abbiß. Es schien ziemlich kroß zu sein und krümelte auf ihr T-Shirt, was ihr aber nur ein Lächeln entlockte.

»Das ist dann Wang-Tang?« fragte er, obwohl er es sich denken konnte, da das andere ja Frühlingsrolle hieß und auch gerollt war.

»Genau.« Sie tunkte wieder ein und ließ den Rest davon im Mund verschwinden. Seine linke Hand griff in die Pappschachtel und holte ein gebackenes Wang-Tang heraus. Er tunkte es ein und biß ab. Langsam kaute er und war überrascht über den Geschmack. Es schmeckte ein bißchen wie fettiger Keksteig, aber doch ganz anders, und im Innern war wohl Hackfleisch. Die Soße war ein wenig scharf, gleichzeitig aber auch süß und sauer, und schmeckte vorzüglich.

»Wirklich gut«, nuschelte er mit halb gefülltem Mund, tunkte den Rest ein und ließ es sich schmecken.

Auch die Frühlingsrollen waren sehr delikat und die Soße dazu passend. Sie schmeckte so anders, als alles, was Harry je gegessen hatte. Nach den Vorspeisen aß er die Hälfte von dem Reis, während sie die Hälfte von den Nudeln aß, anschließend tauschten sie die Pappschachteln und waren nach etwas mehr als einer Viertelstunde pappsatt.

»Klasse Essen, vielen Dank«, sagte Harry und lächelte. Sie sah ihm tief in die Augen und begann ebenfalls zu lächeln.

»Warum lächelst du?« fragte er, während sie breiter lächelte, so daß er nun schon ihre Zähne sehen konnte, die sich seit dem vierten Jahr ziemlich zum Positiven verändert hatten. Zwar hatte es ihn auch vorher nie gestört, daß ihre Vorderzähne zu groß geraten waren, doch sah sie seitdem noch ein bißchen süßer aus. Hatte er wirklich gerade gedacht, daß sie süß aussieht? Ja, das hast du, und was ist so schlimm daran, fragte er sich, während sie antwortete:

»Ich lächle, weil du zum ersten Mal wieder lächelst.« Dann sprang sie aus dem Bett, um das Tablett nach unten zu bringen. »Soll ich was zu trinken mitbringen?«

Er nickte ihr zu. Wieder verschwand sie die Treppe hinunter und kam mit einer Kanne mit gelber Flüssigkeit und zwei Gläsern zurück.

»Apfelsaft?« fragte Harry, doch sie schüttelte den Kopf.

»Eistee, aber wenn du lieber Apfelsaft magst ...«

Nun war er es, der den Kopf schüttelte: »Eistee klingt super.«

Wieder lächelten sie sich an. Hermine stellte die Kanne auf ein Tischchen und goß beiden ein Glas ein.

»Was dagegen, wenn ich das Fenster öffne?« fragte sie, und Harry schüttelte erneut den Kopf. Nach dem Öffnen des Fensters kam sie zurück zu ihm ins Bett und reichte ihm eines der Gläser. Der Tee war tatsächlich eiskalt, schmeckte Harry aber so gut, daß er ihn in einem Zug austrank.

»Möchtest du mehr?« fragte sie, und er nickte. »Hier, kannst meins austrinken!« Lächelnd gab sie ihm ihr halbvolles Glas und stellte das seine auf den kleinen Nachttisch, der auf ihrer Seite des Bettes stand.

»Ich weiß gar nicht, wie ich dir für alles danken soll«, flüsterte Harry leise und reichte ihr auch das zweite Glas, das er soeben geleert hatte.

»Lebe, und ich bin glücklich«, antwortete sie, stellte das Glas weg und las weiter in ihrem Buch.

Lebe, und ich bin glücklich, hat sie gesagt, dachte er und rutschte wieder tiefer. Er nahm sein Buch und begann, weiter darin zu lesen. Lebe, und ich bin glücklich. Wie soll ich das machen? Wie soll ich leben, wenn um mich herum alles und jeder stirbt? Darauf hatte er keine Antwort, wollte aber weiter darüber nachdenken, während er sich schweigend durch das Buch arbeitete. Plötzlich hatte er ein drückendes Gefühl im Bauch, und er wußte, daß der Durchfall wieder da war. Schnell ließ er sich von Hermine ins Bad helfen und wurde zumindest das Frühstück wieder los. Eine Viertelstunde später lag er wieder im Bett und hatte eine Wärmflasche auf dem Bauch, die Hermine in der Zwischenzeit vorbereitet hatte. Beide hatten wieder zu ihren Büchern gegriffen, und zu seinem Erstaunen wurde er dadurch gut abgelenkt und empfand es sogar irgendwie unterhaltsam. Zwar hatte er für das Gebiet nie so viel Begeisterung wie Neville gezeigt, doch war es trotz alledem reizvoll für ihn. Er war nun schon weit über die Mitte hinaus und konnte gar nicht mehr aufhören. Ein Kraut und eine Pflanze nach der nächsten wurden vorgestellt, ihre Vor- und Nachteile, ihre Kultivierungsmöglichkeiten, Merkmale und noch vieles mehr las er sich durch, und zu seinem Erstaunen schien er sich die Daten sogar merken zu können. Irgend etwas ging in ihm vor. Irgend etwas, das dafür sorgte, daß er sich Sachen viel besser merken konnte und weit interessanter als früher fand. Wenn er nur herausfinden könnte, was es war, denn dann könnte er zum Beispiel auch Ron davon profitieren lassen. Während er weiter darüber nachsann, las er das Buch, bis gegen sechs Uhr sein Magen erneut knurrte und er verwundert an sich hinabsah. Hermine kicherte nur kurz und war schneller unten, als er sie aufhalten konnte. Mit einem grünen Ding kam sie zurück und warf es Harry schon von weitem zu. Der Apfel, den er fing, war makellos und sah zum Anbeißen aus.

»Wir essen mit meinen Eltern zusammen, sie kommen gegen halb neun«, sagte sie und warf sich wieder ins Bett.

»Ich danke dir wirklich. Ich hätte nie von dir erwartet, daß du extra aus Bulgarien zurückkommst. Viktor wird sehr enttäuscht gewesen sein.« Dabei biß er kraftvoll in seinen Apfel.

»Du bist mir halt viel wichtiger als ein Urlaub.« Sie lächelte ihn kurz an und vertiefte sich wieder in ihr Buch, das sie schon zu zwei Dritteln durchgelesen hatte.

»Ich danke dir trotzdem«, sagte er leise und streichelte sanft über ihren Arm.

»Das mußt du wirklich nicht. Es gibt niemanden, für den ich es lieber täte«, erwiderte sie, zeigte ansonsten aber keine Regung.

Die Zeit, bis Mr. und Mrs. Granger zurückkamen, verging wie im Flug. Hermine hörte sie schon unten und lief sofort zu ihnen. Harry konnte nur einige Wortfetzen hören, doch unterhielten sie sich wohl darüber, ob sie zu zweit einen schönen Tag gehabt hatten, was Hermine bestätigte. Einige Zeit später kam Hermine mit ihrem Vater nach oben und wollte Harry nach unten zum Essen holen. Diesmal fiel ihm das Laufen schon wesentlich leichter, und Mr. Granger mußte nur auf der Treppe aufpassen, daß ihn nicht die Kraft verließ und er hinunterstützte. Der Tisch war bereits gedeckt, und obwohl sie schon warm zu Mittag gegessen hatten, gab es noch eine weitere warme Mahlzeit. Das störte Harry allerdings nicht sonderlich, zumal sich sein Magen auf der Treppe schon wieder bemerkbar gemacht hatte. Zudem hatte er Nudeln mit Hackfleischsoße schon immer gern gegessen, und diese waren besonders gut.

»Liegt an einem geheimen Gewürz in der Soße«, meinte Mrs. Granger mit einem Augenzwinkern, als Harrys sie dafür ausdrücklich gelobt hatte. Anschließend gab es noch einen großen Salat, und obwohl er damit gerechnet hatte, stellte ihm während des Essens keiner auch nur eine einzige Frage.

Statt dessen erzählten Hermines Eltern ihrer Tochter, was sie heute in der Zahnklinik zu tun gehabt hatten. Mr. Granger hatte einem Zwölfjährigen die Weisheitszähne ziehen müssen, was für dessen Alter wohl ungewöhnlich früh war, darüber hinaus auch zeitaufwendig und sehr kompliziert gewesen war. Harry tat es schon vom Zuhören weh, als Mr. Granger berichtete, wie er die Zähne in kleine Stücke hatte bohren müssen, um anschließend die Bruchstücke entfernen zu können. Das Ganze schien wohl eine blutige Angelegenheit gewesen zu sein, zumindest erzählte Hermines Vater dies so, obwohl er dabei ein deutliches Augenzwinkern in Harrys Richtung schickte. Eigentlich wäre diese Geschichte durchaus geeignet gewesen, den Appetit der Anwesenden zu zügeln, doch ließ sich niemand am Tisch davon stören – Harry, weil der Hunger viel zu groß war, und die anderen, weil ihnen solche Geschichten wohl viel zu vertraut waren.

Nach dem Essen gingen sie alle ins Wohnzimmer und sahen sich erst die Neun-Uhr-Nachrichten und danach noch eine Serie an, die besonders Hermines Mutter regelrecht verschlang. Erst kurz vor elf ließ er sich von Hermine in sein Bett zurückbegleiten; dabei mußte sie ihn nur noch auf den letzten Treppenstufen stützen, während er den Rest allein bewältigen konnte.

Noch bis nach ein Uhr blieb Hermine bei ihm, während ihre Eltern schon kurz vor Mitternacht in ihrem Schlafzimmer verschwanden, welches direkt neben der Treppe und gegenüber dem Gästezimmer lag. Hermine verabschiedete sich mit einem flüchtigen Kuß auf seine Wange, nachdem sie minutenlang gegähnt, aber tatsächlich noch ihr Buch zu Ende gelesen hatte. Sie warf ihm noch einen kurzen lächelnden Blick zu, ehe auch sie in ihrem Zimmer verschwand. Er wußte nicht so recht, was der Kuß zu bedeuten hatte, doch fand er es einfach nur süß von ihr. Die Tür zu seinem Zimmer hatte sie offengelassen, und Harry hatte auch keine Lust mehr aufzustehen. Die Tür zu ihrem eigenen Zimmer war wohl ebenfalls offen, da er noch das Licht auf dem Flur sehen konnte, und auch als es aus war, hatte er sie die Tür nicht schließen hören. Er legte sein Buch weg und schalte die Nachttischlampe aus. Er kroch unter die dünne Decke und schloß langsam die Augen.

Tief atmete er durch und entspannte sich. Innerhalb weniger Minuten war er eingeschlafen und hatte dabei auch keine schrecklichen Bilder vor seinen Augen. Dies blieb aber nicht die ganze Nacht so. Zwei Stunden später schreckte er schweißgebadet hoch und sah jemanden auf sich zulaufen.

»Es wird irgendwann besser«, flüsterte sie und legte sich hinter ihn.

»Danke«, war alles, was er sagen konnte, und schlief nur einen Moment später erneut ein.

Als er im hellen Licht die Augen öffnete, war Hermine noch immer da. Zwar las sie schon in einem Buch, doch sie lag noch immer in ihrem kurzen roten Pyjama neben ihm.

»Wie spät ist es?« fragte er, und sie blickte kurz zum Nachttisch.

»Gleich mittag«, erwiderte sie und drehte ihren Kopf dabei zu ihm.

Harry wußte, was in der Nacht passiert war, und stand schon wieder in ihrer Schuld. Er bürdete ihr einfach seine Leiden auf, und sie nahm ihm klaglos Zentnerlast um Zentnerlast von seiner Seele. Er hoffte, daß er ihr damit nicht irgendwann zuviel zumuten würde.

»Sind deine Eltern schon weg?«

Sie nickte ihm zu. »Sind gegen acht gegangen. Haben uns schlafen lassen«, sagte sie nach einer kurzen Pause und sah wieder in ihr Buch.

»Sie lassen dich einfach so mit mir in einem Bett schlafen?« fragte er und wurde leicht rot.

»Solange sie mir vertrauen und sich auf mich verlassen, werden sie nichts dagegen sagen«, erwiderte sie, ohne von ihrem Buch aufzusehen.

»Du bist wirklich die Beste. Du weißt nicht, wieviel es mir bedeutet, daß du hier bei mir bist«, sagte er leise, richtete sich auf und gab ihr etwas unsicher einen Kuß auf die Wange. Zu seiner Freunde schien sie das nicht zu stören. Im Gegenteil legte sie ihr Buch weg und umarmte ihn.

»Doch, ich weiß das. Ich weiß es wirklich. Du bist auch mein bester Freund!« flüsterte sie leise, und sie hielten sich einfach nur fest. Minutenlang.

Auch diesen Tag verbrachten sie fast ausschließlich mit Essen und Lesen, doch nach dem Abendessen, das an diesem Tage schon gegen achtzehn Uhr stattfand, fragte Hermine ihn, ob er ins Kino gehen wollte. Ihr Dad würde sie sicher hinfahren und auch wieder abholen, so daß er nicht allzu viel laufen müßte.

»Wie heißt denn der Film?« erkundigte er sich.

»Er heißt ›Now & Then - Damals und heute‹«, sagte sie lächelnd.

Unter diesem Titel konnte er sich nicht viel vorstellen. »Und was ist das für ein Film?«

»Es geht um vier Freundinnen, die einiges in ihrer Jugend erlebt haben, und die sich nach vielen Jahren wieder treffen und darüber sprechen«, antwortete sie und lächelte noch breiter.

»Also ein Film über Mädchen«, stellte er fest und mußte nun selbst ein wenig grinsen, »und für Mädchen?«

»Genau!« Sie grinste so breit wie selten.

»Na gut, aber dann schulde ich dir schon ein kleines bißchen weniger«, sagte er in einem absichtlich übertrieben witzigen Ton, da Hermine solche Aussagen auch ab und zu ein wenig falsch verstehen konnte.

»Du schuldest mir so viel, daß du für den Rest deines Lebens in jeden Film mitkommen müßtest, den ich sehen möchte. Und selbst dann hättest du trotzdem noch nicht mal ein Zehntel zurückgezahlt«, konterte sie im gleichen Ton, und beide lachten. Es war so schön, wieder zu lachen – aber es war noch viel schöner, sie lachen zu sehen.

Harry ging duschen, was er seit dem Morgen bei Onkel Vernon nicht getan hatte. Er zog endlich wieder frische Sachen an und wartete dann unten bei ihren Eltern auf Hermine, die nach ihm ebenfalls noch duschen wollte. Pünktlich stand sie unten im Flur und schien schon ganz ungeduldig. Ihr Haar war an den Spitzen noch ein wenig feucht, und sie hatte es zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trug normale Muggelkleidung, Jeans und T-Shirt, schien ein wenig aufgeregt und hatte einen Rucksack auf dem Rücken.

»Komm schon, Harry, wir müssen los«, rief sie und grinste breit. Sie hatte keine zwanzig Minuten zum Duschen und Umziehen gebraucht und sah trotzdem gut aus. Und dann noch ganz ohne Make-up oder den anderen Kram, den Mädchen in dem Alter immer gern benutzen, ohne dadurch wirklich besser auszusehen, dachte er. Lächelnd sah er sie an und ging zu ihr, während ihr Vater seine Zeitung zusammenlegte und sich von seiner Frau mit einem Kuß verabschiedete.

»Siehst gut aus«, sagte Harry ein wenig verlegen. Er fand es zwar etwas peinlich, glaubte aber doch, es ihr irgendwie sagen zu müssen, war sie doch seit Cho so etwas wie sein erstes Date.

»Danke«, stammelte sie leicht verlegen und winkte ihrem Dad, sich doch ein wenig zu beeilen. Wenige Minuten später waren beide mit ihrem Vater beim Kino vorgefahren, welches keine zwei Kilometer vom Haus entfernt war.

»Nicht viel los hier«, bemerkte Mr. Granger und sah im Rückspiegel zu seiner Tochter.

»Der Film läuft schon ein paar Wochen ... ich denke deshalb«, meinte sie und verabschiedete sich von ihrem Dad mit einem Kuß auf die Wange.

»Wann soll ich wieder hier sein?«, fragte er.

Hermine sah zu Harry: »Wollen wir zurück laufen? Würde dir vielleicht gut tun.«

»Klingt gut, wir haben es ja dann nicht wirklich eilig«, erwiderte Harry.

»Ist das nicht zu gefährlich?« wand ihr Vater plötzlich ein und sah besorgt aus.

»Mach dir keine Sorgen, Dad, wir haben immer unsere Zauberstäbe dabei«, wiegelte Hermine ab und gab ihm noch einen Kuß auf die Backe.

Ihr Vater fing an zu lächeln und wandte sich Harry zu. Dieser war sich aber nicht ganz so sicher wie Hermine und blickte sie unsicher an: »Bist du sicher? An mögliche Gefahren hab' ich jetzt gar nicht gedacht.«

»Hier im Rucksack habe ich deinen Tarnumhang und was zu trinken. Wir können ihn noch im Kino überwerfen und uns rausschleichen«, antwortete sie und grinste ihn an.

»Du denkst wirklich immer an alles«, erwiderte er und öffnete die Tür.

Tatsächlich war es im Foyer des kleinen Kinos ziemlich leer, und an der einzigen geöffneten Kasse stand nur noch ein anderes Paar.

»Möchtest du Popcorn?« fragte sie, und er bejahte. Als er die Preisliste sah, wurde ihm erst bewußt, daß er gar kein Geld hatte und sie alles bezahlen würde, sie bislang überhaupt schon ziemlich viel gezahlt hatte. Die Taxifahrt allein mußte ziemlich teuer gewesen sein, und sie hatte nicht ein Wort darüber verloren. Gedanklich fügte er auch dies der Liste seiner Schuld hinzu und wollte dann lieber doch kein Popcorn.

»Ich … hab' kein Geld dabei. Ich verzichte lieber auf Popcorn, und das Geld für die Karte und auch das Taxi und alles andere bekommst du wieder«, sagte er hastig, wurde ein wenig rot und sah nur ihr breit lächelndes Gesicht.

Nun waren sie an der Reihe und der Kassierer blickte sie neugierig an: »Zweimal?«

Hermine nickte. »Dann noch einmal die größte Packung Popcorn«, fügte sie hinzu und gab Harry plötzlich ihr Portemonnaie.

»Bezahl du, ich muß noch kurz auf Toilette«, sagte sie und hüpfte mehr, als daß sie lief, in Richtung Damentoilette davon.

»Süß oder salzig?« erkundigte sich der Kassierer, und nun war Harry unsicher. Ihm selbst war es ja egal, aber welches mochte Hermine wohl lieber? Einige Sekunden lang dachte er nach, bevor er sich für das salzige entschied und sich merkwürdig sicher bei der Entscheidung war. Er öffnete ihre Geldbörse und holte die geforderten zwölf Pfund heraus.

Dabei fielen ihm vier kleine Fotos auf den Boden, die er gleich wieder aufhob. Es waren Zauberfotos ihrer Freunde … seiner Freunde. Eines zeigte sie zu dritt mit ihm und Ron. Zweites Jahr, dachte er plötzlich und erinnerte sich an die Szene im Gemeinschaftsraum. Ron hatte einen Witz über was auch immer gemacht, und die drei auf dem Bild lachten sich darüber halb tot, bis sie am Ende auf dem Boden lagen. Colin, dachte er unwillkürlich und erinnerte sich daran, wie dieser das Foto geschossen hatte. Ein Lächeln umspielte seine Lippen in der Erinnerung an diesen Moment. Das nächste Foto zeigte nur ihn und Ron und war mit Sicherheit auch von Colin. Es war aus dem Anfang des letzten Jahres, irgendwann nach einem Quidditch-Training, als Ron wohl noch nicht lange in der Mannschaft gewesen war und Harry noch die Erlaubnis zum Spielen gehabt hatte. Beide waren gerade abgekämpft und dreckig in dem Gemeinschaftsraum gekommen, als Colin dieses Foto gemacht hatte. Auch bei diesem Bild mußte er lächeln, als er Ron den Dreck von der Schulter klopfte. Das nächste Foto zeigte Harry und Viktor Krum nach der zweiten Aufgabe des Trimagischen Turniers. War wohl kurz nach der Bekanntgabe der Punkte für diese Prüfung, dachte er und betrachtete Viktor genauer. Natürlich hatte sie auch von ihm ein Bild, dachte er noch und sah sich das letzte Foto an, welches nur ihn zeigte.

Er saß traurig auf einer Couch, drehte sich um und fing an zu lächeln. Beim besten Willen konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Wie oft war es wohl vorgekommen, daß er traurig auf einer Couch gesessen hatte? Wenn er sich genauer betrachtete, konnte es zumindest nicht alt sein, und es war mit Sicherheit ebenfalls im Gemeinschaftsraum aufgenommen worden, mehr aber konnte er nicht sagen. Er steckte die Fotos wieder ein und fragte sich einen Moment lang, ob sie ihm die Brieftasche absichtlich gegeben hatte, damit er diese Fotos sehen konnte.

»Sir, Ihr Wechselgeld«, wiederholte der Kassierer und holte Harry aus diesen Gedanken. Er steckte die drei Pfund in ihre Geldbörse und die Kinokarten in seine Tasche. Als er das Popcorn genommen hatte, lief er langsam in Richtung Saaleingang und aß schon ein wenig davon. Es dauerte nicht mehr lange, dann war Hermine bei ihm und sie betraten gemeinsam den kleinen Saal, in dem schon die Werbung lief.

»Wo möchtest du sitzen, weiter vorn oder lieber hinten?« fragte sie anscheinend ein wenig unsicher. Harry sah sich einen Augenblick lang um. Ganz hinten in der Mitte saß das Pärchen von eben, und ein Stück davor saßen zwei junge Frauen. Fast ganz vorn saßen noch drei junge Männer und unterhielten sich angeregt über die Werbung, die gerade lief.

»Wo du möchtest. Mir ist das nicht so wichtig«, antwortete er lächelnd.

»Dann in die Mitte.«

Sie griff seinen Arm, und ein wenig stolpernd ließ er sich hinter ihr herziehen und nahm dann seinen Platz ein, der ziemlich genau in der Mitte des Saales war. Schweigend reichte er ihr das Popcorn, doch sie nahm nicht die ganze Tüte, sondern griff nur beherzt hinein.

»Oh, du hast das salzige genommen, hätte ich nicht gedacht«, sagte sie, nachdem sie probiert hatte.

»War das falsch?« fragte er nervös, doch sie begann zu lächeln.

»Nein, ich mag salziges viel lieber, aber ich dachte, du nimmst das süße.« Erneut griff sie beherzt in die ziemlich große Tüte.

Auf der Leinwand konnte Harry gerade noch das Ende einer Autowerbung sehen, als schon der erste Trailer anfing. Er zeigte unter anderem die Explosion eines Helikopters in einen Tunnel, bei dem ein Mann auf einen davor fahrenden Zug geschleudert wurde. Sieht interessant aus, dachte er, als der Titel des Filmes eingeblendet wurde. Er hieß »Mission Impossible« und erinnerte Harry sofort an seine eigene Mission, die wahrscheinlich nicht weniger gefährlich war als die Mission des Helden in diesem Film. Danach kamen noch zwei weitere Trailer, die aber weit weniger interessante Filme anpriesen. Der Saal wurde gänzlich dunkel, und der Film begann.

Einige Stellen des Films fand er richtig lustig, und er konnte zur Abwechslung einmal unbeschwert mit seiner Begleitung darüber lachen, während besonders zum Ende hin einige sehr traurige Szenen kamen, bei denen er Tränen in den Augen hatte. Ein wenig verwirrte ihn das, hatte er doch bisher noch nie bei einem Film weinen müssen, obwohl er sich auch bewußt war, in seinem Leben noch nicht viele Filme gesehen zu haben; er konnte sich nicht erinnern, ob die Dursleys ihn jemals ins Kino mitgenommen hatten. Auch Hermine schien vom Geschehen auf der Leinwand tief bewegt zu werden, denn ihre Wange war feucht, wie Harry bei einem Seitenblick feststellen konnte.

Kurz vor dem Ende hatten die beiden das Popcorn geleert, und Hermine holte zwei kleine Flaschen mit Apfelschorle aus ihrem Rucksack und gab ihm eine davon. Nach dem vielen salzigen Popcorn war das für Harry ein willkommener Durstlöscher, und er trank sie in weniger als zwei Minuten aus. Der Film endete, und der Abspann flimmerte über die Leinwand. Die drei Jungen ganz vorne erhoben sich sofort und verschwanden aus dem Saal. Einen von ihnen konnte er meckern hören, daß er selten eine solche Schnulze hätte ertragen müssen. Eigentlich wollte auch Harry sich jetzt erheben, doch Hermine legte ihre Hand auf seinen Arm und blickte ihn an.

»Bleib bitte noch sitzen, ich liebe Filmmusik und bleibe immer bis zum Ende«, flüsterte sie und schloß die Augen. Auch Harry rutschte noch mal in seinen Sessel und lauschte der klassischen Musik, die eine beruhigende Wirkung zu erzielen schien. Einige Minuten später war auch der Abspann vorbei, und Hermine erhob sich von ihrem Sessel. Sie blickte sich kurz um, und Harry tat dasselbe. Der Saal war inzwischen leer, und auch der Raum, in dem der Projektor stand, war unbeleuchtet.

»Jetzt oder nie«, wisperte sie und holte den Tarnumhang aus dem Rucksack. Harry schlüpfte schnell mit ihr darunter.

Immer wieder war er erstaunt, wie einfach das bißchen Stoff zwei inzwischen fast ausgewachsene Menschen vor den Blicken Neugieriger verbergen konnte. Eng aneinander geschmiegt, liefen sie in Richtung Ausgang und verließen das Kino hinter dem Pärchen, so daß sie die Tür nicht extra aufmachen mußten. Selbst wenn jemand das Kino beobachtet hätte, würde er sie nicht bemerkt haben, dachte Harry und lief draußen etwas langsamer. Seine Muskeln gewöhnten sich nur schwer wieder an die Bewegung, doch mit jedem Schritt wurde es besser, was auch Hermine zu merken schien. Nach vielleicht zweihundert Metern bogen sie in eine andere Straße ein. Sie zog den Umhang von ihren Köpfen und verstaute ihn wieder in ihrem Rucksack.

»Hat doch alles geklappt. Obwohl es höchstwahrscheinlich sowieso unnötig war«, meinte er und nahm ihr den Rucksack ab. Sie bedankte sich und lief weiter. Er folgte ihr sofort, und schweigsam schlenderten sie langsam nebeneinander her, bis er auf den Film zu sprechen kam.

»Hat dir der Film wenigstens gefallen«, sah er sie fragend von der Seite an. Obwohl sie vorher schon ein wenig gelächelt hatte, wurde ihr Strahlen jetzt breiter, und sie drehte ihren Kopf.

»Ich fand den Film wirklich schön. Er hatte alles, was ein Film haben muß. Gute Schauspieler, eine schöne Geschichte, was zum Lachen und zum Weinen«, antwortete sie und sah wieder auf den Weg vor ihnen.

Harry dachte jetzt intensiver über den Film nach. Sie hat recht, dachte er und nickte stumm.

»Wie fandest du ihn? War er so schlimm wie befürchtet?«

»Nein. Er war viel besser. Du hast wirklich recht. Ein sehr schöner, ruhiger Film. Die Szene mit dem alten Mann auf dem Friedhof war wirklich traurig. Erinnert mich irgendwie an mein eigenes Schicksal«, fügte er leise an und senkte den Blick. Still griff sie seine Hand und drückte sie immer fester, bis er den Griff erwiderte.

»Der alte Mann im Film war allein. Du wirst es niemals sein, wenn du es nicht willst«, versicherte sie ihm leise. Danach sagten beide nichts mehr, bis sie das Haus ihrer Eltern erreichten. Es war halb elf, und ihre Eltern sahen in der Stube fern. Sie kuschelten und sahen verliebt wie am ersten Tage aus. Irgendwie beneidete Harry sie.

»Wie war der Film?« fragte Mr. Granger und sah vor allem Harry dabei an.

»Wirklich gut«, antwortete er wahrheitsgemäß, und Hermine lächelte breit.

»Wir gehen nach oben und lesen noch«, meinte Hermine, während sie ihre Schuhe auszog, und verschwand auf der Treppe. Auch Harry zog seine Schuhe aus und folgte ihr. Sie lag wieder in seinem Bett und las in einen Buch, doch beobachtete sie Harry, als er auf sie zulief.

»Fandest du ihn wirklich gut, oder sagst du es bloß?« Sie wirkte plötzlich unsicher und blickte ihm noch fester in die Augen.

»Habe ich dich je belogen?« fragte er und legte sich neben sie.

»Ja. Schon häufig.«

Er zuckte einen Moment zusammen. Aufbrausend wollte er fragen, wann er es getan hatte, doch sogleich wurde ihm bewußt, daß sie die Wahrheit gesagt hatte. Was seine Gefühle und seinen Zustand anging, war er selten ehrlich zu ihr gewesen - zumindest in den letzten Jahren.

»Du hast recht«, gestand er schuldbewußt und sah so weit weg, wie er konnte.

»Sagst du mir jetzt die Wahrheit?«

Er spürte ihren Blick. Langsam drehte er seinen Kopf wieder zu ihr und sah in ihre traurig wirkenden Augen.

»Ich sage dir, wann immer ich kann, die Wahrheit. Nichts anderes verdienst du!« erwiderte er.

»Wie fandest du also den Film?«

Er wiederholte seine Aussage, daß er ihn wirklich gut fand.

»Und wie geht es dir wirklich?« fragte sie plötzlich ein wenig unsicher, doch hielt sie seinem Blicke stand.

»Ich ... es geht mir ... gut ...« Ihr Gesicht schien ärgerlich zu werden, weil sie wohl glaubte, daß er sie doch wieder anlog. »... wenn du bei mir bist«, ergänzte er sofort und hatte damit die nackte Wahrheit gesagt. Eine Wahrheit, die er lieber für sich behalten hätte.

»Was, wenn nicht?« Ihre Miene hatte sich wieder erhellt.

»Dann ... könnte es mir viel schlechter gehen«, sagte er langsam und leise. Sie lächelte ihn so warm an, wie sie es nur ganz selten getan hatte, und wandte sich wieder ihrem Buch zu. Anscheinend war sie mit dem, was er gesagt hatte, zufrieden und hakte auch nicht weiter nach. Harry war ihr auch dafür unendlich dankbar.

Kurze Zeit danach verschwanden die Grangers in ihrem Schlafzimmer, nicht ohne den beiden eine gute Nacht zu wünschen. Gemeinsam lasen sie noch fast bis zwei Uhr, als Hermine plötzlich ihr Buch weglegte und er seines ebenfalls zuschlug. Sie stand auf und ging in Richtung der offenen Tür.

»Gute Nacht«, sagte Harry und stand ebenfalls auf, um sich umzuziehen. Etwas enttäuscht, daß sie ihm darauf nichts entgegnete, zog er seinen Schlafanzug an, und als er sich umdrehte, stand sie plötzlich hinter ihm. Ein wenig erstaunt darüber ging er wieder ins Bett und verschwand unter der Decke. Nur einen Augenblick danach kam sie zu ihm und schaltete das Licht aus.

»Gute Nacht, schlaf gut«, sagte sie und legte ihren Arm um ihn. Überrascht und doch glücklich entspannte er sich in ihren Armen. Die wohlige Wärme, die von ihr ausging, war überaus angenehm, und er ertappte sich bei dem Gedanken, daß er darauf nur ungern wieder verzichten würde. Nichts als Dunkelheit sah er noch für einige Minuten, und ständig erwartete er, daß sie nach ihm greifen würde, doch nichts dergleichen geschah. Er schloß die Augen und schlief kurz danach ein.

Am nächsten Morgen erwachte er kurz nach zehn Uhr und hatte einen Bärenhunger. Hermine schlief noch zusammengerollt neben ihm. Er überlegte kurz, ob er sie wecken sollte, blieb dann aber doch noch liegen, bis er sich entschied, sich bei ihr mit einem Frühstück zu revanchieren. Vorsichtig und leise stand er auf und lief in die Küche hinunter. Er fand das große Tablett auf dem Kühlschrank und begann, alles für ein leckeres Frühstück zusammenzusuchen. Gut zwanzig Minuten später war er mit dem Tablett wieder oben und fand sie noch immer schlafend vor. Leise schlich er sich an und stellte das Tablett auf dem Bett ab. Er ging zu ihr hinüber, nahm allen Mut zusammen und weckte sie mit einem zärtlichen Kuß auf die Wange.

»Morgen, gut geschlafen?« fragte er und ging wieder auf die andere Seite.

»Hätte nicht besser sein können«, sagte sie und begann beim Anblick des Essens zu strahlen. »Lieb von dir.« Sofort schnappte sie sich schon einen Teller. Harry setzte sich wieder ins Bett und begann ebenfalls zu essen. »Was wollen wir heute machen?« fragte sie und blickte ihn neugierig an.

»Weiß nicht genau. Ich dachte, du würdest wieder lesen wollen«, antwortete er und biß in sein Brötchen.

»Ich mag auch noch mehr, als nur zu lesen«, erwiderte sie lächelnd und trank einen Schluck Orangensaft.

»Das weiß ich wohl, doch brauchst du mich nicht extra zu unterhalten. Mir würde es schon genügen, hier neben dir zu lesen.« Während seiner letzten Worte hatte er beinahe das Gefühl, als würde er dabei rot werden.

Sie begann, ihr Ei abzupellen. »Ich hab' wirklich Lust, was mit dir zu unternehmen. Wir könnten vielleicht schwimmen gehen. Nicht sehr weit von hier ist ein Freibad. Wir könnten mit dem Fahrrad hinfahren, und da kann man auch lesen.«

Harry willigte ein, und so zogen sie sich nach dem Frühstück um und suchten die Sachen zusammen, die sie brauchen würden. Sie verließen das Haus, und Hermine öffnete die Garage. Erst jetzt wurde Harry etwas bewußt, was ihm durchaus peinlich war.

»Ähhm, Hermine«, begann er leise, während sie ihr Fahrrad aus der Garage holte.

»Was ist denn?«

»Ich kann nicht Fahrrad fahren.« Als sie zu lachen begann, wurde er knallrot.

»Wirklich? Der große Harry Potter, König der Lüfte, kann nicht radfahren?« fragte sie ungläubig und begann so zu lachen, daß sie sich kaum beruhigen konnte. Das wirkte auf Harry ansteckend, denn er stimmte ebenfalls ein. Schließlich war es auch eine lustige Vorstellung, mit zweihundert Sachen durch den Himmel zu zischen, aber nicht radfahren zu können. Endlich hatten sie sich wieder gefangen, und sie reichte ihm ihr Rad hin: »Dann lernst du es eben schnell. Schaffst du sicher spielend.«

»Ich soll auf ein Mädchenrad?« fragte er leicht entrüstet und blickte in ihr grinsendes Gesicht.

»Zum Üben ist es besser. Es ist kleiner, dadurch fällst du weniger leicht hin und du kannst viel leichter runtersteigen, wenn es nötig wird.«

Das klang tatsächlich logisch. »Okay. Ich glaub', du hast recht«, sagte er und nahm unsicher ihr Fahrrad. »Was muß ich beachten?«

»Eigentlich nichts. Tritt in die Pedale und fahr geradeaus. Dann versuchst du, immer langsamer zu fahren und dabei das Gleichgewicht zu halten.« Dabei trat sie neben ihn, um ihm beim Aufsteigen zu halten.

Harry tat, was sie gesagt hatte, und fuhr los. Am Anfang war es zwar noch wackelig, doch schien es leichter zu sein, als er geglaubt hatte. Zumindest, bis er langsamer wurde und versuchte, das Gleichgewicht zu halten. »Abstützen!« hörte er sie noch rufen, doch war das schon nicht mehr möglich. Langsam kippte er nach links und schlug auf dem Gras auf. Er ächzte ein wenig, doch als er seine breit grinsende beste Freundin vor sich sah, fing auch er an zu grinsen, obwohl ihm die Hüfte ein wenig schmerzte. »Du mußt dich doch mit den Beinen abstützen.« Sie konnte nur mühsam ein Lachen unterdrücken.

»Ich weiß, aber irgendwie ging es nicht«, gab er zurück und versuchte sich vom Fahrrad zu befreien, um aufstehen zu können. Einige Versuche und eine halbe Stunde später war Harry zwar noch ein wenig unsicher, dennoch sicher genug, um die Fahrt wagen zu können.

Der Weg war nicht weit und führte sie durch die fast verwaisten kleinen Straßen dieses Vorortes. Als sie am Schwimmbad ankamen, sicherten sie ihre Fahrräder - Harry fuhr mit dem von Hermines Mutter - und gingen zur Kasse. Dort bezahlte sie die zwei Pfund für jeden von ihnen und traten durch die Schranke. Das Schwimmbad war nicht sehr groß und schien ganz gut besucht zu sein, wie Harry sofort auffiel. Es gab weiter hinten eine schöne Liegewiese und vorne auch einen kleinen Kiosk. Neben dem großen Becken gab es noch ein kleines separates, welches für den Sprungturm gedacht war, der ungefähr drei Meter in die Höhe ragte. Langsam gingen sie am Becken entlang in Richtung Wiese, wo sie ein hübsches Plätzchen fanden und Hermine die große Decke ausbreitete.

»Sag mal, ist der Rucksack magisch vergrößert?« fragte Harry, als sie auch noch zwei große Handtücher, Badelatschen, Sonnenmilch und zwei Bücher herauszog.

»Sicher. Sonst hätte ich nicht mal die Hälfte mitnehmen können«, bestätigte sie lächelnd und setzte sich auf die Decke.

Es war ein schöner sonniger Tag, und während der Fahrt zum Schwimmbad hatten sich auch die letzten Wolken aufgelöst, die noch am Himmel gestanden hatten. Sogleich begann sie, ihre Schuhe und Socken auszuziehen, während Harry das gleiche machte. Er zog sein T-Shirt aus und sie das ihre, wobei sie einen dunkelblauen Bikini offenbarte, der nicht zu knapp geschnitten war, was ihn ein wenig enttäuschte und doch auch erleichterte. Gleichzeitig öffnete Harry seinen Gürtel und zog die Hose herunter, unter der er schon seine Shorts trug, mit denen er schwimmen gehen wollte. Auch sie zog ihre Hose aus und verstaute dann alle Sachen in ihrem Rucksack. Ihr Unterteil war ebenfalls dunkelblau, was Harry schon geahnt hatte, und es wirkte fast ein wenig zu kräftig für ihren hellen Teint. Sie nahm die Sonnenmilch und begann sich damit einzucremen.

»Wollen wir nicht erst schwimmen?«, fragte Harry überrascht.

»Die ist magisch und wasserabweisend. Auch im Becken kann man einen Sonnenbrand bekommen«, flüsterte sie lächelnd und rieb nach ihren Armen nun ihr Dekolleté und ihren Bauch ein. Danach folgten auch noch die Beine, was Harry alles überaus interessiert und mehrmals heftig schluckend verfolgte. Sie gab ihm die Milch und drehte sich um. Wie gut daß ich weite Shorts anhabe, dachte er und blickte auf Hermines Rücken.

»Würdest du bitte«, forderte sie ihn auf und legte ihre Haare nach vorn. Ein paar Tropfen ließ Harry auf ihre Schultern fallen und begann ihren Rücken einzureiben. Ihre Haut war beinahe so weich und zart wie Seide, und das erregte ihn. Gedanken gingen ihm durch den Kopf, Gedanken, welche er vor zwei Wochen noch nicht gehabt hatte. Wie in Trance rieb er ihren Nacken und Schultern ein und führte seine Hand dann immer tiefer. Seine Hand kribbelte, und nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, etwas Dummes zu tun. Kaum war er mit ihrem Rücken fertig, begann er sich selbst einzureiben und ließ anschließend seinen Rücken von ihr eincremen, was ihn beinahe noch mehr erregte. Endlich war sie fertig, und eine merkwürdige Welle der Erleichterung durchfloß ihn. Hermine verstaute die Flasche wieder im Rucksack und stand auf.

»Kommst du?« fragte sie, und auch Harry erhob sich, nachdem er seine Brille in den Rucksack gelegt hatte.

Nebeneinander gingen sie in Richtung des Beckens, das gut dreißig Meter entfernt war, und betrachteten das Geschehen im Wasser. Am Beckenrand hielt sich die Mehrzahl der Leute auf, die scheinbar sorglos vor sich hin dösten. Es gab zwei oder drei küssende Pärchen, aber sonst schien es nicht gerade viel Aktivität im Wasser zu geben. Einige etwas ältere Semester zogen ruhig ihre Bahnen, als die beiden am Wasser ankamen und Harry plötzlich das Gleichgewicht verlor. Völlig überrascht fiel er zur Seite und flog ins Wasser, welches bei der Berührung mit ihm nach allen Seiten davon spritzte. Es war angenehm warm und mußte dafür mit Sicherheit beheizt worden sein, da es noch immer relativ früh im Sommer war. Zuerst versuchte er den Kopf wieder über Wasser zu bekommen, als ihm einiges klar wurde.

»Du Biest«, rief er grinsend und blickte in ihr feixendes Gesicht. Sie beugte sich leicht vorn über und griff sich mit der linken Hand an den Mund, während sie mit der rechten auf ihn zeigte und dabei laut lachte. Sie sah dabei so süß aus, wie Harry es nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Hätte er seinen Zauberstab in der Hose gehabt, er hätte sie ins Wasser fliegen lassen, aber so hatte er keine Chance, sich zu wehren.

»Du hättest dein Gesicht sehen sollen«, rief sie, sich langsam wieder beruhigend.

»Komm schon rein. Das Wasser ist so schön warm«, forderte er sie auf. Sie überlegte einen Moment und sprang dann einfach hinein. Für eine Sekunde war sie vollständig im aufgebrodelten und weggepeitschten Wasser verschwunden, bis sie lachend wieder auftauchte.

»Herrlich!« rief sie und grinste ihn an.

Selten hatte ich soviel Spaß wie in der letzten halben Stunde, dachte er, als sie wieder auf der Decke saßen und sich von der Sonne trocknen ließen. Andere Mädchen hätten beim Schwimmen hauptsächlich darauf geachtet, keine nassen Haare zu bekommen, aber mit ihr kann man richtig Spaß haben. Entspannt ließ er sich nach hinten fallen und landete mit dem Kopf auf dem Handtuch, das er als Kissen benutzte. Er starrte einfach nur in den Himmel und gab sich seinen Gedanken hin. Erneut dachte er an die Prophezeiung und an Sirius und schloß die Augen. Wieder sah er seinen Paten durch den Schleier fallen, doch diesmal hatte er keine Angst, spürte keine Trauer, fühlte keine Leere in sich; nur die Wut auf Bellatrix Lestrange, die er in sich trug, da sie für Sirius' Tod die Verantwortung trug.

»Irgendwann krieg' ich dich.«

»Wen kriegst du? Mich?« fragte Hermine plötzlich, und als er die Augen öffnete, war sie schon über ihn gebeugt.

»Ich ... äh ... meine nicht dich. Ich meinte Bellatrix«, stotterte Harry leicht errötend.

»Eine Galleone für deine Gedanken?« sagte sie und sah ihn neugierig an. Am liebsten hätte er sie angelogen, doch er hatte beschlossen, es nicht mehr tun zu wollen.

»Über die Prophezeiung und Sirius' Tod«, meinte er leise.

»Warum denkst du an die Prophezeiung. Sie ist verloren. Es hat keinen Sinn darüber nachzugrübeln, auch wenn ich es irgendwie verstehen kann.«

Soll ich es ihr sagen, ging es ihm durch den Kopf.

»Sie ist nicht verloren«, sagte er plötzlich, ohne sich wirklich entschieden zu haben.

»Was meinst du?« Sie fuhr erschrocken auf und griff seinen Arm.

»Sie ist nicht verloren, weil Trelawney die Prophezeiung gemacht hat und Dumbledore damals dabei war«, bekannte er leise und drehte sich zu ihr.

»Wie lautet sie?« fragte sie hastig. Sie sah ihn unsicher fragend an, und ihre Gesichter waren dabei nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Er könnte ihre vierunddreißig Sommersprossen sehen und auch den kleinen Pickel, den sie morgen oder übermorgen auf der Stirn bekommen würde.

»Ich weiß nicht, ob ich es dir sagen kann. Es ist keine schöne Sache. Ich möchte dich nicht verschrecken«, flüsterte er und blickte in ihre braunen Augen.

»Das kannst du gar nicht, egal, wie sie lautet!« erwiderte sie und drückte seinen Arm fester.

»Das kannst du nicht wissen. Ich ...«

»Vertrau mir«, flüsterte sie eindringlich. Noch einige Sekunden zögerte er, doch dann gab er nach.

»Entweder wird Voldemort mich töten oder ich ihn, denn keiner kann leben, wenn der andere überlebt.« Er sprach langsam und hielt dabei seine Augen geschlossen. Was wird sie sagen? Ich muß zum Mörder werden, wenn ich selbst überleben will, dachte er und spürte etwas Warmes und Weiches auf seiner Stirn. Als er die Augen öffnete, sah er nur unscharf ihr Kinn, doch entfernte sich ihr Kopf gerade, bis er wieder ihre Augen sehen konnte.

»Ich danke dir so sehr«, flüsterte er und hätte beinahe angefangen zu weinen.

»Schschsch«, gab sie nur von sich und hielt jetzt seine Hand noch fester. Einige Minuten blickten sie sich einfach nur an, und Harry fühlte, wie das Band zwischen ihnen immer stärker wurde.

»Ich vermisse ihn so sehr. Es tut so weh«, hauchte er ihr zu und konnte jetzt die Träne nicht zurückhalten. Sie lächelte nur und ließ ihn reden.

Fast eine Stunde redete er, während sie ihn mit keinem einzigen Wort unterbrach. Gegenüber niemandem sonst hätte er sich so öffnen wollen, und mit niemandem sonst hätte er es überhaupt gekonnt. Bei ihr kam es ihm so einfach und natürlich vor, die Worte sprudelten beinahe von alleine aus seinem Mund, und mit jedem dieser Worte wurde eine Zentnerlast von ihm genommen. Viele Tränen vergoß er dabei, doch vor ihr war es ihm nicht peinlich. Für sie war er einfach nur Harry, ein Junge, noch nicht mal ganz erwachsen, und nicht derjenige, der die Welt retten mußte.

»Versprichst du mir etwas?« fragte sie Harry unvermittelt, und bevor er überhaupt die Frage realisieren konnte, nickte er schon. Er würde ihr alles versprechen. Er stand so unglaublich tief in ihrer Schuld, fühlte sich aber trotzdem nicht nur dazu verpflichtet, er wollte es ihr auch versprechen. »Sag es bitte«, flüsterte sie.

Ohne zu zögern, antwortete Harry: »Ich verspreche es dir!«

»Möchtest du nicht wissen, was du mir versprochen hast?« fragte sie und lächelte ein wenig.

»Schon«, gab er ohne Zögern zurück, doch vertraute er ihr vollständig, daß sie nichts Unmögliches von ihm verlangen würde.

»Du hast mir eben versprochen, daß du dich niemals wieder aufgibst. Egal, was auch immer passieren sollte, egal, wer auch immer sterben sollte. Du wirst dich nicht aufgeben. Zumindest nicht, bis Voldemort tot ist.« Sie sprach in einem so ernsten Tonfall, wie Harry sie nur selten erlebt hatte. Intuitiv nickte er.

Ihre braunen Augen strahlten einen Moment, und sie lächelte. Er hatte es ihr versprochen, und er würde sich daran halten. Zumindest hoffte er, daß er es könnte.

Noch einige Minuten sahen sie sich einfach nur an, bis beide einschliefen. Er hatte beobachtet, wie ihre Augenlider immer schwerer geworden waren, bis sie schließlich zufielen, und wie ihr Lächeln langsam kleiner geworden war, bis es fast verschwunden war. Er wußte, daß sie schlief, da sie keine Reaktion zeigte, als er eine Strähne aus ihrem Gesicht strich und sanft über ihre Wange fuhr, bevor er selbst einnickte.

Etwa eine Stunde später erwachte er und sah sie vor sich liegen. Sie lag auf dem Bauch und las ein Buch.

»Gut geschlummert«, fragte sie lächelnd, und er nickte nur, während er sie unverwandt ansah. Einige Minuten passierte gar nichts, bis sie immer weiter lächelte und dann schließlich grinste. »Was ist«, fragte sie, drehte ihm schlagartig den Kopf zu und lachte ihn an.

»Nichts. Ich hab' dich nur beobachtet«, sagte er und wurde sogleich verlegen.

»Warum?«

»Ich weiß nicht«, antwortete er, denn er wußte es wirklich nicht.

»Komm schon. Was ist an mir so interessant, daß du mich anstarrst?« fragte sie und grinste noch immer.

»Ich ... wirklich ... ich«, stotterte er und wurde rot. »Wollen wir noch mal schwimmen?« fragte er schnell, und sie nickte.

Eine halbe Stunde später saßen sie wieder auf der Decke und lächelten sich schon wieder an.

»Hätte nicht gedacht, daß du dich wirklich rächen würdest«, sagte sie jetzt zum dritten Mal vorwurfsvoll, obwohl sich Harry schon zweimal dafür gerechtfertigt hatte, warum er sie mit voller Absicht ins Becken geworfen hatte. Sie trockneten sich ein wenig ab und liefen dann zum Kiosk, um sich eine Kleinigkeit zu essen zu holen.

Kurz vor halb sieben räumten sie ihre Sachen zusammen und zogen sich wieder an. Gut gelaunt verließen sie das Schwimmbad und radelten zurück zu Hermines Haus. Dort angekommen, verstauten sie die Räder wieder in der Garage und betraten das Haus. Auf dem Anrufbeantworter befand sich eine Nachricht, die sie sogleich abhörte, ehe sie ihm nach oben folgte.

»Meine Eltern kommen erst um halb neun. Ist noch was dazwischen gekommen«, sagte sie. »Ich geh' erst mal duschen«

»Ähhm, okay. Sag Bescheid, wenn du fertig bist, ich möchte auch«, erwiderte er, und sie verschwand aus dem Zimmer.

Keine zehn Minuten danach konnte Harry duschen gehen und sich das Chlorwasser abwaschen. Als er aus dem Bad kam, hatte er nur ein Handtuch um die Hüften und ging zurück in sein Zimmer, in dem Hermine auf dem Bett lag und in einem Buch las. Er blickte sie etwas unsicher an und wartete, daß sie das Zimmer verlassen würde, doch sie blickte nicht auf. Er räusperte sich, und endlich sah sie ihn an.

»Was ist?« fragte sie, und es klang wirklich so, als wüßte sie nicht, was er meinte.

»Ich muß was anziehen«, sagte er kurz, aber sie grinste nur.

»Gibt nichts, daß ich nicht schon gesehen hätte«, erwiderte sie keck und wurde dann doch ein bißchen rot.

»Es wäre dir auch nicht recht, wenn du dich umziehst und ich dabei zusehen würde, oder?« grinste er jetzt schelmisch, und sie schien darüber nachzudenken.

Sie erhob sich mit leicht rotem Kopf vom Bett. »Du hast mich auch noch nie ganz gesehen«, stellte sie lächelnd fest.

»Ich hab' mehr gesehen, als ich jemals geglaubt hätte, sehen zu können.«

»Und? Hat dir gefallen, was du gesehen hast?« fragte sie und verschwand aus dem Zimmer, ohne ihm Gelegenheit für einen Konter zu geben.

Er wäre sowieso zu perplex gewesen, um ihr etwas Geistreiches darauf zu entgegnen. Schließlich ging er zu seinem Koffer, ließ das Handtuch fallen und zog sich frische Sachen an, während er wieder an die Situation zurückdachte und Hermines nackte Brüste vor sich sah. Unbewußt lächelte er, denn wenn er sich einer Sache absolut sicher war, dann der, daß es ihm sehr gefallen hatte. Kaum war er fertig und drehte sich um, stand Hermine schon wieder hinter ihm. Sie legte sich erneut aufs Bett und begann zu lesen. Harry fühlte sich merkwürdig bei ihrem Anblick, schob es aber auf das peinliche Gespräch von eben.

»Hast du Chos Brüste je gesehen?« fragte sie plötzlich unvermittelt und erschreckte Harry damit wirklich. Zwar war Hermine schon immer sehr direkt gewesen, doch eine solche Frage hätte er nie erwartet.

»Ähhm ... hast du das gerade wirklich gefragt?« fragte er unsicher und sah zu ihr hinüber.

»Ich ... ja ... es interessiert mich.« Sie legte ihr Buch auf ihren Bauch und sah ihn gespannt an

»Ich ... nein!« sagte er mit ein wenig Nachdruck. Kurze Stille. »Und hast du Viktor je nackt gesehen?« fragte er plötzlich und wußte nicht, warum er es tat.

»Nein. Wir haben uns nur einmal geküßt«, antwortete sie schnell und nahm wieder ihr Buch. Harry konnte sehen, wie sie rot anlief und ihr offenbar erst jetzt die Tragweite dieser Fragen bewußt wurde.

»Warum fragst du so was?« fragte Harry ein wenig unsicher und nahm ihr das Buch aus den Händen, damit sie sich nicht dahinter verstecken konnte.

»Ich - weiß nicht - ich ...«

Hermine ist doch sonst nie sprachlos. Irgend etwas stimmt hier doch nicht, dachte er und überlegte einen Moment. »Wollen wir nicht ehrlich sein? Es bringt doch nichts, wenn wir hier rumstottern«, sagte er und erschrak sofort über seine eigenen Worte.

»Ich - okay«, sagte sie und sah so aus, als würde sie sich einen Moment sammeln und ihren Mut zusammennehmen. »Als ich dich bei den Dursleys umgezogen habe, da war mir das nicht peinlich, aber ich glaube, bei jedem anderem wäre es so gewesen.« Sie blickte ihn nach ihren Worten an.

»Daß ich deine Brüste gesehen habe, war mir sehr peinlich«, erwiderte Harry und wurde ein wenig rot.

»Ich weiß, aber das war mir auch nicht peinlich.«

»Du bist aber rot geworden.«

»Ich weiß. Aber nicht deshalb.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich habe ... habe ... es - genossen«, stammelte sie und wurde knallrot. Jetzt war Harry wirklich verwirrt, und sie schien es auch zu sein. Seine Gefühle waren unklarer als je zuvor, und er fühlte sich merkwürdig schuldig, ohne einen Grund zu kennen.

»Was ist jetzt zwischen uns?«, fragte er unsicher und sah sie an.

»Ich weiß es wirklich nicht. Ich mag dich sehr gern, wahrscheinlich liebe ich dich sogar, aber ich weiß nicht, auf welche Art«, antwortete sie, während ihr Gesicht langsam wieder seine normale Farbe annahm.

»Ich glaube, so geht es mir auch«, sagte er, war sich aber nicht sicher. Vielleicht war es nur die Dankbarkeit in ihm, die ihn das alles fühlen ließ, aber vielleicht war es auch etwas anderes, viel Stärkeres.

»Ich fühle mich schuldig wegen Viktor«, sagte sie plötzlich und drehte den Kopf wieder weg.

»Das verstehe ich«, erwiderte Harry bloß und vermied es ebenfalls, sie anzusehen.

»Was machen wir jetzt?«

»Ich weiß wirklich nicht«, antwortete er, traute sich aber nicht, sie anzublicken.

»Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne abwarten, wie es sich entwickelt, bevor irgendwas passiert«, sagte sie und stand auf.

»Wohin gehst du?« fragte er erschrocken. Er wollte nicht, daß sie ging.

»Ich hole nur was zu trinken für uns«, erwiderte sie und kam zwei Minuten später mit zwei kleinen Flaschen zurück. Sie gab ihm eine davon und legte sich wieder neben ihn. Das warme Gefühl, das während ihrer Abwesenheit verschwunden war, kehrte mit ihr zurück, und auch die kalte Apfelschorle vermochte sie nicht zu vertreiben. »Gibst du mir mein Buch?« Er reichte es ihr zurück.

Still lasen beide, doch Harrys Gedanken kreisten um ganz andere Dinge, ohne aber zu einem wirklichen Ergebnis zu kommen. War er verliebt, oder war es nur unendliche Dankbarkeit? War es freundschaftliche Liebe? Platonisch? War es mehr als diese absolute Freundschaft, für die er es fünf Jahre gehalten hatte? Er wußte, daß er sie sehr schön fand. Doch auch Parvati fand er gutaussehend, würde aber niemals das gleiche für sie empfinden können. Ferner war Hermine sein bester Freund, und es könnte gefährlich sein, sich auf irgend etwas einzulassen, was nachher nicht Bestand haben würde. Dann dachte er auch kurz über Viktor nach und daß es auch ihm gegenüber unfair wäre. Schließlich kam ihm auch Ron in den Sinn. Was würde er wohl davon halten? Sicher wäre er sehr eifersüchtig und würde sich ausgeschlossen fühlen, und dann war Harry sich auch unsicher, ob Ron nicht vielleicht doch mehr als Freundschaft für Hermine empfand. Ron verhielt sich manchmal so eigenartig und abweisend, daß da eigentlich nur mehr dahinter stecken konnte. Auch auf Viktor schien er überaus eifersüchtig gewesen zu sein, andererseits verhielt er sich auch so, wenn Ginny einen neuen Freund präsentierte. Rons Gefühle Hermine gegenüber waren Harry noch mehr ein Rätsel, als es seine eigenen Gefühle waren – und die waren schon überaus mysteriös.

Gegen halb neun kamen Hermines Eltern zurück und brachten auch das Essen mit. Es gab erneut chinesisch, und diesmal war eine noch größere Auswahl vorhanden als bei Harrys letztem Versuch. Das Essen schmeckte mehr als nur köstlich, und erst gegen halb zehn lag er mit Hermine wieder im Bett. Inzwischen hatte er mit dem Buch über Zaubertränke begonnen, das er ab dem ersten September ständig brauchen würde. Ab und zu warfen sich die beiden verstohlen Blicke zu, doch bekamen sie kein Wort heraus, bis Hermines Eltern gegen halb zwölf ins Bett gingen.

»Ich geh' dann auch schlafen«, sagte sie, kaum daß ihre Eltern in ihrem Schlafzimmer verschwunden waren.

»Okay.«

Einen Moment sahen sie einander noch an, und Harry fühlte genau, daß jeder auf ein Wort des anderen hoffte, doch er bekam keinen Ton heraus. Innerlich verfluchte er sich dafür, doch konnte er einfach nicht anders. Hermine verschwand in ihrem Zimmer und schloß auch die Tür. Irgendwie überkam ihm das Gefühl, eine große Chance vertan zu haben, und las schnell weiter, um sich davon abzulenken. Gegen ein Uhr knipste er das Licht aus.

Diese Nacht war weit weniger angenehm als die letzten. Irgendwann gegen drei Uhr wachte er schweißgebadet auf und verspürte einen gewaltigen Brechreiz. Er schaffte es gerade noch ins Bad, allerdings nicht mehr bis zur Toilette. Keine halbe Minute später kniete Hermine hinter ihm und streichelte sanft seinen Rücken, während sich Schwall um Schwall das halbverdaute chinesische Abendessen in die Badewanne ergoß. »Es wird besser, glaub mir«, sagte sie leise in einer Pause. Harry wollte ihr so gern glauben, doch was er gesehen hatte, war so unerträglich gewesen, daß es ihm einfach nicht gelang. Einige Minuten später hing er erschöpft über der Wanne und brachte nichts mehr als Magensäure hervor, die sich ätzend in seine Speiseröhre zu fressen schien. Der widerliche Geschmack und Geruch in Mund und Nase raubte ihm fast die Luft. Ohne Zögern nahm sie den Duschkopf und begann, die Wanne sauber zu spülen. Noch immer hing er über der Wanne und versuchte sich langsam zu erholen, als er plötzlich kaltes Wasser über seinen Kopf laufen spürte. Obwohl es überraschend kam, war es für ihn doch überaus angenehm und er füllte seine rechte Hand mit Wasser, um sich den Mund auszuspülen. Hermine drückte die letzten Brocken des Abendessen durch den Abfluß, spülte ihre Hand sauber und ließ noch ein wenig Wasser nachlaufen, damit sich nichts festsetzen konnte. Ein Handtuch lag plötzlich über Harrys Schulter und er trocknete sich damit seinen Kopf ab. Erschöpft setzte er sich mit dem Rücken an die Wanne und sah sie an. Sie reichte ihm die Hand und half ihm aufzustehen. Nur Augenblicke später lagen sie in seinem Bett, und sie hatte ihn fest in ihre Arme geschlossen.

Nach einem alptraumfreien Schlaf erwachte Harry gegen Mittag. Von Hermine fehlte jede Spur. Langsam stand er auf und ging ins Bad, um eine Dusche zu nehmen. Kaum hatte er die Tür zum Badezimmer geöffnet, fiel sein Blick auf einen dort angeklebten Zettel.

Morgen Harry,

brauche ein wenig Zeit für mich. Komme am Nachmittag zurück.

Hermine

Er riß ihn vom Spiegel, zerknüllte ihn und warf ihn ins Waschbecken. Kein gutes Zeichen, dachte er, als er die Tür verschloß, die Kleidung fallen ließ und unter die Dusche stieg. Minutenlang döste er unter dem heißen Wasser, das hart auf seinen Kopf prasselte. Immer wieder dachte er an die Zeit mit Hermine zurück. Wie sie sich kennengelernt hatten, die Abenteuer, die sie miteinander durchgestanden hatten, und die Zeit, die er hier mit ihr verbracht hatte. Es schien alles so logisch und doch so seltsam unlogisch zu sein. Er mußte unbedingt mit ihr darüber reden. Wir müssen eine Lösung finden, dachte er und stellte die Dusche ab. Langsam ging er zurück in sein Zimmer und zog sich frische Kleidung an. Wenige Minuten später stand er in der Küche und schmierte sich ein paar Brote. Sein Magen hatte schon beim Aufstehen geknurrt, und jetzt war sein Hunger beinahe unerträglich. Er war noch gar nicht fertig, da biß er schon von dem unbelegten Brot ab und schluckte den Bissen hastig hinunter. Im Kühlschrank war Orangensaft, doch darauf hatte er keinen Durst. Deshalb nahm er sich ein Glas aus dem Schrank und hielt es unter den laufenden Wasserhahn, trank es leer und füllte es ein zweites Mal. Da er nicht wußte, was er tun sollte, ging er hoch ins Bett und begann wieder zu lesen. Was soll ich auch anderes tun, dachte er sich und blätterte um. Stunde um Stunde verging, doch Hermine kam nicht zurück. Immer mehr setzte sich dabei der Gedanke in seinem Kopf fest, daß sie nur Freundschaft für ihn empfand. Irgendwie war es eine grausame Wahrheit, doch gleichzeitig wollte er ihrem Urteil trauen, meist wußte sie es ja doch besser als er.

Erst gegen halb fünf kam sie zurück. Er hörte sie unten, doch kam es ihm wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich vor ihm stand. Sie sah merkwürdig aus. Wahrscheinlich hatte sie hart mit sich gerungen und trotzdem keine Lösung für alle Probleme gefunden.

»Ich möchte mit dir reden«, sagte sie und kam langsam näher. Harry merkte sich die Seite seines Buches und klappte es zu.

»Was möchtest du mir sagen?« fragte er und blickte sie unsicher an.

»Ich denke, im Moment ist es wirklich das beste, wir belassen alles auf dem Stand, den wir vor zwei Tagen hatten.« Ihre Worte wurden immer leiser. »Ich werde dir die Freundin sein, die du brauchst, und dazu gehört auch - sofern du es noch möchtest - daß ich bei dir schlafe. Im Augenblick ist das alles, was ich dir bieten kann. Es tut mir leid.«

»Es braucht dir wegen nichts leid zu tun. Das ist doch viel mehr, als ich erwarten kann. Ich bin dir dafür wirklich dankbar«, versicherte er und lächelte ein wenig. Tief in ihm sah es anders aus. Zwar konnte er sich im Augenblick damit abfinden, doch wollte er wahrscheinlich mehr, was ihm im Verlaufe des Tages immer klarer geworden war. Auch sie lächelte jetzt ein wenig und schien irgendwie erleichtert zu sein. Merkwürdigerweise war Harry es auch, selbst wenn er es sich wohl anders gewünscht hatte. Sie verbrachten den Rest des Tages mit Lesen und gingen nur zum Abendessen mit ihren Eltern nach unten.

Die Nacht verlief für Harry wieder gut. Er schlief, von Hermine gehalten, einen friedlichen Schlaf, und am Morgen ging es ihm körperlich so gut wie seit Jahren nicht mehr. Der darauffolgende Tag war für Harry weit schwieriger, obwohl Hedwig endlich wieder zu ihm kam und einen Brief für Hermine dabeihatte. Darin wurden sie von Dumbledore gebeten, am nächsten Tag in den Grimmauldplatz zu kommen und dafür den beigelegten Portschlüssel zu benutzen, der sie um Punkt zwölf Uhr dort hinbringen würde.

Hermine überredete ihn, noch einmal mit ihr über all seine Probleme und Träume, aber auch seine größten Ängste zu reden. Danach erfuhr er von Hermine, daß nicht nur er Probleme hatte, die Ereignisse am Ende des letzten Schuljahres zu verarbeiten. Auch sie selbst hatte sich mit Alpträumen herumgeplagt, auch wenn sie nicht so schlimm wie bei ihm gewesen und auch längst wieder verschwunden waren. Sie redeten auch über den Grimmauldplatz und darüber, daß es an der Zeit sei, sich dorthin zu begeben. Endlich erzählte Hermine noch, woher sie überhaupt Kenntnis über seinen Zustand bei den Dursleys erlangt hatte, von wo sie ihn herausgeholt hatte.

Nachdem Remus bei Harry gewesen war, hatte er ihr sofort geschrieben, woraufhin sie ihren Aufenthalt bei Viktor abgebrochen hatte. Dumbledore war der Meinung gewesen, daß, da Remus es nicht geschafft hatte, ihn aus seiner Isolation zu befreien, sie als einzige dazu in der Lage sei.

Jetzt ging es also zurück zum Grimmauldplatz. Zwar hatte er noch immer keine große Lust, in das Haus seines verstorbenen Paten zu ziehen, doch machte ihm Hermine klar, daß er sich dem stellen mußte.

»Du kannst dich nicht ewig irgendwo verkriechen und darauf bauen, daß ich bei dir bin. Du mußt noch so viel lernen, um dann das Entscheidende zu vollbringen, und das kannst du nur, wenn du an diesen Ort gehst und dich deinen Ängsten stellst«, hatte sie ihm gepredigt, und er hatte zugestimmt. Bisher hatte er so viel falsch gemacht. Er war aufbrausend und unbeherrscht gewesen und hatte damit nicht nur sich, sondern auch andere in Gefahr gebracht. Zudem war er lernfaul, und das war nicht gerade eine gute Eigenschaft, wenn man den Retter der Welt spielen sollte. Er beschloß sich deshalb zusammenzureißen und endlich zu tun, was er tun mußte. Er würde lernen zu überleben, lernen, wie er Voldemort besiegen konnte, und morgen würde er anfangen.

Er stimmte zu, an den Ort zurückzukehren, an den ihn alles an Sirius erinnerte, und begann abends schon seine Sachen zu packen. Auch diese Nacht verbrachten sie zusammen und wußten, daß es wahrscheinlich für einige Zeit die letzte dieser Art gewesen sein würde. Die Nacht lief für Harry gut, zumindest bis etwa vier Uhr morgens. Mit starken Narbenschmerzen wachte er auf, schaffte es aber immerhin, Hermine schlafen zu lassen. Nach einer schier endlosen halben Stunde vergingen die Schmerzen langsam, und er schlief wieder ein.

Erst gegen neun Uhr standen sie auf und aßen ein letztes Frühstück in trauter Zweisamkeit. Schon jetzt vermißte Harry die vergangenen Tage, obwohl sie noch so frisch in seinen Erinnerungen waren. Vielleicht komme ich Hermine niemals wieder so nah, dachte er und ergriff mit ihr wenige Augenblicke vor zwölf den Portschlüssel. Er hielt in der anderen Hand seinen Koffer, in dem auch Hedwigs leerer Käfig war, denn seine Eule hatte er schon vorausgeschickt.