Typisch untypische Weihnachten
Wahnsinnige Weihnachten
Es war ein Chaos.
Die Papierblätter stapelten sich sprichwörtlich bis zur Decke, unzählige Manuskripte lagen im gesamten Raum verstreut, Kugelschreiber und andere Schreibutensilien lagen am Boden verteilt. Im gesamten Arbeitszimmer sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Das offene Fenster und die offene Tür sorgten für Durchzug, die losen Blätter flogen wild umher. Als die Tür geschlossen wurde, segelten die Blätter in Richtung Boden. Eine Minute später war es still, kein Rascheln war mehr zu hören.
Unter allem Papier begraben war Yusaku Kudo. Er sass an seinem Schreibtisch, hatte den Oberkörper nach vorne gebeugt und den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt. Er schlief tief und fest.
Den Durchzug samt dazugehörigem Chaos hatte er nicht bemerkt, ebenso wenig wie die Person, die vor kurzem den Raum betreten und dafür gesorgt hatte, dass der Inhalt zur Ruhe kam.
Kopfschüttelnd und mit einem Seufzen musterte Yukiko Kudo den Anblick, der sich ihr bot. Dass man in einer solchen Umgebung überhaupt arbeiten oder gar schlafen konnte... Unfassbar.
"Yusaku, aufwachen!"
Nichts geschah. "Yusaku!" Wieder nichts. Yukiko fuhr härtere Geschütze auf. "Hilfe! So hilft mir doch jemand!"
Wie von der Tarantel gestochen sprang Yusaku auf und sah sich hastig im ganzen Raum um, ehe sein Blick an seiner Frau hängen blieb.
"Hast du um Hilfe gerufen?"
"Anders kriegt man dich ja nicht mehr wach", antwortete sie.
"Gibt es etwa einen Notfall?"
Yukiko sah ihn nur an und fand es überhaupt nicht lustig. Eigentlich wollte sie noch hinaus und einen Spaziergang machen. Sie wollte den Winter und die amerikanische Weihnachtszeit geniessen, bevor sie sich auf den Weg nach Tokyo zu ihrem Sohn machten.
"Du weisst genau, dass wir morgen losfliegen werden. Oder hast du vergessen, dass wir Weihnachten mit unserem Sohn feiern?"
"Nein, natürlich nicht", murmelte Yusaku und rückte seine Brille zurecht. "Aber du musst verstehen, dass ich meine Abgabetermine habe, und wenn ich die verpasse..."
Er sprach nicht weiter, um den Satz bedrohlicher klingen zu lassen, als er es in Wirklichkeit war.
Yukiko brauste auf.
"Ach komm schon. Wer will denn schon um diese schöne, weihnachtliche Zeit über einen Mord lesen?"
"Es ist eine Mordserie, nicht nur ein einfacher Mord", sagte Yusaku knirschend und griff nach einem Kugelschreiber. "Das ist ein grosser Unterschied."
"Mord ist Mord, und damit basta. Jetzt beeil dich, ich will noch einen Spaziergang machen, bevor die Sonne untergeht."
"Na dann geh doch."
"Du kommst mit!"
"Ich kann nicht."
"Doch, du kannst!"
Yusaku hob die Schultern und sah seine Frau verlegen und fast schon hilflos an.
"Du machst mich wahnsinnig! Jetzt reicht's mir!", rief Yukiko, packte ihn an der lose sitzenden Krawatte und zerrte ihn dann wie einen Hund an der Leine hinter sich her.
Zehn Minuten später schlenderte das Ehepaar durch den nahe gelegenen Park. Yusaku wollte es zwar nicht zugeben, doch die frische Luft tat ihm gut, und jetzt war er froh, dass Yukiko ihn mit hinaus geschleift hatte. Vielleicht wäre er früher oder später womöglich noch in seinem Arbeitszimmer erstickt...
Glücklich und gut gelaunt hakte sich Yukiko bei ihm ein und genoss die Zweisamkeit.
Über das momentane harmonische Verhältnis freute sich Yusaku sehr, doch er wusste nicht, dass es demnächst damit vorbei sein würde.
Noch merkte er nichts davon, doch nur einen Tag später, als er zusammen mit seiner Frau im Flugzeug Richtung Japan sass, kehrte die Anspannung und die Gereiztheit wieder zurück.
"Na toll", grummelte Yukiko missgelaunt und starrte aus dem Flugzeugfenster. "Erst mussten wir einen späteren Flug nehmen, dann hatten wir noch Verspätung beim Abfliegen, und jetzt erhalten wir keine Landeerlaubnis. Was kommt jetzt noch?"
"Vielleicht erkennen sie in dir eine Bombenlegerin und verhaften dich, wenn wir endlich landen können", sagte Yusaku knurrend und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Erzähl keinen Quatsch. Als ob ich es nötig hätte, eine Bombe mit mir rumzuschleppen."
"Mit deiner finsteren Miene machst du aber jedem griesgrämigen Terrorist Konkurrenz."
"Jetzt hör endlich auf damit! Ich will einfach nur in Ruhe Weihnachten mit meinem Sohn verbringen, ist das etwa ein Verbrechen?"
"Mit deinem Sohn?", fragte Yusaku verärgert. "Und was ist mit mir? Ist Shinichi etwa nicht auch mein Sohn?"
"Kommt darauf an", knurrte Yukiko und verschränkte ebenfalls die Arme. "Vielleicht habe ich dich ja damals betrogen und Shinichi ist gar nicht von dir."
"Das glaubst du ja selber nicht. Oder warum wohl sieht er aus wie ich?"
"Ja, was für ein Pech", sagte Yukiko und seufzte demonstrativ.
"Pech? Du nennst es Pech, wenn ein Vater sein Aussehen dem Sohn weitergibt?", fragte Yusaku fassungslos.
Yukiko blieb ihm die Antwort schuldig.
Nach zwei Stunden, in denen sie gelandet waren, auf ihre Gepäckstücke warten mussten und dann endlich ein Taxi erwischt hatten, betraten sie erleichtert, aber erschöpft ihr altes Zuhause.
Shinichi, der natürlich gewusst hatte, dass seine Eltern zurückkommen würden, hatte auf der Treppe sitzend auf sie gewartet. Kaum hatte Yukiko sich von ihren Taschen befreit, eilte sie schon auf ihren Sohn zu.
"Shinichi! Mein lieber, kleiner... Wie geht's dir?"
Freudig schloss die ehemalige Schauspielerin ihren Sohn in die Arme, doch Shinichi zuckte nur mit den Schultern.
"Nicht gut."
Er befreite sich aus der Umarmung und wandte sich ab.
"Was ist los?"
Shinichi antwortete nicht, er sah nur betrübt zu Boden. Yukiko packte ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich um.
"Was ist los?", wiederholte sie. Shinichi seufzte.
"Ran ist krank, und Kogoro hat mir verboten, sie zu besuchen. Dabei wollten wir heute zum Eislaufen, bevor ihr kommt."
Shinichi liess die Schultern hängen. Zu wissen, dass seine Freundin krank war, und dass er sie nicht mal sehen durfte, war die reinste Folter für ihn. Yukiko sah ihn an.
"Das tut mir leid."
Shinichi seufzte erneut.
"Vielleicht kannst du ja bei Kogoro ein gutes Wort für mich einlegen, damit sie wenigstens für eine Stunde oder so raus kann. Oder dass sie heute Abend mit uns feiern kann und nicht alleine ist."
Yusaku hob eine Augenbraue.
"Ist er heute Abend denn nicht zu Hause?", fragte er verwundert.
"Bevor Ran krank wurde, hat sie mir gesagt, dass ihr Vater und Eri gemeinsam Weihnachten feiern wollen, um ihre Differenzen endgültig zu überwinden."
"Und mit gemeinsam meinst du-"
"Ohne ihre Tochter, ja", beendete Shinichi Yusakus Satz. "Eri hatte eigentlich angeordnet, dass Ran mit mir feiern kann. Aber jetzt ist sie krank, und Kogoro führt sich wie ein Verrückter auf. Er lässt sie nicht mehr aus den Augen und hält sie schon fast gefangen."
"Und was sagt Eri dazu?", fragte Yukiko. Shinichi zuckte nur mit den Schultern, schloss betrübt die Augen und seufzte.
"Das kann er doch nicht machen!", rief Yusaku entrüstet aus. "Er kann doch Ran nicht alleine lassen, wenn sie krank ist. Noch dazu an Weihnachten. Das ist unverantwortlich."
Shinichi wandte sich seinem Vater zu.
"Sag nicht mir das, sag das Kogoro."
"Und das werde ich auch tun."
Der Schriftsteller ging auf die Haustür zu und riss sie auf.
"Yusaku, wo-?", fragte Yukiko erstaunt, wurde aber gleich von ihrem Mann unterbrochen.
"Ich gehe zu Kogoro und hole Ran hierher. Wenn Eri und er alleine Weihnachten feiern wollen, um ihre Differenzen zu beseitigen, gut, dann sollen sie das. Aber Ran bleibt heute nicht alleine. Ich hole sie zu uns."
Mit diesen Worten knallte Yusaku die Tür zu und verschwand. Seinen Ausruf "Der macht mich noch wahnsinnig!", hörten Yukiko und Shinichi aber trotzdem noch.
Yukiko seufzte und vergrub ihr Gesicht in den Händen.
"Es werden wohl wieder mal typisch untypische Weihnachten. Genau wie jedes Jahr."
Shinichi seufzte ebenfalls, doch er machte sich mehr Sorgen um Ran als um das Weihnachtsfest. Ein Mensch war schliesslich wichtiger als eine alte Tradition.
Bis sein Vater zurückkam konnte er nur noch warten.
Eine halbe Stunde später kehrte Yusaku zurück, zusammen mit Ran und Eri im Schlepptau. Shinichi, der seiner Mutter geholfen hatte, das Mittagessen zu kochen, eilte sofort zu seiner Freundin. Yukiko war dicht hinter ihm.
"Mein Gott, Ran, du armes Ding", sagte sie. "Komm, ich mach dir einen heissen Tee."
Während Yukiko die Oberschülerin ins Wohnzimmer führte, wechselten Yusaku und Eri ein paar leise Worte, ehe sich Rans Mutter dem jungen Detektiv zuwandte, den Yusaku zurückgehalten hatte.
"Bitte pass gut auf mein kleines Mädchen auf, Shinichi. Versprichst du mir das?"
"Natürlich."
Eri musterte ihn noch einen Moment lang, dann lächelte sie.
"Danke."
"Ihr würdet Ran sehr glücklich machen, wenn du und Kogoro wieder zusammenfindet", sagte Shinichi und sah sie ernst an.
"Wir werden sehen", meinte die Anwältin. "Aber ich behalte es im Hinterkopf."
Nachdem sie sich von ihrer Tochter verabschiedet hatte, wünschte sie der Familie Kudo trotz aller Umstände fröhliche Weihnachen. Dann ging sie.
Shinichi seufzte erleichtert auf.
Das Verhältnis zwischen ihm und Eri hatte sich in letzter Zeit enorm verbessert, worüber er sehr froh war. Die Anwältin hatte nun nichts mehr gegen ihre Beziehung, da sie eingesehen hatte, dass Ran nur mit Shinichi glücklich werden würde. Kogoro hingegen war sehr zu Rans Bedauern immer noch derselbe geblieben.
Als der junge Detektiv eine Minute später endlich auch ins Wohnzimmer trat, eilte er sofort an Rans Seite. Yukiko, die sie auf das Sofa gebettet und mit einer warmen Decke zugedeckt hatte, machte ihm Platz.
"Sie hat ihren Tee nicht angerührt."
Während sie gedankenverloren Rans Tee umrührte, liess Shinichi seinen Blick über das Gesicht seiner Freundin gleiten.
Ran sah schrecklich aus. Sie war kreidebleich, schwitzte und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Im Moment schlief sie zwar, doch Shinichi war sicher, dass ihre Augen vor Fieber glänzen würden. Sich vergewissern wollte er sich jedoch nicht. Wenn eine Kranke schlief, sollte man sie auch schlafen lassen.
"Ich bin froh, dass sie hier ist", murmelte er stattdessen. "Und ich hoffe, dass es ihr bald wieder besser geht."
Yukiko setzte sich neben ihn.
"Das wünsche ich mir auch. Aber jetzt ist Mittag, vielleicht geht es ihr heute Abend wirklich wieder besser."
"Hoffen wir es."
Yusaku, der nun auch ins Wohnzimmer gekommen war, nickte.
"Dass immer um die Weihnachtszeit so etwas passieren muss", seufzte er und schüttelte den Kopf. "Genau wie letztes Jahr. Und vorletztes Jahr auch. Der reinste Wahnsinn."
Shinichi, Yusaku und Yukiko sahen sich stumm an. Das Weihnachtsfest in diesem Jahr war ganz und gar typisch untypisch. Erst die Streitereien zwischen der ehemaligen Schauspielerin und dem Schriftsteller in Los Angeles, dann die ganze vertrackte Flugreise, die Sache zwischen Kogoro und seiner Tochter, und schliesslich auch noch Rans Erkrankung. Es ging so ziemlich alles schief, was schief gehen konnte. Das war Murphys Gesetz. Es war schon ironisch... und wahnsinnig.
Shinichi seufzte und hoffte, dass Ran bald wieder auf die Beine kam. Und trotz dieser Hoffnung wusste er nur eines: Ein gemütliches Weihnachtsfest inklusive Vorweihnachtstage sahen eindeutig anders aus.
Owari
