Für alle Zeiten
Heiße Windböen wehten über die Hochebene, wirbelten Wolken von Sand auf und trieben sie vor sich her, bis sie das L-langon-Gebirge erreichten und als Staubregen niedergingen. Die erbarmungslos brennende Sonne stand im Zenit und ließ die Luft vor Hitze flirren. Fast alle Tiere blieben in ihren Höhlen zurück, wo sie auf die abendliche Abkühlung warteten.
Eine der wenigen Ausnahmen war ein ausgewachsener Le-matya, der auf samtigen Pfoten durch den heißen Sand schritt, immer wieder den Kopf senkte und die Luft tief einzusaugen schien. Das Raubtier verfolgte seit Tagen eine Spur und war mittlerweile in einer Jagdtrance, die sich durch äußerliche Umstände nicht mehr aufhalten ließ. Es hatte die Beute bereits mehrmals gesehen, aber sein Instinkt sagte ihm, dass die Zeit noch nicht reif war.
Zwar handelte es sich dabei nur um einen sehr alten Sehlat und ein zweibeiniges Junges, doch der Lematya hatte mit ähnlich großen Beutetieren bereits unangenehme Erfahrungen gemacht und wusste, dass ihre Kräfte nicht zu unterschätzen waren.
Er senkte erneut den Kopf, um die Spur zu verfolgen, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Eine vorwitzige Wüstenmaus hatte sich aus ihrem Bau gewagt und rannte davon. Blitzschnell setzte er ihr nach und jagte seine Krallen in ihren Körper. Das Gift wirkte rasch und er hob die gelähmte Maus in sein Maul, zermalmte die kleinen Knochen. Grünes Blut tropfte auf den Boden und floss seinen Rachen hinunter. Zufrieden fühlte er, wie der nagende Hunger in seinem Magen betäubt wurde und gestattete sich einen Moment der Rast. Es gab keinen Grund zur Eile.
***
Der Junge wischte sich Sand und Schweiß aus dem Gesicht. Nur seinem inneren Augenlid hatte er es zu verdanken, dass er trotz des Sandsturms noch klar sehen konnte. Seit zwei Tagen war er auf kein fließendes Gewässer mehr gestoßen, die Zunge klebte ihm am Gaumen und er fühlte sich schmutzig. Aber daran war im Moment nichts zu ändern und so nahm er es als gegeben hin.
Trotz des Wassermangels musste er sich derzeit noch keine Sorgen machen, er hatte genug Reserven. Sein Körper war der unwirtlichen Umgebung perfekt angepasst. In diesem Punkt unterschied er sich nicht von seinen vulkanischen Artgenossen, obwohl er relativ klein war und seine Züge weicher wirkten als die anderer Kinder seines Alters. Er versuchte diese anatomischen Nachteile durch eine gerade Haltung und besonders strikte Kontrolle seiner Mimik auszugleichen, was ihm nicht immer gelang. Aber die Erfahrung des Kahs-wan würde ihn weiter stärken, das hatte ihm sein Vater versichert.
Plötzlich spürte er eine feuchte Zunge über seine Hand gleiten. "Schon gut, I-Chaya, ich weiß, dass du Hunger hast" sagte er und strich beruhigend über das struppige Fell seines Sehlats. Das treue Tier hatte ihn natürlich auch auf diese Reise begleitet und er war froh darüber, wie er sich eingestand. Einsamkeit stellte nichts neues für ihn da, doch allein die Hochwüste zu durchqueren, hätte ihm eine neue Dimension dieses Gefühls eröffnet, auf die er gut verzichten konnte. Es war nichts ehrenrühriges daran, seinen Sehlat am Kah-wan teilhaben zu lassen, viele Vulkanier taten das.
Er ließ seine Blicke über die Ebene streifen, auf der Suche nach Nahrung. Schließlich entdeckte er eine Art Böschung, eine Gruppe von vertrockneten Sträuchern, die sich in eine Senke schmiegten. Sie spendeten etwas Schatten, was vielleicht der einen oder anderen essbaren Pflanze Gelegenheit zum Wachsen bot.
Er machte sich auf den Weg zu der Böschung und I-Chaya rannte freudig voraus, als hätte er das Vorhaben des Jungen gespürt, was wahrscheinlich auch der Fall war. Das bärenartige Tier sprang die Senke hinunter und verschwand zwischen den Sträuchern. Unvermittelt hörte der Junge, wie es laut anfing zu knurren. Worauf mochte I-Chaya gestoßen sein? Vielleicht braucht er Hilfe. Der Junge beschleunigte seinen Schritt und rannte schließlich, angetrieben durch die Sorge um seinen Freund, dessen Knurren immer aggressiver klang.
Als er dann durch die Sträucher in die Senke gesprungen kam, erwartete ihn ein so überraschender Anblick, dass er fast gestürzt wäre. Gerade noch konnte er sich mit den Händen an einem Ast festhalten und und starrte auf die Szene direkt vor sich.
I-Chaya stand knurrend und mit gesträubtem Fell vor einem Mann, der im Schatten eines der hohen Büsche saß. Seine blonden Haare, die verkrüppelten Ohren und gerade Augenbrauen gaben ihm ein fremdartiges Aussehen. Der Junge kam schnell zu der Schlussfolgerung, dass es sich um einen Menschen handelte. Er ähnelte seiner Mutter und den irdischen Gästen seines Vaters, der als Botschafter oft Besuch von anderen Planeten bekam.
Es war jedoch mehr als ungewöhnlich, einen Menschen hier draußen in der Wüste anzutreffen, wo sich selbst Vulkanier nur in Ausnahmesituationen aufhielten. Am seltsamsten aber erschien dem Jungen, dass der Mann nicht nur keinerlei Gepäck, sondern auch keine Kleidung bei sich hatte. Mit anderen Worten, er saß völlig nackt mitten in einer Wüste auf Vulkan.
***
Der Mann hielt beide Hände schützend vor sich und rede beruhigend in einer fremden Sprache auf I-Chaya ein, womit er aber nicht viel Erfolg hatte. Der Junge konnte nicht verstehen, was er sagte, denn er hatte keinen Universalübersetzer bei sich. Wozu auch, hier in der Wildnis? Schließlich fasste er sich wieder, überspielte seine Verwirrtheit und rief I-Chaya zu sich. Das Tier gehorchte, wenn auch widerwillig.
Jetzt erst bemerkte der Mensch die Anwesenheit des Jungen und sah ihn an. Obwohl er erschöpft wirkte, trat plötzlich ein breites Lächeln auf sein Gesicht. "Bist du das, Spock?" fragte er in fast akzentfreiem Vulkanisch.
Der Junge erstarrte. Ohne einen bewussten Anstoß berechnete sein Gehirn die Wahrscheinlichkeit dafür, dass er hitzebedingt halluzinierte. Sie war allerdings nur sehr gering.
"Woher wissen Sie meinen Namen?" presste er schließlich heraus. Er war sich absolut sicher, diesen Mann noch nie vorher gesehen zu haben. "Und wer sind Sie?"
Inzwischen bereute Spock, entsprechend den Kahs-wan-Regeln keine Waffe bei sich zu haben. Natürlich würde er sie nicht ohne zwingenden Grund einsetzen, aber dieser Mensch war offensichtlich unberechenbar und damit auch die Gefahr, die von ihm ausging.
Obwohl er seine Gesichtszüge beherrscht hatte, las sein Gegenüber scheinbar darin wie in einem offenen Buch. "Keine Sorge, ich will dir nichts tun, Spock." Seine Stimme klang sanft, nahezu liebevoll, was den Jungen noch mehr irritierte. Er wusste, dass Menschen emotional waren und kaum Selbstkontrolle hatten. Doch sogar seine menschliche Mutter sprach nur selten auf diese Weise mit ihm.
Entschlossen verstärkte er seine mentalen Schilde, hob das Kinn und sah dem Mann direkt in die Augen. "Also, wer sind Sie?"
Dieser lächelte weiterhin, ließ sich vom schroffen Auftreten des Jungen nicht beeindrucken. "Ich heiße James Kirk. Wir kennen uns von.. früher, daher weiß ich deinen Namen".
"Das ist nicht wahr" stieß Spock hervor. Wie konnte jemand so schamlos lügen? Es war ihm zuwider und brach eine der obersten Regeln, die für die vulkanische Gemeinschaft galten. Gut, dies war kein Vulkanier, aber doch ein zivilisiertes Wesen, zumindest wenn man stark verallgemeinerte.
"Und wie kommen Sie hierher?" fragte er und umfasste mit einer Geste die Wüste, wenn nicht ganz Vulkan. Offensichtlich konnte er diesem Menschen kein Wort glauben, aber er war doch neugierig, welche Erklärung er dafür geben würde.
"Nun ich.." Der Mann namens Kirk zögerte kurz, sprach dann aber entschlossen weiter. ".. du wirst es ohnehin bald bemerken, darum kann ich es dir auch gleich sagen. Ich bin ein Zeitreisender, wenn man es so nennen will. Wenn auch ein unfreiwilliger. Ich bin vor ein paar Stunden in deine Gegenwart gesprungen, werde aber wahrscheinlich bald wieder verschwinden."
"Faszinierend" sagte Spock und konnte sich das erneute Lächeln nicht erklären, das daraufhin über das Gesicht des Menschen glitt. Da er sich für solche Themen interessierte, hatte er bereits früher im Schulcomputer diverse Theorien über Zeitreisen nachgelesen. Dort war jedoch stets von Raumschiffen und gewaltigen Energien die Rede, die für solch eine Reise notwendig waren.
Spock musterte die nackte, staubige Gestalt vor sich und sagte schließlich "Sie sind aber kein Raumfahrer." Er stellte es eher fest, als dass er fragte.
"Nein, das bin ich nicht" bestätigte Kirk. Seine Stimme klang plötzlich müde und traurig. Er blickte um sich, als würde er sich erst jetzt richtig der Situation bewusst. "Hast du irgendetwas, das ich mir anziehen kann? Vielleicht auch etwas zu essen oder zu trinken? Zeitreisen senken den Blutzuckerspiegel und ich fühle mich nicht sehr gut."
Spock zögerte nur kurz. Auch wenn der Mann wahrscheinlich ein Lügner war, vielleicht auch geisteskrank, so konnte und wollte er ihm doch nicht seine Hilfe verweigern. Lebensmittel hatte er natürlich nicht dabei, aber Kleidungstücke zum Wechseln. Er nahm seinen Rucksack ab und öffnete ihn, um nach einer Hose zu suchen. Sie würde zu kurz für Kirk sein, aber besser als nichts.
In diesem Moment hörte er ein Fauchen und Röcheln hinter sich. Er schnellte herum und sah eine gewaltige Raubkatze auf sich zuspringen.
***
Reflexartig warf sich Spock zur Seite und konnte so den scharfen Krallen entgehen. Ohne nachzudenken, rollte er ein Stück weiter, sprang wieder auf und nahm eine Abwehrhaltung ein. Er wusste, seine Chancen gegen einen ausgewachsenen Le-matya standen schlecht, aber er würde sich nicht kampflos in sein Schicksal fügen. Ein suchender Blick nach I-Chaya zeigte ihm, dass das Tier mit zerfetzter Kehle am Boden lag und sein Herz verhärtete sich. Wut quoll in ihm hoch und er hieß sie willkommen.
Der Le-matya stürzte sich erneut auf den Jungen. Im gleichen Moment sprang Kirk auf und trat mit nackten Füßen nach dem Raubtier, ein verrücktes, aussichtsloses Unterfangen, das das Tier aber ablenkte und sich dem Mann zuwenden ließ. Es umkreiste ihn und sprang dann mit einem einzigen Satz auf seinen Oberkörper, wo er sich verkrallte. Kirk schrie auf und versuchte verzweifelt, den Kopf des Raubtieres von sich wegzuhalten. Er stieß seine Finger in ein Auge des Tieres, das gequält aufbrüllte.
Diesen Augenblick der Ablenkung nutzte Spock, um nah an den Le-matya heranzutreten und die sensible Stelle im Nacken zu berührten. Er hatte noch nicht viel Erfahrung mit dem Nackengriff und das Fell des Tieres war dick. Doch die Nervenreizung reichte aus, so dass es das kurz Bewusstsein verlor und von Kirk herunterrutschte. Der Mensch zögerte keine Sekunde, sondern griff nach dem Kopf des Raubtieres und brach ihm mit einer gewaltigen Kraftaufwendung das Genick. Spock starrte ihn an und senkte dann den Blick.
"Es musste sein, Spock, er würde uns immer wieder angreifen." Kirk sprach beruhigend und es sah kurz aus, als wollte er ihm über das Haar streichen, ließ seine Hand dann aber wieder fallen.
Spock nickte nur und ging zu I-Chaya. Er kauerte sich neben ihn und berührte den geschundenen Körper, fühlte die letzte Lebenswärme aus seinem Freund strömen. Bilder ihrer gemeinsamen Zeit stiegen in ihm auf.
Kirk beobachtete den Jungen mitfühlend, hielt aber Abstand. Er wusste offenbar, dass Vulkanier ihrer Trauer allein begegnen wollen.
Nach einer Weile sah Spock auf. Er war Kirk dankbar - für seinen Eingriff in den Kampf und für seine Zurückhaltung danach. Er musterte ihn erneut und registrierte dieses Mal, dass der Mensch in Wirklichkeit keineswegs so unzulänglich war wie auf den ersten Blick. Er sah dreckig und erschöpft aus, aber auch muskulös und durchtrainiert. Über den gebräunten Oberkörper zogen sich tiefe Kratzer, die bluteten. Spock erstarrte und zog scharf die Luft ein. Wo war er nur mit seinen Gedanken gewesen?
"Wir müssen sofort nach Shi'Kahr. Sie sind verletzt und müssen behandelt werden."
Kirk sah an sich herunter und winkte lächelnd ab. "Die paar Kratzer, da habe ich schon schlimmeres erlebt. Mach dir keine Gedanken, Spock. In die Stadt möchte ich jetzt lieber nicht, wer weiß, was.."
Plötzlich stockte der Mensch mitten im Satz. Er verdrehte die Augen, fiel auf die Knie und schließlich auf den Boden, wo er zuckend liegenblieb.
Spock stürzte zu ihm. Würde seine Dummheit noch mehr Leben kosten? Er hätte sofort daran denken müssen, dass die Krallen des Le-matya ein gefährliches Gift übertrugen. Seine Hand schwebte bereits über Kirks Kopf, um eine schnelle Heiltrance einzuleiten, als ihn die fremde Physiologie des Gesichts daran erinnerte, dass er einen Menschen vor sich hatte, der dazu nicht in der Lage war.
Spock fluchte, was nur in sehr selten Fällen geschah. Die ganze Situation begann ihm über den Kopf zu wachsen. Er war Vulkanier und von klein an dazu erzogen, jedem Problem schnell und mit Logik zu begegnen. Aber er war auch noch ein Kind und die emotionalen Eindrücke der letzten halben Stunde verlangten ihren Tribut.
Seine Hände begannen zu zittern und er wusste nicht, wohin mit ihnen. Er sackte in sich zusammen und ein Schluchzen entwich ihm, gefolgt von weiteren. Schließlich suchten sich unaufhaltsam Tränen ihren Weg über sein Gesicht. Er weinte um I-Chaya und um den Fremden, der hier sterbend im Sand lag, weil er ihm beigestanden hatte, anstatt einfach wegzulaufen. Und er weinte aus Hilflosigkeit, einem Zustand, den er mehr als alle anderen fürchtete.
Mit feuchten Augen sah Spock nach einer Weile auf. Er schaffte es nach und nach, die ihn durchströmenden Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Seine Gedanken kreisten nun wieder um eine Lösung, aber es gab keine. Er konnte den Menschen hier nicht allein liegen lassen, er konnte ihn nicht rechtzeitig in die Stadt tragen und er trug keinen Kommunikator bei sich. Bei den Prüfungen des Kah-wan gab es kein Sicherheitsnetz, keine Ausnahmen für Notfälle. Es ging darum, aus eigener Kraft zu überleben, nicht mehr und nicht weniger.
Schließlich entschloss er sich doch, eine Trage zu bauen und den weiterhin bewusstlosen Menschen damit zu transportieren. Die Reise würde mehrere Tage dauern und es war nahezu ausgeschlossen, dass sie beide lebend ankommen könnten, aber eine andere Möglichkeit sah Spock nicht.
Er machte sich auf die Suche nach tragfähigen Ästen. Mit einem Seil und einer Tunika aus festem Stoff fertigte er eine provisorische Trage an. Sie sah nicht sehr stabil aus, aber mehr hatte er nicht zur Verfügung. Vorsichtig hob er Kirk an, der flach atmete und sich unruhig bewegte. Der erwachsene Mann lag schwer in Spocks Armen, aber es gelang ihm mit hohem Krafteinsatz, ihn auf die Trage zu ziehen. Als er die Gliedmaßen des Mannes zurechtlegte, bemerkte er plötzlich, dass sie auffallend durchscheinend waren.
Erst glaubte er an eine optische Täuschung, doch dann wurde es unübersehbar, dass der Körper des Menschen immer mehr an Kontur verlor. Es war, als würde er sich vor seinen Augen auflösen. Der Vorgang erinnerte entfernte an die Entmaterialisierung beim Beamen, doch er lief viel langsamer ab
Kurz darauf war der Mensch endgültig verschwunden und Spock blieb allein zurück.
