Der neue Auftrag

Ein Jahr war es jetzt genau her, seit sich diese schrecklichen Vorfälle ereignet hatten. Gabriel hatte Annas Tod immer noch nicht verwunden: ihm war, als ob sie erst gestern gestorben wäre. Zusammen mit Carl war er nach Annas Bestattung wieder nach Rom zurückgekehrt. Seitdem saß er die meiste Zeit in seinem Zimmer im Vatikan und trauerte um Anna.

Seufzend blickte Gabriel zum Fenster hinaus: erneut war es Frühling geworden und die Blütenpracht der Bäume in den vatikanischen Gärten war schier einzigartig. Doch der Vampirjäger hatte kein Auge dafür: in seinem Herzen herrschte Verbitterung und winterliche Kälte.

Plötzlich klopfte es an seine Tür. Gabriel murmelte ein „herein". Es war Carl, der hereinkam. „Wie geht es Ihnen, Van Helsing?", fragte der Mönch fürsorglich. Gabriel lächelte schwach. „Du weißt doch, wie es mit geht: besch...eiden". Carl sah Gabriel mitfühlend an und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Sie sollten sich nicht länger mit Selbstvorwürfen quälen, Gabriel. Sie konnten nichts für Annas Tod".

„Und ob ich etwas dafür kann!", schrie Gabriel fast und schlug mit der Faust auf dem Tisch. „Ich wünschte, ich wäre damals gestorben und nicht sie". „Gabriel, Sie waren ein Werwolf – Sie wussten nicht, was Sie taten", erklärte Carl vorsichtig. Gabriel fuhr mit den Händen durch seine langen, wirren Locken. „Aber sie ist nun mal tot, und nochmals tot", sagte er den Tränen nahe. „Ich habe sie geliebt, Carl – geliebt, wie noch nie einen Menschen zuvor". Der Mönch nahm seine Hand wieder von Gabriels Schulter und beschloß, ihn wieder alleine zu lassen.

In diesem Moment rauschte Kardinal Bonelli zur offenen Tür herein. Er war der neue Vorsteher des „Ordens der heiligen Ritter". „Gut, dass ich euch zwei hier antreffe", meinte er ernst. „Wie?", fragte Carl erschrocken. „Meinen Sie auch mich?" „Ja, auch dich, Bruder Carl", knurrte Bonelli etwas genervt. Gabriel hob müde den Kopf und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Van Helsing, Sie müssen sofort los nach Transsilvanien", sagte der Kardinal in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

„So, muß ich?", fragte Gabriel mit schwacher Stimme. „Ich weiß, was Sie im letzten Jahr dort alles erlebt haben und mir tut es aufrichtig leid um die Prinzessin, aber nun ruft die Pflicht wieder", fuhr Bonelli erhaben fort. „Was gibt es denn dort wieder so wichtiges?", wollte Carl neugierig wissen. „Die Unholde sind doch alle ausgelöscht: was soll Van Helsing denn dort?"

Bonelli stemmte die Fäuste in die Hüften und starrte den Mönch wütend an. „Carl, manchmal frage ich mich wirklich, ob du so dumm bist, oder nur so tust. Du wirst natürlich Van Helsing begleiten: ich spreche die ganze Zeit von euch Beiden. Capito?" Carl schluckte und wurde blaß, als er das hörte. „Oh nein, nicht schon wieder Transsilvanien", murmelte er leise. „Carl hat recht", meinte Gabriel mürisch. „Was sollen wir denn noch dort. Dracula und seine Brut sind tot. Ich habe keine große Lust, dort hinzureiten, weil irgendein Bauer sich vor einer Fledermaus erschreckt hat". „Sie haben keine Ahnung!", donnerte Bonelli außer sich. „Vielleicht lasst ihr beiden mich jetzt gefälligst ausreden. Es geht hier nicht um Fledermäuse, sondern um Draculas Tochter Asa. Sie versetzt die ganze Gegend dort in Angst und Schrecken. Ich will, dass ihr dort hinreitet und ihr den Garaus bereitet – und das so schnell wie möglich".

Draculas Tochter! Gabriels Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Sein Jagdinstinkt erwachte allmählich wieder. Dracula hatte Annas gesamte Familie ausgelöscht und ihn, Gabriel, dabei als Werkzeug missbraucht. Deswegen durfte Draculas Tochter auf keinen Fall am Leben bleiben.

Gabriel erhob sich unternehmungslustig. „Komm, Carl, pack unsere Sachen!" Carl sah mit angstgeweiteten Augen Gabriel und den Kardinal an.

Gabriel sah mit verschränkten Armen zu, wie Carl schnaufend eine schwere Reisetasche zu den beiden gesattelten Pferden schleppte. „Was hast du da alles drin?", fragte er den Mönch barsch. „Natürlich Waffen gegen Vampire und dergleichen", ächzte Carl und kletterte mitsamt der Tasche auf das Pferd. Gabriel schüttelte den Kopf und dabei huschte ihm zum ersten Mal seit langem ein leichtes Lächeln über das Gesicht.

Einige Tage später:

Mit dem Schiff hatten sie die Hafenstadt Varna am Schwarzen Meer erreicht. Jetzt ging es zu Pferd weiter in die Karpaten. Gabriel zerriß es fast das Herz, als er das kleine transsilvanische Dorf mit dem düsteren Schloß Frankenstein im Hintergrund erblickte. Die Erinnerungen an Anna stiegen wieder in ihm hoch und er fühlte sich zurückversetzt in die Zeit vor einem Jahr. Damals hatte noch strenger Winter in den Karpaten geherrscht, aber jetzt lag längst kein Schnee mehr. Auch hier war der Frühling eingezogen, so dass das Dörfchen fast idyllisch mit all den blühenden Bäumen ringsum wirkte. Doch das Bild täuschte. Einzeln und bang wagten sich die Einwohner aus den Häusern hervor, als Gabriel und Carl den Dorfplatz erreichten.

Gabriel stieg vom Pferd und stellte sich am Rand des Dorfbrunnens hin. Forschend musterte er die ängstlichen Dorfbewohner, die sich allmählich auf dem Platz zusammenrotteten.

„So, ihr habt mich also wieder gerufen – was ist genau passiert?", fragte Gabriel laut in die Menge.

Ein älterer Mann mit hängenden Schnurrbart und strähnigen Haar drängte sich durch die Menge bis zu Gabriel vor.