1. Kapitel
Abschied
Traurig blickte Hermine aus dem Fenster ihres kleinen Zimmers, ehe sie wieder betreten auf das Stück Pergament schaute, das noch völlig unbeschrieben vor ihr lag. Es wartete, denn Papier war geduldig, das war es schon immer gewesen. Doch sie war es nicht mehr.
Denn Geduld war eine Tugend.
Sie tauchte die Feder in das Tintenfässchen und setzte zu schreiben an. Aber sie konnte nicht schreiben, ihr fielen keine treffenden Worte mehr ein, nicht einmal für die paar Sätze, die nötig gewesen wären. Ihr Blick glitt über das kleine Regal, welches sie direkt im Blick hatte, wenn sie geradeaus aufschaute. Es stand schon einige Jahre in diesem Zimmer im Dachgeschoss, wie es aussah, und dennoch war es völlig leer.
Genauso leer wie Hermines Gedanken, genauso leer wie ihr Herz. Alles wirbelte ihr wie ein völlig farbloser Strudel durch den Kopf und es tauchten nur selten farbige Lichtblitze auf. Erinnerungen, die sie verdrängte, denn sie würde nie wieder glücklich sein können und glückliche Dinge aus der Vergangenheit würden ihr nur noch mehr wehtun, als die Gewissheit, dass solche Dinge einst Gegenwart waren.
Sie seufzte und stand auf. Ein letzter Blick aus dem Fenster eröffnete ihr wie immer die Aussicht auf eine freie, unbebaute Fläche zwischen den großzügigen Anwesen auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Diese Fläche war ein Ort der Stille, ein Ort der Trauer, denn wann immer auch in der Nachbarschaft laute Musik dröhnte oder Menschen lachten, war es dort noch ruhig. Beinahe als besinnlich hätte Hermine den Ort beschrieben, an dem vor nun beinahe achtzehn Jahren Lily und James Potter gestorben waren im Kampf für das Leben ihres Sohnes.
Als sie den Flur betrat, glitten ihre Augen über die vielen bewegten Fotos, die ihr an der Wand entgegenzwinkerten, die ihr zulachten oder einfach nur winkten. Wunderschöne Fotos an einer gräulich anmutenden Wand, die irgendwann vor vielen Jahren einmal weiß gewesen sein musste. Nein, sie hatten sich nicht die Mühe gemacht neu zu streichen oder zu renovieren. Dafür hatten sie keine Zeit gehabt, viel zu viel war vorgefallen. Und wahrscheinlich hatte keiner von ihnen jemals wirklich die Hoffnung gehabt, dass sie eine Zukunft hätten in der ihnen dieses Haus noch einmal ein wirkliches Zuhause hätte sein können.
Die Fotos hatte Hermine immer in stillen Augenblicken aufgehängt, wenn sie wieder irgendwo in den Tiefen der Schubladen welche gefunden hatte oder wenn mal wieder Colin Creevey einen seiner spendablen Tagen gehabt hatte.
Langsam stolzierte sie die Treppe hinab. Sie stolzierte ... und auch sonst hatte sich ihre früher ehrgeizige und dennoch freundschaftliche und offene Art völlig gewandelt, ganz so, als hätte sie sich während der ganzen Zeit um einhundertachtzig Grad gedreht.
Sie strich sich die Strähne, die sich aus ihrem nahezu perfekten Haarknoten gelöst hatte, aus dem Gesicht und zog ihre weiße Bluse glatt. Etwas Arrogantes lag in ihren Augen, etwas Unnahbares, beinahe Kühles. Etwas, was man nicht von ihr kannte und was sie gleichzeitig für all ihre Lieben völlig fremd erscheinen ließ.
Doch sie hatte ihr Ziel klar vor Augen. Sie konnte es nicht schreiben, also musste sie die Nachricht, ihre Antwort, persönlich überbringen, ganz gleich wie sehr sie sich innerlich dagegen wehrte und wie sehr sie ganz tief in ihrem Inneren hoffte, dass ihr Herz sich noch ein letztes Mal gegen ihren Verstand und ihre inner Abneigung, die sich gegen alle Erinnerungen richtete, auflehnte.
Aber sie wollte ihre Vergangenheit endlich hinter sich lassen und Hogwarts war ein Teil dieser Vergangenheit.
„Professor McGonagall, es tut mir wirklich Leid, aber ich muss Ihr Angebot, welches ohne Zweifel gleichermaßen eine Bitte war, ablehnen", sagte Hermine und ihre Stimme klang dabei nicht so, als täte es ihr tatsächlich Leid.
„Miss Granger – haben Sie sich das auch wirklich genau überlegt? Bedenken Sie die Möglichkeiten, die Ihnen offen stünden, ihre Erinnerungen möglicherweise in der Schulbibliothek zu verewigen. Ich bin mir sicher Sie wären eine Bereicherung für Hogwarts und gleichermaßen Lehrerin und Idol für all ihre Schüler und Schülerinnen. Die Kinder haben keinen Respekt mehr und ihre Eltern haben Angst, dass wieder etwas Schreckliches passieren könnte, aber vielleicht haben Sie die Macht das zu ändern. Immerhin ..."
„Ich kann nicht länger in Hogwarts leben, denn mein Platz hier ist weggewischt, genauso wie vieles andere einfach weggewischt wurde", unterbrach Hermine ihre ehemalige Professorin, die beinahe ein wenig erschrocken war ob dieser Respektlosigkeit. „Es ist lange her, dass ich einmal sagte, ich könne es nicht ertragen, wenn Hogwarts schließen würde. Diese Zeit ist nun vorbei."
Professor McGonagalls strenger Blick veränderte sich ein wenig, ihre Gesichtszüge hinter ihrer eckigen Brille wurden weicher.
„Hermine, Sie genießen meine vollste Unterstützung und haben mein Verständnis. In allem was Sie tun, ich hoffe, dass Ihnen das bewusst ist."
„Natürlich. Vielen Dank, Professor McGonagall."
„Sie genießen nicht nur meine Unterstützung, sondern auch die aller anderen Ordensmitglieder, einige machen sich große Sorgen um Sie, das sollten Sie vielleicht wissen", fügte Professor McGonagall nicht ganz ohne vorwurfsvollem Unterton hinzu.
Das Portrait von Albus Dumbledore im Schulleiterbüro zwinkerte ihr glucksend zu, ganz so, als könne er sie nicht ernst nehmen. Hermine wusste nicht, was sie von solchen Dingen halten sollte. Erinnerungen, die lebten ... das fehlte ihr noch. Gerade, als sie aufstand und sich grußlos zu gehen umwandte, klopfte es an der Tür.
„Herein."
Ein hochgewachsener, hager wirkender Mann trat ein. Seine Haut war blass, beinahe ein wenig fahl, er wirkte seltsam leblos und leer und sein von einem Rahmen aus schwarzen Haaren eingefasstes Gesicht zeigte keine Regung. Hermine war im Moment seines Erscheinens nicht fähig ein Wort über die Lippen zu bringen, seine schwarzen Augen glitzerten ihr kalt entgegen.
Es war beinahe ein Automatismus, als ihre Hand eine nicht vorhandene Strähne aus ihrem Gesicht streichen wollte.
Es vergingen bloß Sekunden der Stille, doch ihr kam es vor wie eine Ewigkeit. Sie stand nun dem Mann gegenüber, dem sie nichts und gleichzeitig alles verdankte. Der Mann von dem sie nicht wusste, ob sie ihn anschreien oder ob sie sich bedanken sollte.
Eiligen Schrittes stürmte sie an ihm vorbei und knallte die Tür laut hinter sich zu, als sie ohne ein Wort der Verabschiedung das Büro der amtierenden Schulleiterin verlassen hatte.
Ihr Herz pochte bis zum Hals, als sie auf der Wendeltreppe stand. Severus Snape, der sie und einige andere Ordensmitglieder vom Schlachtfeld geholt hatte, war nur eine Tür von ihr entfernt und sie brachte es nicht über sich mit ihm zu sprechen, brachte es nicht über sich länger als einige Sekunden mit ihm den Raum zu teilen. Nicht heute, nicht an dem Tag an dem das Gefühl, dass ihr innerer Hass stärker war, als jede Liebe, die sie jemals empfunden hatte.
Zwei leise Stimmen drangen zu ihr durch.
Sie wollte nicht lauschen, doch sie konnte nicht anders. Sie war wie versteinert.
„Professor McGonagall, es ist nicht nötig, dass Sie mir weiterhin versuchen Vorschriften zu machen, denn Sie sind weder mein Vormund, noch sind Sie weiterhin meine Vorgesetzte, denn ich quittiere meinen Dienst an dieser Schule entgültig.
Es war von Beginn an sinnlos, dass ich mich eingesetzt habe für Dinge, die mir niemals als sinnvoll erschienen. Ohne Dumbledore ist diese Schule wertlos, ohne sein Beisein kann ich mich nicht weiter mit diesen kleinen aufmüpfigen Wesen abgeben. Das hätte Ihnen von Beginn an einleuchten müssen, wenn Sie auch nur halb so weise wären wie Dumbledore es war", die Männerstimme hörte sich an wie schwarze, flüssige Seide. Vorwurfsvoll und triumphierend.
„Professor Snape, zügeln Sie sich! Ihre Meinung gegenüber den Schülern Hogwarts war noch nie ein Geheimnis an dieser Schule, die den Schülern gleichermaßen ein zuhause und eine Zuflucht sein sollte."
„Die Schüler waren mir von Anfang an egal und sie sind es noch. Leben Sie wohl, Professor McGonagall."
Hermine hörte Schritte, die auf die Tür zusteuerten und war sich bewusst, dass sie von Snape entdeckt wurde und eilte die Wendeltreppe hinab. Als sie wieder auf dem Steinfußboden stand, blieb sie stehen.
Ein kühler Lufthauch strich über ihre Hand, als Snape an ihr vorbeirauschte ohne sie auch nur im Mindesten zu beachten. Sie war seiner Blicke nicht würdig.
Sie wusste nicht, warum, aber als sie ihn nur noch von Weitem auf dem Gang sah und sein rauschender Umhang beinahe aus ihrem Blickfeld verschwunden war, perlten ihr Tränen über die Wangen und sie spürte das erste Mal seit langem wieder etwas Warmes. Das erste Mal seit langem fühlte sie sich wieder, die Taubheit war für einen Moment verschwunden, doch sie kehrte zurück, als sie Professor McGonagalls Stimme hinter sich wahrnahm, die sie freundlich fragte, was sie noch hier suche.
Nichts, war die Antwort, jedoch nicht die Wahrheit.
Obwohl es draußen noch hell war, tauchten die Kerzen den mit schweren Vorhängen abgedunkelten Raum nur in einen schwachen Schein, der es kaum verdiente als Licht bezeichnet zu werden.
Es war still, hier wohnte niemand. Niemand, den man noch als lebendig bezeichnen könnte, niemanden, der noch Leben in diese Stille bringen konnte.
Severus Snape saß da, auf einem alten, zerschlissenen Sessel, inmitten eines Raumes, dessen Wände mit Bücherregalen vollgestellt waren und rührte sich nicht. Seine Augen waren starr auf die Kerze gerichtet, die er auf den Tisch gestellt hatte, doch eine einzige kleine Flamme konnte nichts gegen Kälte und Leere ausrichten. Weder gegen die in Snapes Wohnung, noch gegen die in seinem Inneren, die sich vor langer Zeit quälend ausgebreitet und sich seitdem gehalten hatte.
Sein Atem war flach, er dachte darüber nach, was heute geschehen war, warum Hermine Granger, ein Schlammblut, eine Muggelgeborene mit einem normalerweise schrecklichen Hang zur Neugier und zur Besserwisserei, ihn angeschaut hatte wie einen Geist. Denn auch, wenn ihn das emotional genauso wenig interessierte wie ihn die Schüler von Hogwarts jemals interessiert hatten, es wunderte ihn, denn er konnte es nicht nachvollziehen. Er hatte sie gerettet, man sah ihn beinahe als Helden der letzten Schlacht an, immerhin war er derjenige gewesen, der Dumbledores Plan hatte aufgehen lassen und schließlich noch Verwundete vom Schlachtfeld hatte holen müssen. Ein kleiner Teil des Plans, sozusagen die Bitte, die Dumbledore nachgestellt hatte. Doch wahrscheinlich hätte dieser Plan auch ohne ihn, ohne Severus Snape, bestens funktioniert.
Es war schließlich ein Plan des größten Zauberers aller Zeiten. Ein Zauberer wohl größer noch als die Gründer von Hogwarts, größer als Voldemort und Grindelwald. Wie lange war es nun her, dass er sein Leben für das Gute gegeben hatte? Es waren inzwischen wohl mehr als zwei Jahre. Zwei weitere Jahre in denen Snape sein Leben hatte weiter vorbeiziehen sehen und das ebenso sinnlos wie alles zuvor. Dumbledore, der immer versucht hatte jedem den Sinn klar zu machen, jedem ein bisschen von dem zu geben, wie er das Leben verstand, doch Severus hatte es niemals verstehen können.
Für ihn hatte das alles rein gar nichts geändert, er hatte beigetragen zum Sturz Voldemorts und seine Schuld beglichen, doch mehr war es nicht für ihn und auch für niemanden sonst.
Er kniff seine kalten, schwarzen Augen zusammen.
Ein Schwenk seines Zauberstabes und die Kerze auf seinem Tisch war verloschen, ohne, dass der Docht noch nachglühte.
Lebendiges Feuer hinterließ für ihn kein helles Glühen mehr, sondern nur Schwärze und Dunkelheit. Die Wärme hielt niemals an, denn nach dem Feuer kam die Kälte. Dessen war er sich ganz sicher, auch, wenn er dieses Feuer niemals selbst gespürt hatte.
