Prologue
„Verfluchte Schei-!"
Wütend schlug Dean auf den Ast ein, der ihm den Weg versperrt hatte, bis dieser abbrach und zu Boden rauschte.
Mit einem ungehaltenen Stirnrunzeln drehte sich Sam zu ihm um. „Was ist denn jetzt schon wieder?"
Dean schlug und trat weiter um sich, als sich noch zusätzlich sein linkes Hosenbein in einem Dornenbusch verfing.
Der Jüngere verdrehte seufzend die Augen und beschloss, einzugreifen, bevor sein Bruder in seiner Frustration noch den halben Wald verwüstete. „Hey, so wird das nichts. Du machst es nur noch schlimmer." Mit ein paar geübten Handgriffen befreite er Dean von den dornenbewehrten Ästen und warf ihm dann einen triumphierenden Blick zu. „Siehst du? So wird man sie viel schneller los, ohne sich dabei die Hose zu zerreißen."
Sein Bruder warf ihm einen genervten Blick zu. „Wieso wirst du eigentlich nicht von irgendwelchen Ästen, Blättern oder Sträuchern angefallen? Du bist doch viel größer als ich."
Wütend stapfte er davon und Sam schüttelte fassungslos den Kopf.
Dean war manchmal wirklich wie ein kleines Kind, dachte er bei sich, bevor er dem Älteren folgte. „Bitte. Hab ich doch gern gemacht.", rief er ihm leicht eingeschnappt hinterher.
„Hey, Sam."
Dean blieb stehen und ließ zu, dass der Jüngere ihn einholte. „Es gibt da so ein Wort, das mir einfach nicht einfallen will. Wie nennt man jemanden, der auf alles eine Antwort hat und glaubt, immer Recht zu haben?"
Sam ahnte schon, auf was diese Frage hinauslaufen sollte, und warf seinem Bruder einen genervten Blick zu. Dennoch konnte er sich eine Antwort nicht verkneifen. „Einen Besserwisser."
Der Ältere grinste breit. „Genau diesen Ausdruck meinte ich." Er wurde schnell wieder ernst und sah Sam genervt an. „Genauso jemand bist du. Ein Besserwisser."
Dieser seufzte frustriert auf. „Was ist jetzt schon wieder mit dir los?"
„Gar nichts.", winkte Dean großspurig ab. „Ich habe nur das Gefühl, dieser Wald hasst mich." Wie um seine Theorie zu bestätigen, verfing sich sein linker Fuß in einer hervorstehenden Wurzel und er strauchelte. „Siehst du? Diese Bäume und Sträucher haben eindeutig was gegen mich. Sie haben's auf mich abgesehen."
Sam lachte amüsiert auf. „Ja, klar. Das ist ein böser, dämonischer Wald, der sich zum Ziel gesetzt hat, dich in den Wahnsinn zu treiben."
Sein Bruder grummelte, wütend darüber, dass der Jüngere ihn nicht ernst nahm. „Warum nicht? Hier ist schließlich dieser Junge verschwunden. Wahrscheinlich leben an diesem Ort irgendwelche weiblichen Waldgeister, die nur darauf warten, dass ein attraktiver junger Mann herkommt, den sie sich schnappen und unter die Erde ziehen können."
Diese Vorlage konnte Sam einfach nicht unbeantwortet lassen. „Und was genau wollen die dann von dir?"
Dean warf ihm einen zornigen Blick zu und stürmte wild um sich schlagend davon.
Augenblicklich tat es seinem Bruder leid, was er gesagt hatte. Seufzend sah er dem Älteren hinterher. Vielleicht hatte Dean ja wirklich Recht und dieser Wald war böse. Schließlich musste es irgendeine Erklärung für das Verschwinden des Jungen geben, das sie hier untersuchen wollten.
Wie sooft in letzter Zeit waren sie nur aus dem Grund hierher, in den kleinen Ort Greyview im Bundesstaat Ohio, gefahren, um einen „Job" zu erledigen. Diesmal ging es um einen zehnjährigen Jungen namens Brian Foster, der vor etwa einer Woche in diesem Wald auf mysteriöse Art und Weise verschwunden war. Seine Eltern waren mit ihm zusammen wandern gegangen, um auf einer Lichtung mitten im Wald zu picknicken. Seine Mutter hatte ausgesagt, dass ihr Sohn ein paar Meter vorausgelaufen war und sie ihn immer im Blick gehabt hatte. Dann, von einer Sekunde auf die andere, war er verschwunden. Und das an einer leicht überschaubaren Stelle.
Der Autor des Artikels, der die beiden Brüder erst auf die Spur dieses Falls gebracht hatte, schien zu glauben, die Eltern hätten nicht wirklich aufgepasst und ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt. Doch Sam sah das anders.
Er hatte von dem Jungen geträumt, dessen Angst gespürt und seine Hilferufe mitanhören müssen. Brian steckte in irgendeinem alten Haus fest und versuchte verzweifelt, dort wieder herauszugelangen. Und Sam wusste instinktiv, dass in diesem mysteriösen Gebäude etwas lauerte, etwas unsichtbares, aber unglaublich gefährliches.
Sie mussten dieses Haus finden, bevor dieses Ding dem Jungen etwas antun konnte.
Die Zeitungsberichte aus über fünfzig Jahren über in diesem Wald verschwundene Personen, die Dean im Tagebuch ihres Vaters gefunden hatte, hatten Sams Befürchtung nur bestätigt.
Eilig lief er seinem älteren Bruder hinterher, um nicht den Anschluss zu verlieren.
„Hey, wieso haben wir nicht den Wagen genommen? Dann müssten wir jetzt nicht laufen und der Wald hätte keine Möglichkeit, dir auf die Nerven zu gehen."
Dean blieb stehen und drehte sich mit fassungslosem Gesichtsausdruck zu ihm um. „Bist du verrückt? Hier gibt es kaum befahrbare Wege. Und wenn wir zu der Stelle wollen, an welcher der Junge verschwunden ist, dann hätten wir durchs Gestrüpp fahren müssen. Weißt du, was das für Kratzer im Lack verursacht?"
Obwohl die Sorgen um den Jungen immer noch in Sams Kopf herumspukten, musste er über diese entrüstete Beschwerde widerwillig lächeln. „Ich fasse es nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, dieser Wagen ist für dich irgendein Mensch. Sogar mehr als das. Du führst dich auf, als wäre dieses Auto deine Freundin."
Der Ältere runzelte mit einer Mischung aus Verärgerung und Verlegenheit die Stirn. „Das ist es auch in gewissem Sinn. Ich hänge an ihm und es hat mich bisher noch nie im Stich gelassen." ,Im Gegensatz zu bestimmten Menschen in meinem Leben', fügte er in Gedanken hinzu, sprach es aber nicht laut aus. Manche Dinge behielt er lieber für sich. Es reichte schon, dass er sie preisgab, wenn er in Rage war.
Sein Bruder hob skeptisch die Augenbrauen, was Dean noch verlegener machte. „Hey, mit dem Impala kommen wir schließlich überall hin. Wir könnten unseren Job nicht richtig erledigen, wenn wir ihn nicht hätten. Ich hoffe bloß, dass er uns nicht geklaut wird, während wir hier Pfadfinder spielen."
Sam grinste in sich hinein, als der Ältere seinem Blick auswich und sich verschämt räusperte. Da hatte er wohl einen wunden Punkt erwischt. „Und wenn diese weiblichen Waldgeister jetzt mit den Autodieben gemeinsame Sache machen? Dann ärgern dich diese Wesen vielleicht nur, damit die Diebe in Ruhe deinen Wagen klauen können."
Eigentlich hatte er erwartet, dass Dean ihn böse anfunkelte und ihn mit einem „Sehr witzig!" zurechtwies, aber sein Bruder überraschte ihn mal wieder. „Meinst du echt, dass das möglich wäre?"
Sams Grinsen wurde breiter und der Ältere knurrte genervt auf, bevor er sich umdrehte und weiterlief. „Das war nicht witzig. Ganz und gar nicht witzig. Du bist ein dämlicher Arsch."
Der Jüngere schüttelte seufzend den Kopf, während er hinter seinem Bruder herrannte. Wie konnte man sich wegen eines Wagens nur so aufregen? „Was denn? Dieses Auto ist nur ein Gebrauchsgegenstand, kein lebendiges Wesen."
„Schlampe.", platzte es aus Dean heraus, was Sam natürlich nicht auf sich sitzen lassen konnte.
Er hasste es, wenn der Ältere ihn so nannte. „Idiot."
Sofort drehte sich sein Bruder zu ihm um. „Besserwisser."
Für einen kurzen Moment starrten sich beide Winchesters gegenseitig wütend in die Augen. Nach etwa einer Minute kam sich Sam ziemlich dämlich vor und unterbrach mit ernster Miene den Blickkontakt. „Wir sollten lieber den Jungen suchen, bevor er noch stirbt. Falls er nicht schon längst tot ist."
Dean nickte zustimmend, aber mit deutlichem Unmut darüber, dass die Auseinadersetzung vorbei war, bevor sie richtig angefangen hatte. „Gut. Es sind nur noch etwa zweihundert Meter geradeaus."
Sein Bruder nickte ebenfalls wortlos und beschloss, voranzugehen. Nach wenigen Schritten hörte er, wie Dean ihn ein Weichei nannte, doch er beherrschte sich. Aber im Stillen wurmte es ihn, dass der Ältere immer das letzte Wort haben musste.
Wenig später erreichten sie die Stelle, an der Brian Foster verschwunden war.
Dean sah sich irritiert zwischen den weit auseinander stehenden Bäumen um. Der Wald lag friedlich vor ihnen. Moos bedeckte teilweise den Boden, kein dorniges Gestrüpp weit und breit und die Vögel sangen über ihren Köpfen.
Fast wie in diesem Bambi-Trickfilm von Disney, ging es ihm durch den Kopf, während er den wichtigsten Teil seiner Ausrüstung hervorholte.
Doch sein EMF Messer zeigte keinerlei übersinnliche Aktivitäten an.
„Hast du nicht gesagt, hier gäbe es ein Haus in der Nähe, in dem der Junge gefangengehalten wird?", erkundigte er sich bei seinem Bruder, der ein paar Meter vor ihm stand und sich genauso verwirrt umblickte.
„Ja, es muss hier irgendwo sein. Aber ich kann nichts entdecken."
Dean runzelte mit einem frustrierten Seufzen die Stirn und seine Schultern sackten nach unten. „Wie sah das Haus denn genau aus? War es vielleicht ein Hexenhäuschen?"
Sam warf seinem Bruder einen genervten Blick zu. Der Ältere schien ihn mal wieder nicht ernst zu nehmen. „Was? Du meinst aus Lebkuchen, Zuckerstangen und anderen Süßigkeiten?"
Dean strafte ihn mit seinem berühmten vorwurfsvollen Gesichtsausdruck, als wolle er am liebsten sagen: „Ich bitte dich. Was bist du? Ein prüder Anfänger, oder was?"
Als der Jüngere nur unwissend mit den Schultern zuckte, verdrehte sein Bruder leicht genervt die Augen. „Eine alte Hütte? Die so aussieht, als würde sie den nächsten Sturm nicht überleben?"
Sam schüttelte verneinend den Kopf. „Das war ein richtiges Haus. Größer als eine Hütte, mit mehreren Zimmern, aber nur einem Stockwerk, den Dachboden nicht mit eingerechnet. Ein altes Haus, vielleicht viktorianischer Stil, doch sicher nicht baufällig."
Dean ließ seinen Blick erneut schweifen. „Okay, dann suchen wir das gute Stück mal. So schwer kann es ja wohl nicht zu finden sein, wenn es so groß ist, wie du sagst. Es kann sich ja wohl kaum hinter dem Baum da verstecken."
Entschlossen lief er an seinem Bruder vorbei und spürte plötzlich ein seltsames Ziehen in der Magengegend. Die Umgebung verschwamm für kurze Zeit vor seinen Augen und er schüttelte den Kopf, um dieses Schwindelgefühl wieder loszuwerden. Wenige Sekunden später war es vorüber. Dafür schlug der EMF Messer in seiner linken Hand urplötzlich sehr heftig aus.
„Wow.", entfuhr es ihm, während er sich zu Sam umdrehte, der noch immer hinter ihm stand. „Hast du das auch gespürt?"
Als dieser nichts sagte, wandte Dean den Blick von den rot flackernden Lampen ab und sah, dass der Jüngere tief atmend den Kopf gesenkt hatte. Augenblicklich kroch die Sorge um Sam in ihm hoch und er trat beunruhigt näher. „Ist alles in Ordnung?"
Blitzschnell hob sein Bruder den Kopf. Irgendetwas war mit ihm geschehen. Von dem Jüngeren ging auf einmal ein dunkles Glühen aus und seine Augen hatten einen fast schwarzen Glanz angenommen.
Dean wich unwillkürlich etwas zurück. „Sam? Was ist los mit dir?"
Dieser ließ ein leises Knurren hören. „Wenn du wagst, näher zu kommen, bring ich dich um!"
Zur gleichen Zeit fühlte Sam plötzlich eine dunkle Energie aufziehen. Irgendetwas war hier an diesem Ort, doch er konnte das Haus einfach nicht ausmachen, obwohl er wusste, dass es ganz in der Nähe sein musste.
Sein Bruder lief an ihm vorbei, während der Jüngere ein paar Schritte nach rechts ging, um hinter einen der größeren Bäume zu blicken.
Als er sich wieder zu Dean umdrehte, war dieser spurlos verschwunden.
„Dean? Deeean? Wo steckst du? Hör mal, das ist nicht witzig, okay? Hier sind schon viele Leute verschwunden und es ist total uncool, mit so was seine Scherze zu machen. Deean! Komm sofort wieder zurück. Deean!"
Sam drehte sich in alle Richtungen, blickte sogar nach oben in die Kronen der Bäume, doch sein Bruder blieb verschwunden. Wie von Erdboden verschluckt.
