Prolog
Alte Gewohnheiten
Es war wie ein Gewitter am Ende eines wundervollen Sommertages. Etwas Schlechtes, um das Gute zu unterstreichen, es wertvoll zu machen. Es ist immer der Schatten, der dich daran erinnert, dass es Licht gibt, denn es gibt kein Licht ohne Schatten. Es gibt kein Gut ohne Böse. Es gibt keine Freude ohne Leid.
Das ist ein Fakt. Es ist rational und plausibel. Doch was wäre, wenn das Gute, die Freude schwindet? Schwindet dann auch das Leid? Ist es überhaupt besser, nichts zu fühlen, als Leid? Was empfindet jemand, der nichts mehr empfindet?
Jemand sollte vielleicht einmal das Opfer eines Dementors fragen, wie es oder sie sich fühlt. Würde man überhaupt noch eine Antwort bekommen? Denn, wenn man nichts mehr fühlt kann man nicht sagen, ob man nichts mehr fühlt. Man fühlt ja nichts mehr.
Keenan öffnete seine grauen Augen, in denen sich manchmal ein Hauch zarter blauer Farbe wiederspiegelte. Er starrte den silbernen Baldachin seines Himmelbetts an, bewegungslos, angespannt. Er lag nicht unter der smaragdgrünen Bettdecke. Das tat er nie. Es war zu warm, zu beengend für ihn. Noch immer regte er sich nicht, seinen Atem hielt er so flach wie es nur möglich war, sodass sich seine Brust nur kaum merklich hob und senkte. Er fixierte seinen Baldachin, doch sein eigentlicher Fixpunkt war eine Frage: Wollte er fühlen?
Innerlich verspottete er sich selbst. Natürlich willst du fühlen, Idiot!, sagte eine höhnische Stimme in seinem Kopf. Doch er konnte nicht von dem Gedanken lassen, wie es sich anfühlen würde, nachdem man einen Kuss des Dementors erhalten hat. War es Neugier? Wahnsinn? Oder war es einfach nur eine dumme Frage eines dummen Fünfzehnjährigen?
Keenans Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. Vermutlich war es genau Letzteres. Und vermutlich sollte er weniger über tiefgründige Themen nachdenken, um dem Stereotyp des intelligenzarmen, hochnäsigen Slytherin zu entsprechen.
Keenan mochte diese ganzen Klischees eigentlich nicht. Er wusste, wer er war und warum er in Slytherin war: Es war seine Abstammung, es war seine Cleverness, es war seine Listigkeit. Und vermutlich lag es auch daran, wie er sich gab – distanziert, kühl, oberflächlich. Doch wer in seinem Alter verhielt sich schon nie so? Keiner gab es zu, doch jeder wusste es, tief im Inneren.
Die Klischees über Gryffindors, Hufflepuffs und Ravenclaws genoss er auf gewisse Weise. Es war wie eine altehrwürdige Feindschaft, die wie die Feindschaft zwischen rivalisierenden Quidditchmannschaften während einer Weltmeisterschaft war – zu alt, um noch richtig ernst genommen zu werden. Natürlich gab es auch Fanatiker und gewisse Personen mit einem Hang, alles theatralisch zu übertreiben. Doch für ihn persönlich – und natürlich konnte er nur für sich persönlich sprechen, da er keine Legilimentik beherrschte – waren die Streitigkeiten zwischen Häusern alberne kleine Streiche von gelangweilten Schülern, die den Drang verspürten, ihrer unterdrückten Wut, die sich während dem Unterricht anstaute, freien Lauf zu lassen. Natürlich zählte er sich selbst zu dieser Gruppe dazu.
Der Fünfzehnjährige seufzte tief und setzte sich auf. Ein kurzes Schwindelgefühl ließ ihn für einen Moment innehalten, bevor er die silbernen Vorhänge beiseiteschob und sich müde aufrichtete. Er blinzelte zweimal, denn das unerwartet helle Licht der Sonne blendete ihn. Dann streckte er sich gähnend und sah sich im Jungenschlafsaal der fünfzehnjährigen Slytherins um. Es waren vier andere Jungen, die er seit der ersten Klasse kannte, jedoch nichts mit ihnen zu tun hatte. Alles in allem hatte Keenan selten den Drang, sich mit irgendjemandem zu unterhalten. Es war nicht so, dass er keine Gesellschaft wollte, nur nicht diese Gesellschaft, deren sämtliche Gespräche sich in einem Satz zusammenfassen ließen.
Vielleicht war es seine Familie, seine Abstammung, die ihn seltsam wirken ließ. Hatte er vielleicht einfach eine verrückte Aura? Er grinste. Die anderen Hogwartsschüler wussten es zwar nicht, doch sein richtiger Name war Keenan Cerritus, nicht Keenan Campbell, wie er sich in der Schule nannte. Das hatte zwei gute Gründe: Zum einen war die Lehrerin für Verteidigung gegen die dunklen Künste seine Mutter, Pandora Cerritus. Das war im Grunde ziemliche Ironie, schließlich war sie vor ihrer Heirat eine Malfoy gewesen.
Seufzend wandte Keenan sich zu einem Himmelbett am Fenster um. Es war das Bett von Lucius Malfoy, der, ohne es selbst zu wissen, sein Cousin war. Das war vermutlich auch besser so, denn – und das wäre der zweite Grund für seinen „Decknamen" – die Familie Cerritus war eine sehr alte Familie, die bekannt für ihre Muggelfreundlichkeit war und darüber hinaus als mental unzurechnungsfähig bezeichnet wurde. Das war natürlich vollkommener Schwachsinn, doch der Anlass hierfür war eindeutig, dass viele Familienmitglieder Squibs waren oder Zauberer, die Muggelberufe ausübten. Und natürlich die Zugehörigkeit zum Hause Hufflepuff.
Es war also im Grunde reiner Selbstschutz für Keenan, nicht zu erwähnen, dass sein Name Cerritus war. Er wäre im Handumdrehen unbeliebter geworden als Severus Snape zu seiner schlimmsten Zeit. Lächelnd wandte sich Keenan zu einem Bett tief in der hintersten Ecke des Schlafsaales. Genau genommen war Snapes schlimmste Zeit jetzt. Von allen verspottet und physisch und psychisch gequält, was hauptsächlich den „Rumtreibern" zu verdanken war, einer Gruppe vierer Gryffindors, deren zwei leuchtende Anführer, James Potter und Sirius Black, es sich zum Lebensziel gemacht hatten, jede Schulregel zwanzig Mal zu brechen und – natürlich – ihrem Lieblingsopfer das Leben zur Hölle zu machen. Es kam nicht selten vor, dass Keenan so etwas wie Mitleid empfand. Auch wenn das natürlich seiner tückischen, hinterlistigen Natur aufs Ärgste widersprach.
Die Sache war nur leider immer dieselbe bei solchen Angelegenheiten: Würde jemand Snape helfen, würde man sich selbst in die Schusslinie stellen. Und Keenan, auch wenn er ein Cerritus war, war nicht umsonst kein hilfsbereiter Hufflepuff geworden, sondern ein Slytherin, der nur mutig war, wenn es um sich selbst ging. Keenan fand diese Einstellung nicht verwerflich, es war Selbstschutz und das war nun einmal menschlich. Die Sache war außerdem die: Wie sollte er gegen vier Schüler antreten, zwei davon talentiertere Zauberer als legal war und er als Durchschnittsschüler, der aufpassen musste, nicht als Blutsverräter geoutet zu werden?
Keenan schnaubte verächtlich. Es war doch sowieso gegen die Logik! Warum waren es die mutigen, selbstlosen Gryffindors, die andere quälten und er der selbstgerechte, egoistische Slytherin, der sich darum scherte? Wo blieben die Stereotype der Zauberschule?
Vielleicht die Gryffindor Lily Evans, eine Muggelgeborene, die als einzige den Mut besaß, sich gegen die Rumtreiber aufzulehnen und dafür viel bewundert wurde. Oder als Zicke bezeichnet wurde. Allerdings war es leicht, sich gegen die Rumtreiber zu stellen, wenn man sich sicher sein konnte, nie etwas abzukriegen. Denn es war mehr als offensichtlich, dass James Potter ihr nachstellte, seit der erste Mensch aus dem Urschleim gekrochen ist. Oder genauer genommen, seit dem dritten Schuljahr. Und Sirius Black, sein bester Freund, würde niemals etwas tun, was Potter verletzen könnte – zum Beispiel seine Herzensdame angreifen. Sirius Black war generell eine merkwürdige Figur. Er war wie das genaue Gegenteil von Keenan, sogar im Aussehen. Black hatte schwarze Haare, gebräunte Haut und immer ein breites Grinsen auf dem Gesicht. Er kam aus einer der schwarzmagischsten Familien und war ein Gryffindor geworden. Keenan hingegen, mit seiner alabasterfarbenen Haut und seinen silberblonden Haaren, die auf einem breiten Streifen in der Mitte seines Kopfes länger waren als an den Seiten, machte seinen malfoy'schen Wurzeln alle Ehren. Bis auf die Tatsache, dass er rote und blaue Strähnen in seine Haare eingearbeitet hatte. Außerdem war er in einer der hufflepuff'schsten Familien geboren, trotzdem ein Slytherin.
Eine verschlafene Stimme hinter ihm holte ihn aus seinen Gedanken. „Was machst du denn schon so früh? Ich dachte, du wartest immer mit dem Aufstehen, bis wir fertig sind?" Es war Rabastan Lestrange, ein schlanker, gut aussehender Junge mit blonden Locken und verblüffend dunklen Augen.
Keenan zuckte nur mit den Schultern. „Vielleicht ist es an der Zeit, alte Gewohnheiten zu brechen"
