Jormags Einfluss


Da stand er und sah dem Altdrachen direkt in die riesigen, stechenden Augen.
Der Drache, der sein Volk vor fast zweihundert Jahren seiner Heimat beraubt hatte.
Der Drache, der seit diesem Tage abertausende Norn getötet und versklavt hat.
Der Drache, der diese Schlacht gewann.

"Nur du und ich, Jormag..." sprach der Norn.
Selbst im Angesicht des Todes lag keine Angst in seiner Stimme, als er dem Drachen drohte.
"Du magst mich heute töten, aber mein Volk wird mich rächen, und meine Legende wird selbst dich überdauern!" Er sah Jormags gewaltiges Maul vor sich und erblickte die Lücke, wo einst der Zahn war, den Asgeir Drachenmacher ihm ausschlug, der heute als Trophäe in der Großen Halle von Hoelbrak hing. Doch Ysmir wusste, das er seine Heimat nie wieder sehen würde.
Und mit einem letzten, gewaltigen Schrei schwang er seinen Hammer dem Drachen entgegen.
Der Drache brüllte vor Schmerz, als der Schlag einen Teil seines gewaltigen Zahns zertrümmerte. Das Eis klirrte, als ein Schauer an Scherben sich über Ysmir ergoss. Blut strömte aus unzähligen Wunden aus seinem Körper und er hatte Mühe, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Dennoch rauschte das Adrenalin in seinem Körper, und er lachte, als er den abgebrochenen Stumpen im Maul des Drachen sah.
„Pah, ich hoffe der nächste Zahn bleibt dir im Halse stecken! Ein Drache ohne Zähne ist kein würdiger Gegner für einen Norn!" keuchte Ysmir. Selbst in seinen letzten Augenblicke würde er seinen Humor nicht verlieren. Doch dann hob der Drache seine gewaltige Klaue, deren Finger den stattlichen Norn um ein fast zehnfaches überragten, und umschlang dessen Körper. Ysmir wurde die Luft aus dem Leib gepresst. Der Schmerz war unerträglich, jeder Muskel seines Körpers stämmte sich gegen den Griff des Eisdrachen, doch es war klar, dass es kein Entkommen geben würde. Dies war das Ende.
Eine Kälte durchdrang seinen Körper, die schlimmer brannte als jedes Feuer. Das Blut in seinen Adern erstarrte, und seine Haut wurde von einer dicken Schicht aus Eis überzogen. Jormags Augen bohrten sich in Ysmirs Kopf; er brüllte vor Schmerz. Dies war schlimmer als der Tod. Mit jeder Sekunde spürte er, wie seine Glieder taub wurden, als sie zu Eis erstarrten. Sein hellblondes Haar färbte sich schneeweiß und wurde von einer dünnen Schicht aus Frost bedeckt. Das Weiß in seinen blauen Augen verschwand und wurde durch ein unheimliches, eisiges Leuchten ersetzt. Der Drache hatte ihn verwandelt. Doch obwohl sein Körper den Kampf bereits verloren hatte, musste sein Geist gegen Jormags Einfluss bestehen.
Ich... werde...dir niemals dienen!"
Jormag drang tief in seinen Verstand ein, wie ein Eiszapfen, der sich in seinen Schädel bohrte. In seinem Kopf sah er undeutliche Bilder, Bilder von Tod und Zerstörung, Demonstrationen von Jormags Macht. Dann zeigte der Drache ihm Bilder seiner gefallenen Kameraden, niedergemetzelt von einer Schar Eisbrut.
NEIN! Sie sind nicht tot, das kann nicht sein! Ich werde nicht auf deine Lügen hereinfallen! Sie müssen entkommen sein, sie MÜSSEN!"
Er wollte es nicht glauben. er konnte es nicht glauben. Das war nur ein Trick, seinen Geist zu brechen. Oder... war es das? Sie waren nur noch zu acht, und gegen eine Armee Drachendiener würden selbst sie nicht lange bestehen. Die Bilder wurden klarer. Seine Freunde: Aela, Gunnar und Brinjolf, die Asura Floxx, Cahirah, Kriegsmeister Kento, Raegar Schwarzklaue...und Sif. Seine geliebte Sif lag dort in einer Pfütze aus Blut, das Licht in ihren sonst strahlenden, grünen Augen erloschen.
Und damit war sein Wille endgültig gebrochen. Er wollte sterben. Er wollte nur noch sterben. Aber er wusste, dass ihm diese Gnade nicht erteilt würde. Der Norn Ysmir Harvallson war nicht mehr. Jormags Werk war getan. Alles, was von ihm war eine leere Hülle, ein willenloser Sklave.
Er fiel. Immer tiefer und tiefer. Hinab in das Dunkel, die ewige Kälte...


Kapitel 1: Aufbruch


„Ysmir! Ysmir, wach auf!"
Er vernahm eine zarte Stimme, und erblickte ein Paar grüner Augen, die ihn anstrahlten, als er die seinen aufschlug.
„Mann, du schnarchst ja lauter als die Bärin!" sagte Sif grinsend und küsste ihn auf die Wange. Ysmir rieb sich die Stirn.
„Hmm... ich hab schon wieder schlecht geträumt."
„Ach, das ist nur die Aufregung. Du machst dir mal wieder viel zu viele Sorgen. So, wie du geschnarcht hast, kann es gar nicht so schlimm gewesen sein. Komm, wir sind schon spät dran."
„Ja, schon gut, du hast recht." gähnte Ysmir und stand mühselig auf.
„Mit dem Schnarchen, oder damit, dass wir spät dran sind?" witzelte die rothaarige Norn. Ysmir seufzte und schüttelte den Kopf, aber seine Lippen formten sich unweigerlich zu einem Schmunzeln. „Du bist manchmal schlimmer als Gunnar und Brinjolf zusammen. Aber vermutlich hast du mit beidem recht."
Die Brüder Gunnar und Brinjolf Alvarrson waren alte Freunde von Ysmir, die sich ebenfalls für die Expedition in die Fernen Zittergipfeln gemeldet hatte. Brinjolf hatte zwar mehr Hirn als sein jüngerer Bruder geerbt, aber die Beiden waren ein unzertrennliches Gespann. Gunnar war ein draufgängerischer, aber dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – äußerst guter Krieger. Brinjolf war ein Elementarmagier und verstand es, die Elemente auf dem Schlachtfeld zu seinen Gunsten zu formen. Dass sie dabei waren, freute Ysmir, denn obwohl die Reise immer noch gefährlich werden würde, wusste er die Gesellschaft der beiden immer zu schätzen. Dann war da noch Kriegsmeister Kento Ishimura, ein Menschenkrieger, dessen Vorfahren aus dem fernen Kontinent Cantha stammten. Er hatte sich unter den Wachsamen einen Namen gemacht, war aber angeblich sehr wortkarg, wenn es nicht um Befehle und taktische Anweisungen ging. Dies war nicht die schlechteste Eigenschaft, wenn man ihn mit dem ständig prahlenden Gunnnar verglich. Ysmir hatte ihn nur einmal kämpfen sehen, doch es hatte gereicht, um ihn zu beeindrucken. Mit Kento würde selbst er es sich nicht verscherzen wollen, obwohl er beinahe doppelt so groß war. Außerdem mit von der Partie war der Charr-Ingenieur Raegar Schwarzklaue vom Orden der Gerüchte. Der ehemalige Legionär der Eisen-Legion war in einen Hinterhalt der Flammen-Legion geraten, den sein Trupp nicht überlebte. Als Gladium schloss er sich dem Orden an und wurde vor einiger Zeit zum Lichtbringer ernannt. Was Ysmir an den Charr gefiel, war ihre Denkweise: Direkt und unkompliziert. Wenn es ein Problem gibt, wird es ohne lange zu fackeln angegangen. Und je härter das Problem, desto größer der Spaß. Genau so ein Charr war Raegar, auch wenn das seinen Kollegen vom Orden der Gerüchte nicht immer gefiel, aber zumindest hatten sie immer Feuerkraft dabei, wenn ein Plan mal nicht ganz so aufging, wie gedacht. Ganz anders war Agentin Floxx, die sich ebenfalls gemeldet hatte. Die Asura-Nekromantin hatte für fast jede Situation einen Plan und hatte den Pakt in der Schlacht gegen Mordremoth unterstützt. Auch wenn viele ihr kritisch gegenüberstanden oder sie sogar fürchteten, weil sie häufig in der Schlacht gefallene Pakt-Soldaten wiederauferstehen ließ, was zwar häufig ein entscheidender Vorteil war, aber von den meisten Nicht-Asura als unmoralisch oder sogar als Leichenschinderei angesehen wurde. Ysmir gefiel so etwas auch ganz und gar nicht, aber wenn es Leben in der Schlacht retten konnte, war es vielleicht zumindest teilweise vertretbar. Das letzte Mitglied des Aufklärungstrupps war die Sylvari-Mesmerin Cahirah. Über sie wusste Ysmir so gut wie nichts, außer, dass sie für die Abtei Hinweise über den Kampf früherer Rassen mit den Altdrachen sammelte. Dieses Wissen und ihre Fähigkeiten als Mesmerin würden in dieser Gruppe von unschätzbarem Wert sein. „Bist du bald mal fertig, alter Mann?"
Sif hatte es eilig. Die Waldläuferin setzte sich auf den Boden der kleinen Hütte und kraulte ihren Begleiter Schnee, einen weißen Wolf. Dieser war eines der intelligentesten Tiere, die Ysmir je gesehen hatte. Manchmal, wie Sif gerne zum Scherz sagte, sogar intelligenter als Gunnar.
„He, ich bin zwar kein Jungspund wie du, aber alt bin ich deswegen noch lange nicht!" brummte der Norn, als er seine Rüstung anzog. „Du kannst ja schon mal vorgehen, wenn du es nicht abwarten kannst."
Sif sah ihn fragend an. „Und was soll ich ihm dann sagen, wenn ich ohne dich auftauche?"
„Lass dir was einfallen!" schlug Ysmir vor, während er seine Rüstung begutachtete. Es war die gängige Ausrüstung der Wachsamen, jedoch durch einige alte Erbstücke seines Vaters ergänzt. Er war unfassbar stolz auf sie, genau wie auf seinen Kriegshammer, den er „Eisbrecher" getauft hatte, da er die Form und Farbe eines geborstenen Eisblocks hatte. Er glaubte, dass es tatsächlich eine Art magisches Eis war, doch er war sich nicht sicher. Es war auf jeden Fall eine vorzügliche Waffe.
„Ich hab's! Wie wärs mit: Ysmir kommt gleich, er muss erst noch seine Rüstung ölen?" sagte Sif sarkastisch.
„Haha, sehr witzig..." seufzte Ysmir. Er schnappte sich seinen Hammer und ließ Sif nicht länger warten.
Wehe, sie sagt noch ein Mal alter Mann zu mir. Wolf, dieses Weib macht mich noch fertig...
Sie gingen zur Großen Halle, vor deren Türen bereits ein bekanntes Gesicht auf sie wartete. „Ah, da seid ihr beiden ja! Die anderen warten drinnen schon auf euch!"
„Siehst du, was hab ich dir gesagt?" flüsterte Sif Ysmir zu. Dieser beachtete ihren Kommentar nicht weiter und ging auf den jungen Norn zu.
„Braham, schön Euch zu sehen!"
„Ebenfalls, Ysmir. Sif." Er reichte beiden die Hand. „Ach, tut mir leid, Kleiner, du natürlich auch!" Er streichelte Schnee über den Kopf, der sich sichtlich darüber freute. „Na dann los, der Boss wartet schon. Ihr könnt froh sein, dass er so geduldig ist. Glaubt mir, wir mussten oft genug zusammen auf Taimi aufpassen... Ihr könnt euch nicht einmal vorstellen, wie anstrengend das war."
Nach dem Sieg über Mordremoth wurde die „neue Klinge des Schicksals" in ganz Tyria gefeiert, die mithilfe des Paktes, der einen vernichtenden Schlag erlitten hatte, den Altdrachen im Herzen des Maguuma-Dschungels stellen und mit vereinter Kraft bezwingen konnten. Taimi wurde dank ihrer Erfindungen, die für den Sieg entscheidend waren, von den drei großen Kollegs in Rata Sum zum Ehrenmitglied ernannt. Der Rat war zuerst empört, dass diese Ehre einer so jungen Asura zu Teil wurde, aber niemand geringeres als Ratsmitglied Phlunt bürgte für das junge Genie. Er versprach Taimi, dass der Rat ihre Erfindungen nie wieder beschlagnahmen würde, solange diese nicht für Tod und Zerstörung sorgten. Kasmeer Meade erhielt von Königin Jennah höchstpersönlich ihren Adelstitel und ihr Familienerbe zurück. Zusammen mit ihrer Partnerin Marjory Delaqua blieb sie einige Zeit in Götterfels, wo sie einigen Gerüchten zufolge als freie Agentin der Krone agierte. Und Rox war nach der plötzlichen Rückkehr von Rytlock Brimstone einige Zeit zur Schwarzen Zitadelle zurückgekehrt. Doch wer sie kannte, der wusste, dass sie dort nichts lange halten würde. Kein Trupp könnte je ihre Freunde ersetzen.
Braham, Ysmir und Sif betraten den Raum: Es war die Feuerstelle des Jägers über der Großen Halle von Hoelbrak. Der Raum war mit Wandteppichen und Trophäen behangen, die während dem Kampf gegen Zhaitan, Mordremoth und Scarlet Dornstrauch gesammelt wurden. Ysmir sah mehrere Podeste mit Abzeichen, seltsamen Artefakten und anderen Dingen, deren Herkunft oder Funktion er sich nicht im Geringsten ausmalen konnte. In der Mitte des langen Raumes stand ein großer Tisch mit einer Karte der gesamten Zittergipfel darauf, von den Überresten von Drokknars Schmiede nahe des Mahlstromgipfels bis zu den Fernen Zittergipfeln weiter nördlich. Um den Tisch versammelt standen die Mitglieder des Aufklärungstrupps: Gunnar und Brinjolf unterhielten sich gelassen, wie immer. Der Charr, Raegar Schwarzklaue, tüftelte an einer Art Kanone, die er vermutlich selbst zusammengebaut hatte, was nicht zwingend Gutes verhieß. Die anderen nahmen bereits die Karte in Augenschein. Ysmirs Blick wanderte durch den Raum über seine zukünftigen Kameraden hinweg und bleib schließlich an den Ketten hängen, an dem ein gewaltiger Zahn unten in der Großen Halle hing: Der Zahn des Altdrachen Jormag. Vor über anderthalb Jahrhunderten erwachte der Eisdrache und vertrieb die Norn aus ihrer alten Heimat in den fernen Zittergipfeln. Dorthin würde Ysmir bald zurückkehren, wenn auch nur, um Informationen zu sammeln, die dabei helfen könnten, den Drachen ein für alle Mal zu vernichten.
„Ah, Ysmir, Sif, da seid Ihr ja!"
Ysmir wurde wieder aus seinen Gedanken gerissen und drehte seinen Kopf in Richtung der Stimme, die seinen Namen nannte. Am anderen Ende des Tisches stand ein hochgewachsener, goldblonder Norn in einer mächtigen, eisblauen Panzerrüstung. Sie war nicht sonderlich verziert, aber dennoch imposant; die Schultern und Handschuhe waren von mehreren Zacken überzogen, die man auch problemlos im Kampf hätte einsetzen können. Seine Gesichtszüge strahlten eine ernste Autorität aus, die von vielen kleinen Narben untermalt wurde, die zweifellos von seinen vielen gewonnenen Schlachten zeugten. Aber trotz dem Erscheinungsbild des furchtlosen Kriegers hatte er etwas wahrlich heldenhaftes an sich und war stets freundlich und entgegenkommend. Er trug sein Haar offen mit einigen kleinen, geflochtenen Zöpfen hinter dem Kopf und an den Seiten. Sein getrimmter Vollbart ging am Kinn ebenfalls in einen prächtigen, geflochtenen Zopf über. An seiner Hüfte hingen zwei sonderbare Äxte in Form eines Drachenkopfes mit offenem Maul. Sie sahen aus, als wären sie aus lebendigem Eis geformt und waren von einem leichten, eisigen Dunst umgeben. Allein ihr Anblick ließ einem das Blut in den Adern gefrieren. Man munkelte, dass sie aus den Knochen eines mächtigen Champion von Jormag gefertigt waren, den der Kommandeur bezwungen hatte. Ysmir kannte den Norn bereits, doch auch jetzt war er mit Ehrfurcht und Respekt erfüllt, als er vor ihm stand. Er salutierte, wenn auch etwas verkrampft. „Kommandeur, entschuldigt vielmals die Verspätung!"
Der Norn lächelte. Es war ein Lächeln, das alles, was ihn furchteinflößend wirken ließ, augenblicklich in den Hintergrund rückte.
„Kein Grund, Euch zu entschuldigen, Ysmir Harvallson. Ihr hattet vermutlich Eure Gründe." sagte er verständnisvoll.
Ysmir war sich nicht sicher, ob er dankbar sein oder sich schämen sollte.
„Genau, wir haben alle Zeit der Welt! Vielleicht schläft Jormag ja von selbst wieder ein, wenn wir lange genug warten!" spottete eine piepsige Stimme. Die Asura Floxx meldete sich zu Wort, die sichtlich ungeduldig war. Die giftgrünen Augen der Asura funkelten Ysmir böse an, aber dieser blieb ruhig. Er wandte sich Sif zu, die bereits die Faust ballte, und wies sie wortlos an, sich ebenfalls zu beruhigen.
„Spott ist im Moment nicht angebracht, Agentin Floxx." warf der Kommandeur ein. Die anfängliche Wärme in seiner Stimme war einem etwas strengerem und ernsterem Ton gewichen. „Ihr alle werdet bald zusammen als ein Team arbeiten müssen, merkt Euch das. Wenn es nun keine weiteren Unterbrechungen gibt, fangen wir an."
Er räusperte sich noch einmal und stützte sich dann auf dem massiven Tisch ab.
„Ihr alle habt Euch für die gefährliche Aufgabe gemeldet, das Gebiet nördlich des Eisklammsunds auszukundschaften, um so viel wie möglich über den Standort des Altdrachen Jormag und über die Stärke dessen Armee herauszufinden. Nochmals, damit das klar ist: Dies soll keine Offensive sein. Ihr seid nur eine Hand voll Kämpfer, und der Pakt kann Euch nur wenige Truppen zur Verfügung stellen. Sobald Ihr den Eisklammsund hinter Euch gelassen habt, seid Ihr auf Euch allein gestellt. Ihr werdet vielleicht vereinzelt auf Jäger oder Kodan-Flüchtlinge stoßen. Ihr begebt Euch über die Wanderer-Hügel auf schnellstem Weg nach Norden zum Arundon-Tal, wo einige Einheiten des Paktes auf Euch warten werden. Sie helfen Euch, weiter nördlich zu kommen. Wie Ihr sicherlich mitbekommen habt, sind die Söhne Svanirs über die letzten Jahre um einiges zahlreicher und zudem aggressiver geworden. Sie machen den Eisklammsund nur noch schwer passierbar. Außerdem werdet Ihr, sobald Ihr dieses Gebiet hinter Euch gelassen habt, einige Gletscherpässe überqueren müssen. Es sei denn, Ihr wollt durch die Ausläufer des Drakkar-Sees schwimmen."
„Der Drakkar-See gleicht inzwischen schon eher einem Meer als einem See." warf Brinjolf ein. „Da werden wir ziemlich lange schwimmen müssen, und das Wasser ist nicht nur furchtbar kalt, sondern auch voller Eisbrut und anderer Gefahren."
„Und vor allem diese verdammten Eisbrut-Fische!" fügte Gunnar hinzu.
„Da habt Ihr recht." antwortete der Kommandeur. „Deswegen rate ich Euch auch, über die Gletscher zu gehen. Allerdings ist dieser Weg ebenso tückisch wie beschwerlich. Vielleicht seht Ihr jetzt, wie gefährlich diese Mission ist. Und in die Fernen Zittergipfel zu gelangen wird wohl noch der leichtere Teil des Ganzen sein."
Seine Miene verfinsterte sich. „Ich erwarte viel von Euch, ich weiß. Aber diese Aufgabe ist von unschätzbarer Wichtigkeit. Wir müssen über Jormag so viel erfahren wie nur möglich, wenn wir es mit ihm aufnehmen wollen. Wir haben bereits zwei Altdrachen bezwungen, das ist wahr, aber wir haben das nicht ohne Verluste geschafft. Der letzte Kampf hat den Pakt beinahe ausgelöscht. Unsere mangelnde Vorbereitung und die Tatsache, dass wir Mordremoth unterschätzt hatten, haben dazu geführt, dass zahllose unserer Verbündeten sich gegen uns wandten. Eure Informationen könnten eine ähnliche Tragödie verhindern und tausende von Leben retten, vielleicht sogar das Schicksal von ganz Tyria entscheiden! Wir sind uns Jormags Macht längst nicht gänzlich bewusst, aber ich kenne seine Diener gut. Den Geist mit Versprechungen von unermesslicher Macht zu vergiften, ist eine schreckliche Kraft, die Jormag seit Jahrhunderten benutzt. Ihr kennt alle die Geschichte von Svanir, zumindest die Norn unter Euch. Fast jeder, der sich dem Drachen entgegenstellt, stirbt oder wird verdorben. Womöglich schicke ich Euch alle in den Tod... oder Schlimmeres."
Ysmir erschauderte, als er den letzten Satz hörte. Vielleicht hätte er doch lieber in Hoelbrak bleiben sollen. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Er hatte sich aus gutem Grund freiwillig gemeldet.
„Das ganze ist also ein Himmelfahrtskommando."
Aus dem hinteren Teil des Raums trat eine junge Norn hervor. Sie trug eine goldene Rüstung, die sogar um einiges prächtiger war als die des Kommandeurs, obwohl sie ziemlich wenig verdeckte, was bei den Norn allerdings fast schon üblich war. Der hellblaue Stoff hatte die selbe Farbe wie ihre Augen und ihre auffällige Körperbemalung, die zugleich elegant und wild aussah. Ihr blondes Haar war hinten mit einem Zopf zusammengebunden, der ihr fast bis zur Hüfte reichte. Auf der Stirn trug sie eine Art Diadem, das aussah, als wäre es aus Eis gemacht. Ysmir musterte die Norn, als Sif ihn plötzlich etwas unsanft mit dem Ellbogen anstupste.
„He da, starrst du ihr etwa auf die..."
„Verdammt, Sif, du glaubst doch nicht im Ernst..."
„Pssst!" Brinjolf wies die beiden an, ihr Streitgespräch auf später zu verschieben. Der Kommandeur fuhr fort.
„So habe ich das nicht gemeint. Diese Abenteurer sind durchaus fähig; ich zweifle nicht daran, dass sie der Sache gewachsen sind. Außerdem haben sie einen kompetenten Anführer. Nicht wahr, Ysmir?"
Ysmir war sich nicht sicher, ob er den Kommandeur eben richtig verstanden hatte. „W...Was... ich? Anführer? Also ich... ich meine..." stammelte er völlig überrascht.
Er hätte nie damit gerechnet, dass er die Gruppe leiten müsse. Andererseits war er es, auf den der Kommandeur zugegangen war, auch wenn er bis heute nicht wusste, warum. Er wusste ebenfalls nicht, was er antworten sollte. Erst als Sif ihre Hand auf seine Schulter legte fand er wieder seinen Mut.
„Natürlich, Kommandeur. Habt Dank." Ysmir senkte den Kopf leicht und deutete eine Verbeugung an.
„Ihr wirkt ja überrascht. Hätte ich Euch das eher mitteilen sollen? Nun, ich finde, Ihr seid dafür bestens geeignet. Ich habe mir sagen lassen, Ihr habt Eure Führungsqualitäten bereits mehrmals bewießen. Außerdem kennt ihr einen großen Teil der Gruppe und damit ihre Stärken und Schwächen."
Damit hatte er auch irgendwie recht, dachte Ysmir. Sif, Gunnar und Brinjolf kannte er selbstverständlich bestens. Kriegsmeister Kento war er einige Male bei den Wachsamen begegnet und von den anderen hatte er zumindest schon einiges gehört. Der Kommandeur atmete tief durch.
„Noch eine Sache bevor ihr geht..." Er zeigte auf einen Punkt auf der Karte. „Nordöstlich des Eisklammsunds liegt die Ruine eines uralten Turms: Dem Auge des Nordens. Niemand weiß, wer ihn erbaut hat, aber die Ebon-Vorhut hatte ihn wohl einst als Operationsbasis benutzt. Dort soll sich außerdem die sogenannte Halle der Monumente befinden. Falls sie noch existiert."
„Die Halle, in der einst das Spähbecken war, das die Flammensucher benutzten..." Kriegsmeister Kento meldete sich plötzlich zu Wort. Es war nicht üblich, dass er über Dinge redete, die nicht Teil eines Schlachtplans waren. Als der Kommandeur und die anderen ihn fragend anblickten, erläuterte er: „Das Spähbecken zeigte ihnen eine Vision von den Zerstörern. Damals wussten sie jedoch noch nicht, dass sie nur die Diener von Primordus waren. Dem Becken soll eine ungeheure Macht innewohnen."
„Ihr wisst viel darüber, Kriegsmeister." merkte der Kommandeur an. „In Euren Adern fließt Heldenblut, das spüre ich. Einige Nachfahren dieser Flammensucher sind in Besitz einer Art Portalstein. Eine Freundin hat mir einen solchen anvertraut." sagte er und zeigte den Stein, der eher wie eine verzierte Kugel aus Metall aussah. Kento starrte die Kugel mit weit geöffneten Augen an.. „Ich bin beeindruckt. Nur wenige sind noch in Besitz solch eines Artefaktes. Wisst Ihr, wie er funktioniert?" fragte er.
„Ehrlich gesagt, nein." antwortete der Norn. „Der Stein funktioniert nicht wie ein Asura-Portal, man reist nicht direkt dorthin. Es ist mehr eine... Erinnerung. Ich weiß auch nicht genau, wie es funktioniert, aber meine Freundin war der Meinung, ich könnte womöglich Euch Kontakt aufnehmen können, sobald Ihr dort seid."
Nun meldete sich auch Gunnar zu Wort. „Aber wie wollt Ihr denn wissen, wann wir dort sind? Wir werden Euch ja nicht einfach einen Brief schreiben können."
„Das war das Schlauste, was ich je aus deinem Mund gehört habe, Bruder!" lobte ihn Brinjolf.
„Ihr habt recht, Gunnar, das werde ich nicht wissen können, aber der Stein wird es. Sobald jemand diese uralten Hallen betritt, wird er es merken." erklärte der Kommandeur. Er blickte noch einmal jeden in der Runde an, bevor er zum Schluss kam.
„Meine tapferen Freunde, wisset, dass ganz Tyria Euch dankt, dass Ihr diese Bürde auf Euch nehmt! Wenn Ihr heimkehrt, wird man Euch als Helden feiern, und wer von Euch fällt, auf den wird das Glas erhoben, und die Skalden werden ihre Namen rufen, auf dass man sich ihrer erinnere, bis ans Ende aller Tage! Es wird das Letzte sein, was Jormag hören wird, bevor er fällt!"
Die Gruppe jubelte dem Kommandeur zu. Er verstand es, wie man Leute motivierte. „Nun nehmt Euch Zeit, Eure Sachen zu packen und Euch noch einmal zu verabschieden, denn es wartet eine lange Reise auf Euch."
Die blonde Norn trat entschlossen vor. „Ich werde mit Euch gehen!"
„Was? Nein, das ist ehrenhaft von dir, aber das geht nicht. Ich brauche dich hier." sagte der Kommandeur und schüttelte heftig den Kopf.
„Wozu denn?" erwiderte die Norn. „Ich bin eine Wächterin, die Gruppe könnte mich viel besser gebrauchen!"
„Nein! Es ist zu gefährlich! Ich..."
Er hatte nicht bemerkt, wie laut er geworden war. Die anderen standen verwirrt da und hatten keine Ahnung, was vor sich ging. Die Beiden sahen sich in lange in die Augen. Ysmir bemerkte, dass sie fast dieselbe Farbe hatten. Die Wächterin hielt dem strengen Blick des Kommandeurs stand. Es dauerte einen Moment, bis dieser sich wieder beruhigte und nach einem langen Seufzer fortfuhr.
„Nun gut, dann wirst du mit ihnen gehen. Aber versprich mir, dass du kein Risiko eingehst." Obwohl der Kommandeur den letzten Satz flüsterte, verstand Ysmir, was er sagte, und er hätte schwören können, dass er ein klein wenig Angst in dessen Stimme bemerkte.
„Die ganze Mission ist ein einziges Risiko. Aber ich verspreche dir, dass ich zurückkomme, und die anderen werde ich mitbringen."
Ysmir bewunderte die Selbstsicherheit der Wächterin. Sie hatte recht, auf so einer gefährlichen Reise war ein Wächter eine große Hilfe.
„Nun gut, ich wünsche Euch allen viel Glück. Mögen die Geister der Wildnis über Euch wachen."
Bevor sie gingen, wandte der Kommandeur sich der Wächterin zu. „Aela, ich will noch eben mit dir reden."
Aela, so lautete ihr Name also. Ysmir und die anderen gingen hinaus, gefolgt von Braham. „Na, das war ja mal eine Ansprache."
Ysmir schaute auf Brahams Bein. Ihm war schon vorhin aufgefallen, dass er leicht hinkte.
„Mein Bein? Ja, ist noch immer nicht ganz verheilt. Das wird wohl auch nie wieder, aber es stört mich kaum, außer wenn ich eine Weile rennen muss. Deswegen komme ich auch nicht mit, ich würde euch nur aufhalten. Aber ihr habt jetzt ja eine Wächterin!"
Sif wurde neugierig. „Wer ist sie denn eigentlich?"
„Aela Freyasdottir. Noch nie von ihr gehört? Sie hat gegen die Söhne Svanirs gekämpft und schon unzählige ihrer Champions in die Knie gezwungen. Glaubt mir, sie ist gut. Fast so gut wie ich."
„Warum war der Kommandeur so aufgebracht, als sie mitgehen wollte?" fragte sie.
Ysmir glaubte, die Antwort bereits zu kennen. Und seine Vermutung bestätigte sich sogleich.
„Sie ist seine Tochter." antwortete Braham.

„Was hast du dir dabei gedacht?!"
Wütend stemmte er sich auf den Tisch. „Du weißt nicht, was dich dort erwarten wird!"
„Ich war schon im Eisklammsund und habe gegen die Eisbrut gekämpft, das weißt du ganz genau! Die sind kein Problem für mich!"
„Das sagst du so einfach! Aber der Weg in die Fernen Zittergipfel, das ist das wahre Problem! Das ist Feindgebiet, Aela!"
Aela verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum sorgst du dich plötzlich so sehr? Du hast selbst gesagt, wie wichtig diese Aufgabe ist! Wie oft hast du dich in unbekannte Gebiete vor gewagt?"
„Das ist nicht dasselbe! Ihr seid völlig auf euch allein gestellt, mitten in Jormags Herrschaftsgebiet! Aber dir ist das alles anscheinend egal! Das ist das Problem. Du bist noch fast ein Kind, Aela!"
„Sag das nie wieder!" brüllte Aela zornig, sogar noch lauter als ihr Vater, und zeigte wütend mit dem Finger auf ihn.
„Ich bin schon lange kein Kind mehr, und da fällt dir jetzt erst ein, dir Sorgen um mich zu machen? Wo warst du die ganze Zeit, als ich wirklich in Gefahr war? Hast du dir damals je Sorgen um mich gemacht?"
Ihr Vater war sprachlos. Diese Worte trafen ihn härter als jeder Hieb, den er bisher in der Schlacht abbekommen hatte. Denn sie waren wahr.
„Es... tut mir leid, Aela."
Er senkte den Kopf, und Tränen liefen ihm über die Wange. All die Jahre, in denen er bei der Frau, die er liebte, und seiner Tochter hätte sein können, war er umhergezogen auf der Suche nach seiner Legende. Als er Aela das erste mal sah, war sie bereits eine junge Erwachsene. Er erinnerte sich an jenen Tag, als er erfuhr, dass er ein Kind bekommen würde. Er war vor der Verantwortung davongelaufen. Er hatte seine Frau und sein Kind im Stich gelassen. Da fragte er sich, was für ein Vater er eigentlich war.
„Ich wünschte, ich hätte öfter bei dir sein können. Deine Mutter..."
Er hielt inne.
„Sie hatte mir wahrscheinlich nie ganz verziehen, dass ich sie verlassen habe. Ich habe sie geliebt. Aber... ich schätze, ich war wohl noch zu jung, um sesshaft zu werden. Ich wollte mir einen Namen machen, wie mein Vater und seine Väter vor ihm, und eines Tages unsere Heimat von Jormag zurückerobern... Ich war dumm. Wie konnte ich euch beiden das nur antun..."
Aela fühlte sich ebenfalls schlecht. Sie hatte ihren Vater noch nie so gesehen. Selbst im Kampf gegen die Drachen, in dem er unzählige Mitstreiter verloren hatte, war er vermutlich nie so am Boden zerstört gewesen wie jetzt. Das hatte sie nicht gewollt. Aela ging auf ihren Vater zu und schloss ihn in die Arme. „Dir muss nichts leid tun, Vater. Ich kann das verstehen. Mutter... war dir nicht böse. Sie hat dich trotzdem geliebt, auch wenn ihr euch nur selten gesehen habt und sie noch seltener über dich reden wollte. Sie hat dich einfach vermisst. Mach dir keine Vorwürfe. Wenn du nicht den Pakt gegründet hättest, wären wir ohnehin alle schon längst tot."
„Nun ja, ich habe ihn ja nicht gegründet..." warf er ein.
„Du hast aber mehr getan als jeder andere in Tyria, um Zhaitan aufzuhalten. Und du warst es, der die Klinge des Schicksals wiederbelebt hat. Und dann hast du eine neue Gruppe zum Sieg gegen den nächsten Altdrachen geführt. Du hattest genug Gründe. Ich wünschte nur, wir hätten mehr Zeit miteinander verbringen können."
„Deswegen wollte ich ja, dass du hier bleibst. Aber das ist jetzt deine Chance, mich stolz zu machen. Versprich mir nur, dass du zurückkommst!"
„Ich verspreche es dir. Ich verspreche es dir, Vater, dass ich dich stolz machen werde. Und Mutter." Sie gab ihrem Vater einen Kuss auf die Wange und ging hinaus, um sich auf die Reise vorzubereiten. Der Kommandeur sah ihr noch eine Weile nach. Sie war genau so hübsch wie ihre Mutter. Und auch so stur.
„Boss?" Braham betrat den Raum. „Eir wollte noch mit dir reden."
„Ah, sehr gut, ich mache mich gleich auf den Weg." antwortete der Norn.
„Nicht nötig, alter Freund." erwiderte eine Stimme.
„Mutter?" Braham war überrascht, als seine Mutter plötzlich hinter ihm auftauchte. „Ich dachte du... ach, egal."
„Ich habe mich doch entschieden, herzukommen. So konnte ich noch einen Blick auf die Truppe werfen, die unser Kommandeur zusammengestellt hat. Ich bin beeindruckt!" Eir Stegalkin und ihr Wolf Garm kamen herein und gingen zum Tisch in der Mitte. Garm stupste den Norn zur Begrüßung mit der Schnauze am Bein an. Er beugte sich runter und streichelte den Wolf. „Sie sind die besten, die ich finden konnte. Aber manchmal ist das Beste nicht genug..."
„Ja, das weiß ich ganz genau. Jeder macht Fehler, und meiner war es, den Snaff mit dem Leben bezahlen musste..."
„Eir, du weißt genau, dass es nicht deine Schuld war, das hatten wir doch schon oft. Selbst wenn du Logan gezwungen hättest, zu bleiben, hättet ihr ohne den Pakt keine Chance gehabt. Kralkatorrik wird der nächste sein, sobald wir Jormag ein für alle Mal vernichtet haben, und dann werden wir Snaff rächen können."
„Ha, du hast wieder dieses Etwas, das ich sofort in dir gespürt habe, als ich dich damals bei der Großen Jagd das erste Mal sah. Und genau das habe ich auch gespürt, als ich diese tapferen Kämpfer gesehen habe. Ich habe keine Zweifel. Die Geister werden auf ihrer Reise über sie wachen. Sie werden es schaffen, Denngar."
Denngar seufzte und starrte auf den Zahn, der unten in der Großen Halle hing.
„Das hoffe ich..."