Vorwort
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Disclaimer: Die Figuren gehören Gatiss, Moffat und der BBC – bzw Sir A.C. Doyle. Ich verdiene damit nichts und Zitate und Anspielungen oder Interpretationen sind keine Plagiate sondern einfach nur FF.
(Sorry, ich kämpfe noch etwas mit diesem Uploadsystem und den Formatierungsmöglichkeiten. All jenen, die hier noch nicht selbst etwas hochgeladen haben, sei gesagt: Man kann hier keine funktionierenden Links einfügen, oder einen Dateinamen samt mit Punkt angehängter Endung erwähnen. Man kann auch keine Absätze machen, die mehrere Zeilen betragen und keine Abstände von mehr als einem Leerschritt.
Ich hoffe, dass meine Versuche, diese Besonderheiten auszutricksen, sich optisch positiv auswirken...
Zum Rating: Ich bin ein anderes System gewöhnt. Einige Gewaltschilderungen könnte man als 16+ bezeichnen, wenn ich mich so an den Empfehlungen im TV orientiere.)
Hi!
Am 1. 7. 2012 begann ich diese FF zu schreiben und dann praktisch sofort auf Fanfiktion-Punkt-de zu veröffentlichen. Dort bin ich unter nothinghappenstome bekannt, aber hier gibt es natürlich schon eine. Seitdem dort immer weniger los zu sein scheint, suche ich ein weiteres Standbein. Natürlich kann ich jetzt schlecht alles auf einmal hochladen, daher werde ich es in größeren Happen machen. (Aber wenn euch die nicht groß genug sein sollten, könnt ihr ja auch nothinghappenstome „besuchen" kommen.)
Der Titel der FF und auch der Nickname ergaben sich durch die Idee für diese Geschichte: Alles, was John mit Sherlock erlebt, die Fälle, die wir aus den Filmen kennen, die von denen John nur auf seinem Blog berichtet und alles, was dazwischen…noch passiert sein könnte... „NichtsfürdenBlog-Punkt-Doc" ist zunächst eine Art Tagebuch, in dem John sammelt, was er nicht veröffentlichen kann, aber man darf es sich jetzt nicht so vorstellen, dass er das alles hier geschrieben haben soll, dazu hätte er gar nicht die Zeit. Es ist das gleiche Prinzip wie bei „Per Anhalter durch die Galaxis" – der Roman heißt so und das Reisehandbuch, das in diesem Roman vorkommt, auch – bzw: es gibt dem ganzen Werk den Namen.
Ich hatte dabei vor, eng an den Filmen und am Blog zu bleiben, woraus sich zwangsläufig ergibt, dass es zumindest bis auf weiteres kein Slash geben wird – allerdings eine Menge Stellen, die man gerne als Pre-Slash lesen darf…
Und natürlich sind homophobe Äußerungen ebenso wie etwas männlicher Chauvinismus nicht meine Überzeugung, sondern bloß die Ansichten unseres lieben John!
Staffel 3 hat mir das Projekt echt schwer gemacht, vor allem, weil bei mir nicht vorgesehen war, dass Sherlocks Eltern noch leben. Es hat da zwar im Audiokommentar zu ASiB diese Bemerkung über Weihnachtskarten gegeben, aber das habe ich nicht so ernst genommen…
Ich habe also Anfang 2014 so einiges ändern und auch ein bisschen tricksen müssen und im Lichte von S 3 scheint es bei manchen meiner eigenen Geschichten jetzt vielleicht schwer vorstellbar, dass sie so passiert sein könnten, aber das ist ja nicht verwunderlich. Wenn euch etwas seltsam vorkommt, könnt ihr mich ja fragen.
Laut Blog treffen John und Sherlock 2011 aufeinander, den Filmen nach, muss es aber 2010 gewesen sein. Als ich anfing zu schreiben, waren mir die chronologischen Unstimmigkeiten noch nicht bewusst, also bin ich dem Blog gefolgt (inzwischen ist es ja noch schlimmer geworden) und ich habe auch nicht so richtig gemerkt, dass man durch den Abgleich von Blog, The Science of Deduction, Molly Hoopers Tagebuch und Connie Princes Trauerforum, doch etwas genauer ermitteln kann, wann Anonymous die 2. und 3. Hidden Message geschickt haben muss, aber das habe ich später nicht mehr korrigiert, sorry.
Wie John ringe auch ich anfangs ein wenig mit der Form, aber ich denke, gerade deshalb ist es okay so. Zuerst dachte ich, es wäre zu langweilig, auch die Filme zu schildern, deshalb – und auch, weil dieser erste Fall für John keine Verschnaufpause zulässt – kommt ASiP nur indirekt nachträglich reflektiert vor, aber dann merkte ich, dass meine Leserinnen sich wünschen, dass ich auch die Filme beschreibe – und anders wäre es dann auch gar nicht gegangen, da die missing Scenes sonst so in der Luft gehangen hätten…
Johns Waffe war bei mir Anfangs ein Browning, ich habe das später harmonisiert, aber das werdet ihr dann ja sehen.
Weitere Erklärungen dann gegebenenfalls später.
Gute Unterhaltung!
Eure
P.S.
...und nein, ich bin leider keine Ärztin – und Soldatin erst recht nicht, aber ich versuche, es einigermaßen realistisch zu machen...
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Prolog I - nothing happens to me
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Der persönliche Blog von Dr. John H. Watson
14. Dezember
Nichts
nichts
0 Kommentare
Das ist albern. Das ist mehr als albern! Hier sitze ich in einem Zimmer, das an Trostlosigkeit und Schäbigkeit kaum zu überbieten ist und in dem das schmale Bett direkt vor dem Heizkörper(!) steht, was total schwachsinnig ist! Ich sollte das Bett verschieben, aber ich wohne möbliert und es soll alles an seinem Platz bleiben, damit der Teppichboden keine Dellen bekommt...! Auch Nägel in die Wand schlagen ist verboten.
Okay, ich gebe zu, wahrscheinlich würde mir auch einfach der Antrieb fehlen, das Bett umzustellen.
Außerdem kann ich mir das Zimmer sowieso nicht wirklich leisten…
Ja, natürlich ist es eine große Verbesserung gegen die Baracken, gegen das Militärhospital – zumindest sollte mir das so vorkommen. Aber irgendwie tut es das nicht. Es fühlt sich an wie eine Endstation. Aber der Bestimmungsort heißt nicht Heimat, er heißt auch nicht Neuanfang. - Ein Theaterstück kommt mir in den Sinn…ein Mann, zwei Frauen – eine davon übrigens lesbisch, wie mir einfällt – in einem Raum eingesperrt, welcher die Hölle darstellt. Sartre. Richtig. Huis clos. Geschlossene Gesellschaft.
Es fühlt sich an wie ein gottverdammtes, allerletztes Wartezimmer…
Stopp, Watson! Das ist nicht der Zeitpunkt für Selbstmitleid!
Natürlich weiß ich, was das Grundproblem ist – Ich meine, abgesehen von meiner Verwundung und dem seelischen Trauma selber – das Problem hinter dem Problem: Ich habe ein Helfersyndrom. Aber da ich nun niemandem mehr helfen kann – nicht mal mehr mir selbst, greift mein Helfersyndrom gewissermaßen ins Leere.
So einfach ist das.
Dafür brauche ich wirklich keine Analyse.
15. Dezember
Sinnlos
Ich erlebe nichts.
Ich erlebe wirklich nichts. Jedenfalls nichts, womit ich hausieren gehen würde.
Grübeln. Einkaufen. Therapiesitzungen, in denen ich nicht weiß, was ich sagen soll. Stunden um Stunden, in denen ich im Dunkeln liege und zu schlafen versuche...
Und natürlich Albträume. Aber das sind ja keine Erlebnisse. Eher so etwas wie Überfälle meiner Erinnerung. Gar nicht zu reden von Flashbacks, Panikattacken. Die haben etwas von ...feindlichen Übernahmen, da bist du plötzlich regelrecht unter feindlicher Besatzung. Als würde ein Dämon deine Seele vergewaltigen.
Aber wer würde das schon zugeben?
Ich sicher nicht.
Ich soll endlich ernsthaft anfangen, alles aufzuschreiben, meinte Ella heute Nachmittag.
Sechs Tage war mein letzter, nichtssagender Eintrag her...
Umso überraschter war ich, jetzt einen Kommentar dazu vorzufinden:
1 Kommentar
Hi John. Ich hab dir 'ne mail geschrieben, bekam aber 'ne fehlermeldung. Wie sieht's aus? Ich bin ende des monats in L. Was hältst du von einem treffen?
Bill Murray 21. Dezember 17.46 Uhr
"Bill...", denke ich.
Bill konnte ich nicht ignorieren.
Ohne ihn wäre ich schließlich nicht mehr am Leben.
...aber wäre das nicht... –
scht...! Watson! So etwas denkt man nicht mal!
Ende des Monats! Das ist ja beinahe schon. Ich weiß nicht, ob ich das kann, ob ich das will… es wird doch nur wieder das eine Thema geben…
Moment!
Ich stehe wirklich total neben mir!
Verdammt!
Weihnachten!
Natürlich, Bill redet von Weihnachten!
Ich fühle mich, als hätte mich jemand aus dem Schlaf gerissen – und zwar mit einem Eimer Eiswasser über meine Brust.
Okay, das überzeugte mich – irgendwie..., dass ich wirklich eine Therapie brauchte.
Wer Weihnachten vergisst, ist definitiv nur noch ein halber Mensch.
Mein Zwerchfell und die Zwischenrippenmuskeln dehnten mit einem plötzlichen Ruck meine Lunge, so dass ich nach Luft schnappte. Mein Herz begann zu rasen, ich spürte kalten Schweiß ausbrechen und als ich meine Finger in mein Haar vergrub, konnte ich fühlen, dass sie zittern.
Scheiße! Weihnachten!
Meine Schwester Harry! Bill! – ...
Ich kann das nicht!
Die Fragen – die ganze Zeit graut mir schon vor den Fragen:
Wie geht es dir?
Was wirst du denn jetzt machen?
Die ertrage ich einfach noch nicht.
Klar, ich könnte lügen…aber ich weiß, ich wäre nicht überzeugend…
Aber auch noch zu Weihnachten!
Weihnachten, wo es das Mindeste ist, niemandem das Fest zu vermiesen, schon gar nicht den Menschen, die einem nahe stehen und von denen man weiß, dass sie auch ihre Probleme haben.
Ich vergrabe Mund und Nase in meinen Handflächen und zwinge mich ruhig zu atmen.
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Prolog II – Ein trügerischer, alter Freund
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3. Januar
Nein, ich werde auch heute meinen Laptop nicht mal aufmachen und ich werde schon gar nicht an diesem verdammten Blog arbeiten!
Soll ich es etwa auch noch schriftlich festhalten, dass ich es nur unter Aufbietung aller mentaler Kraftreserven geschafft habe, Harry und Bill wenigstens eine Mail zu schreiben – zwei Stunden für den kurzen, nichts sagenden Text, dann eine schlaflose Nacht und eine Stunde Korrektur Lesen – bevor ich sie endlich abschickte. Ich hoffte, dass sie einfach verstehen würden, dass ich Zeit brauchte.
Soll ich es etwa auch noch schriftlich festhalten, dass ich mit dem Gedanken gespielt habe, Weihnachten im Militärkrankenhaus zu verbringen – aber nicht die Kraft dazu gefunden habe?
Soll ich es etwa auch noch schriftlich festhalten, dass es nicht wirklich die höllischen Schmerzen waren, die mich über eine Woche in diesem gottverdammten Zimmer festhielten und mich dazu brachten, eine Diät aus Leitungswasser einzulegen?
Soll ich es etwa auch noch schriftlich festhalten, dass ich – obwohl ich es hatte kommen sehen und obwohl ich sogar Silikonpfropfen besorgt hatte, um mir die Ohren zu verstopfen – in der Silvesternacht kein Feuerwerk erlebte, sondern die Hölle von Afghanistan, die in meinem Innern auferstand? Dass ich mich nur mit äußerster Konzentration in dem Bewusstsein fokussieren konnte, dass dies ein Feuerwerk war und dieser nicht enden wollende Angriff kein realer Beschuss? Dass ich es eben noch so verhindern konnte, in einen Flashback wie in einen Abgrund hinein zu stürzen, änderte aber nichts an der Tatsache, dass ich nach dieser Panikattacke stundenlang vor Erschöpfung zitternd in der Dunkelheit lag und mich davor fürchtete, einzuschlafen und mir immer und immer wieder vor Augen halten musste, dass ich trotz der bedrohlichen, krampfartigen Schmerzen ganz bestimmt keinen Herzinfarkt hatte und meine Schulter wirklich längst verheilt war.
Erst gegen Mittag, fand ich die Kraft aufzustehen. Und das auch nur, weil ich mir sagte, dass ich gefährlich dehydriert war und etwas dagegen tun musste, so lange ich noch dazu in der Lage war.
Wie lange ich anschließend unter der heißen Dusche kauerte, nachdem ich das erste Zahnputzglas voll Wasser fast augenblicklich wieder erbrochen hatte, weiß ich nicht.
Ich sollte meinen Browning in Verwahrung geben. Das sollte ich definitiv.
Aber ich weiß genau, dass ich das nicht tun werde…
Nach der buchstäblich grauenhaften Silvesternacht waren meine Alpträume mit unverminderter Wucht zurückgekehrt.
Nicht dass sie vorher verschwunden gewesen wären – aber doch etwas abgeklungen.
Sylvester hatte definitiv jeden bisherigen Therapieerfolg vollständig zunichte gemacht.
Es musste etwas geschehen.
Ich saß vor meinem Laptop und starrte auf den weißen Bildschirm.
Horror vacui – die Angst vor der Leere.
Plötzlich spürte ich, wie sich meine Gesichtsmuskeln zu einem schrägen Grinsen verzerrten, weil mir ein verrückter Science-Fiction-Film in den Sinn kam und ich dachte, vielleicht sollte ich einfach in großen freundlichen gelben Buchstaben "DON'T PANIC"* auf den Bildschirm schreiben und ihn als Nachtlicht so stehen lassen.
Ich nahm diese Assoziation keineswegs als Symptom irgendeiner Besserung...
Meine linke Hand hörte und hörte nicht auf zu zittern.
Seit Tagen nicht, wie mir schien.
Körperlich hatte ich mich etwas von meinem Zusammenbruch erholt, aber meine Seele fühlte sich an, wie eine Ruine, in der es nicht einmal anständig spukte.
Wie kam ich jetzt auf diese wüste Metapher?
Dumm!
Wie denn wohl! Der neue Mieter nebenan hatte das Radio laufen und mein Unterbewusstsein hatte den Text hervorgekramt, ohne, dass ich es recht gemerkt hatte:
If you could read my mind, love
What a tale my thoughts could tell
Just like an old time movie
'Bout a ghost from a wishin' well
In a castle dark or a fortress strong
With chains upon my feet
You know that ghost is me
And I will never be set free
As long as I'm a ghost that you can't see...
Ich musste hier raus. Ich musste dringend einkaufen.
Und ich musste meine Miete bezahlen.
Mehr vor Anstrengung als vor Kälte zitternd, geriet mir der Ausflug zum Tesco um zwei Ecken beinahe schon zum Gewaltmarsch.
Demütigend, wie geschwächt ich war. Dabei fand ich das Hinken schon schlimm genug.
20. Januar
Wie?
Wie lösche ich das?
0 Kommentare
Soll ich es etwa auch noch schriftlich festhalten, wie unsagbar alt ich mich fühle, weil ich der Technik nicht hinterher komme? Nein, es ist ja auch nicht nur die Technik, es ist diese ganze befremdliche und geschmacklose Modeerscheinung, sich hier vor einer gesichtslosen Masse aus zahllosen Unbekannten bloßzustellen wie eine Hure, die im Amsterdamer Rotlichtviertel in einem Schaufenster sitzt.
Ich verstand Ella einfach nicht. Sie hatte doch auch so etwas wie ärztliche Schweigepflicht, aber von mir verlangte sie einen öffentlichen Seelenstriptease. Das war doch geradezu schizophren!
Ich sollte diesen Wahnsinn beenden und den Blog löschen.
Irgendwie fehlt mir sogar zur Umsetzung dieses Entschlusses die Energie…
21. Januar
Nun zufrieden?
Ja, Ella! Ich schreibe an meinem Blog.
Nachts um kurz nach eins habe ich das geschrieben. Nachdem ich drei Stunden vergeblich versucht hatte, einzuschlafen.
Und dann hatte ich lange Zeit noch da gesessen und apathisch auf den Bildschirm gestarrt.
Bis der Kommentar kam:
1 Kommentar
Wer ist Ella? Hast du dir endlich ne Frau geangelt? Erzähl schon! Xxx schick ein Foto!
Harry Watson 21 January 01:46
„Na super!" dachte ich genervt, "jetzt habe ich Harry noch eine weitere Möglichkeit eröffnet, mich zu kontaktieren – noch dazu eine, die ich nicht ignorieren kann, denn sobald ich einen neuen Eintrag poste, weiß sie, dass ich ihre Nachricht gesehen haben muss!"
„Eine strategische Meisterleistung, Captain! Jeder Rekrut hätte es besser gemacht!" – Kunststück! Die sind ja auch mit dem Netz aufgewachsen. Klar, nutze ich E-Mail und Suchdienste – aber meine Diss** habe ich damals noch in eine alte Remington*** gehackt, im „Adler-such-System", wie meine damalige Freundin das nannte „kreisen und niederstoßen". Sie hat sich dann erbarmt und alles nochmal auf dem PC geschrieben, die Gute.
Ich bin ohne Rechtschreibprogramm ziemlich aufgeschmissen – nicht, dass ich Legastheniker wäre, aber sobald ich versuche, mit mehr als nur meinen beiden Zeigefingern zu schreiben, habe ich sofort einen Text, bei dem schätzungsweise jeder fünfte Buchstabe fehlt…
! Moment
Harry ... 01: 46?
Sie ist um viertel vor zwei nachts im Netz? Was sollte ich davon halten? Ihre Orthografie ist in Ordnung – aber was heißt das schon...
Meine Kehle schnürte sich zu und ich spürte heiße Tränen aufsteigen.
Harry hat niemanden mehr außer mir. Sie hatte mich im Militärhospital besucht und ich war noch so traumatisiert gewesen, dass ich überhaupt nichts sagen konnte. Sie hatte mir ihr Handy überlassen und mich angefleht, mich zu melden.
Aber ich hatte es nicht getan. Und das obwohl ich wusste, dass sich Harry und ihre Freundin Clara – naja, ihre „Frau", wie es jetzt politisch korrekt heißen muss – Ende Oktober getrennt hatten, – wohl weil Harry einfach nicht die Finger von der Flasche lassen konnte.
Und jetzt saß ich hier und musste feststellen, dass ich nicht viel besser war, als der erste Mörder der Weltgeschichte.
Als Kain.****
Als Kain, der von Gott nach dem Verbleib seines Bruders gefragt wird und zur Antwort gibt: „Bin ich meines Bruders Hüter?"
Er hätte es sein sollen…
Aber ich kann nicht auf Harry aufpassen, dazu bin ich gerade selbst viel zu kaputt.
Ich hatte mir eingeredet, dass es für Harriet besser wäre, wenn sie mich nicht erleben muss, solange ich in dieser Verfassung bin. Aber zu wieviel Prozent war das die Wahrheit?
Hatte ich nicht einfach Angst davor, mich mit IHRER Verfassung auseinander setzen zu müssen? Würde ich es ertragen, nach all dem Kampf und den Schmerzen, noch ihre Selbstzerstörung mit anzusehen?
Ich nahm all meine Kraft zusammen und wählte die Nummer, die sie für mich gespeichert hatte – und bekam prompt eine Adrenalinausschüttung, als stünde ein Gefecht unmittelbar bevor. Stöhnend wechselte ich das Handy in die rechte Hand, weil meine linke wieder zu zittern begann.
„Hallo, hier ist Harriet Watson. Leider kann ich grade nicht 'rangehen. Hinterlassen Sie bitte eine Nachricht…"
Ein Keuchen entfuhr mir.
Kurz nur, dann hatte ich mich unter Kontrolle.
Was heißt schon Kontrolle! Es gelang mir für den Moment, mich über die Schwindel erregende Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung hinweg zusetzen und ich brachte mühsam hervor, was ich mir zurechtgelegt hatte.
„Hallo, Harry…äh…John hier... – aber das siehst du ja…also… Ich hoffe, es geht dir soweit gut – also – den Umständen entsprechend. Du magst den Ärztejargon nicht, ich weiß, sorry."
Gott, was rede ich da… ich habe längst den Faden verloren...
„Tut mir leid, ich – ich habe einfach noch Zeit für mich gebraucht… aber – ich melde mich bald wieder… Mach's gut!"
Hastig suchte ich nach dem richtigen Knopf, um das Gespräch zu beenden.
Danach saß ich noch vielleicht eine Stunde lang, wie in einer Starre.
Das Telefon rührte sich nicht.
Als ich später Milch holen ging, tat ich etwas unbeschreiblich Dummes:
Ich kaufte eine Flasche billigen Scotch.
Wirklich unglaublich bescheuert!
Wahnsinnig professionell, Doktor, damit können Sie in jeder AlAnon-Gruppe***** ein leuchtendes Beispiel geben! Brillant!
Da saß ich also nun mit dem „alten schottischen flüssigen Freund" (wie es wohl – so oder ähnlich – Jimmy Doohan als Chefingenieur Montgomery Scott, genannt Scotty in Star Trek das ein oder andere Mal gesagt hatte) und ertappte mich bei so etwas wie einem verzweifelten Kichern.
Die ölige, bernsteinfarbene Flüssigkeit schwappte sachte in meinem Zahnputzglas – denn natürlich hatte ich keinen Tumbler****** da – und der vertraute Geruch stieg mir in die Nase und reizte meine Schleimhäute, so wie eine Geliebte, die dir neckisch am Ohrläppchen knabbert. –
Da ist irre! Ich bilde jetzt schon richtig besoffene Metaphern, ehe ich auch nur einen Tropfen getrunken habe...
„Verdammt noch mal!" – füge ich eine weitere „farbige Metapher"******* hinzu.
Aus dieser Nummer gibt es nur noch einen halbwegs ehrenhaften Ausweg – und den werde ich gehen!
Man nennt ihn Exposition, oder kurz Expo. Diese Übung ist ein fester Bestandteil in der Suchttherapie – aber auch sinnvoll für Angehörige von Alkoholikern, die sich noch abgewöhnen müssen, sich co-alkoholisch zu verhalten:
Der alkoholkranke Patient kauft sich sein Lieblingsgetränk, nimmt es mit, öffnet es, schenkt sich ein, setzt sich dem verführerischen Duft aus – kostet schließlich sogar, aber ohne etwas unter zu schlucken und kippt dann – sachte und mit großer Aufmerksamkeit – alles in den Ausguss.
Genau das tue ich jetzt.
Und ich fühle mich nicht das kleinste Bisschen cleverer als zuvor.
25. Januar
Besäufnis
Habe mich gestern mit ein paar Rugby-Kumpels vom Blackheath getroffen. Sie sind immer noch dieselben. Sie machen sich eigentlich nichts auseinander. Niemand hat mich auf mein Hinken angesprochen.
3 Kommentare
Haben Sie deshalb Ihren Termin versäumt? Ich habe versucht, Sie anzurufen.
E Thompson 25 January 10:11
Habe das Handy im Pub vergessen. Sorry.
John Watson 25 January 17:49
Treffen wir uns bald?
Harry Watson 25 January 18:02
„Ich Idiot!" blaffte ich in die Stille meines Zimmers.
Jetzt hatte ich doch glatt meine Therapeutin auf die Idee gebracht, ich sei ein Alpha-Trinker********!
Großartig gemacht!
Und Harry konnte sich jetzt auch denken, dass ich heute wegen des Katers anscheinend meinen so anspruchslosen Tagesablauf völlig verpeilt hatte!
Anscheinend konnte ich zurzeit wirklich nicht klar denken! Ich hatte Harry ungewollt mitgeteilt, dass ich mich betrunken hatte, ich hatte sie wissen lassen, dass ich IHR Handy einfach vergessen hatte!
„Einen Blog schreiben! – Was für eine hanebüchene Idee!" hatte ich sofort gedacht. Einen Blog! Als Kriegstagebuch hätte so etwas vielleicht interessant und sinnvoll sein können. Aber das war auch gar nicht meine Welt. Ich hatte nie das Bedürfnis gehabt, mich einer breiten Öffentlichkeit über irgendetwas oder gar meine persönliche Vorlieben, Fotos oder ähnliches mitzuteilen. Als Twitter und Facebook aufkamen, flogen mir in Afghanistan die Geschosse um die Ohren, da hatte ich wirklich anderes im Kopf. Und welche Rolle Twitter in dieser Zeit bei politischen Umwälzungen spielte, bekam ich mehr am Rande mit. Meine Themen waren zu dieser Zeit deutlich weniger subtiler und kultureller Natur: Helfen und Überleben.
Einen Blog schreiben…! So ein Schrott! Ich hatte mit diesem Gedanken ja vollkommen richtig gelegen!
Aber da war der Soldat in mir, da war der Arzt, der nun Patient war – bzw. ja, verdammt noch mal! – Invalide! – "un-wert" – und es HASSTE – und der kooperieren wollte, guten Willen zeigen, seine Pflicht erfüllen, nichts unversucht lassen, weil sich das so gehörte... - :
Und deshalb saß ich hier und hatte einen gottverdammten Blog angefangen.
Mit meinem richtigen, vollständigen Namen, Kurzvita und Foto!
Wie konnte ich bloß so bescheuert sein?
Vielleicht sollte ich es machen, wie dieses Mädchen in Deutschland – ich glaube, sie hieß Tessa – die neulich auf ihrer Facebook-Seite versehentlich öffentlich zu ihrem 16. Geburtstag eingeladen und einen enormen Sachschaden durch die Massen der zusammenströmenden „Gäste" und weitere immense Unkosten für den Großeinsatz der Ordnungskräfte verursacht hatte!
Wirklich! Jetzt war Schluss mit dieser Inkontinenz an unausgegorenen Intimitäten und Peinlichkeiten!
Ich brauchte ein – eine…eine Kläranlage! Irgendeinen Filter, der das „Post-bare" vom Unaussprechlichen trennte. Oder um es deutlich zu sagen: Ja, ein Klärbecken, um all die Scheiße, die aus meinem Kopf und aus meiner Seele kam, aufzufangen, bevor sie sich pur ins weltweite Netz ergießen konnte.
Also öffnete ich ein neues Dokument und gab ihm kurzerhand den Namen „NichtsfürdenBlog".
* Klar meine ich Per Anhalter durch die Galaxis mit Martin Freeman
** Dissertation, Doktorarbeit
*** Für die Marke habe ich mich nur entschieden, weil es sowohl einen Waffenhersteller als auch einen Schreibmaschinen- bzw. mittlerweile Computerhersteller dieses Namens gibt.
**** Bibel: Genesis/1. Buch Mose Kap. 4.
***** Was AA sind, nämlich Anonyme Alkoholiker, hat jeder schon mal im Fernsehen gesehen. AlAnon Gruppen sind Selbsthilfegruppen für Angehörige von Alkoholkranken. Sie müssen vor allem lernen, sich nicht co-alkoholisch zu verhalten.
****** Musste doch einfach sein – Whiskeygläser heißen nun mal Tumbler
******* Kleine Anspielung auf Star Trek IV – die Bus-Szene
******* Konflikt-Trinker – gut, auf einen Gelegenheitstrinker könnte man auch schließen...
(Sorry, normalerweise sind Fußnoten eher die Ausnahme!)
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Prolog III – Nichts für den Blog
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Und dann passierte es!
Ich schrieb.
Ich schrieb stundenlang, ohne abzusetzen. Ich unterbrach es nur, wenn ich dringend schiffen musste, oder wenn ich irgendwann merkte, dass meine Kehle völlig ausgedörrt war, ich schrieb mir die letzten sechs, sieben Wochen von der Seele. Ich hatte so etwas von einem Workflow, meine Konzentration blieb ohne jedes Zeitgefühl im Alphazustand schweben, es war ein Rausch und ein gottverdammter Schreibdurchfall.
Wahrscheinlich einfach, weil ich die Hemmung los war, dass das noch irgendjemand außer mir lesen wird...
Vielleicht hätte Ella jetzt gesagt: Notieren Sie Ihre Alpträume,
die Momente der größten Hilflosigkeit, der Todesangst,
den Verlust von Kameraden etc. –
Vielleicht hätte sie gesagt, was ich da tue. sei eine Vermeidungsstrategie, dass ich mich hiermit aufhalte, um nicht an meine wirklich dringenden Themen ranzugehen...
Es war mir egal...!
Denn das war jetzt seit Monaten endlich mal wieder etwas, das funktionierte! Etwas, das mir gelang, etwas, das ich tun konnte!
Als ich fertig war, fühlte ich mich leer... – aber auf eine gute Weise:
Erleichtert, irgendwie aufgeräumt…einigermaßen ...entgiftet...
Es war mitten in der Nacht. Ich hinkte noch mal ins Bad, um ein halbes Glas Wasser zu trinken, dann ließ ich mich auf mein Bett fallen.
Ich spürte, wie ich ruhig wurde.
Endlich.
Wann war ich das letzte Mal so ruhig gewesen?
Keine Ahnung!
Ich erwachte so ausgeruht wie schon lange nicht mehr.
Ich ging einkaufen und merkte erst, als ich im Tesco stand, was los war.
Die Erkenntnis überfiel mich so plötzlich, dass ich mitten im Gang zwischen Bohnen und Fischkonserven bremste...
Es war die erste Nacht in diesem Jahr gewesen – ohne Alpträume!
Die Erste seit… – bah! - - ...keine Ahnung...!
Mir war klar, es würde nicht vorbei sein, aber es war ein Anfang, es war mehr als ich zu hoffen gewagt hatte!
Es kam mir sogar so vor, als ob die Schmerzen in meinem Bein etwas nachgelassen hätten.
Gut. Gut, ich wollte daran glauben. Ich wollte daran glauben, dass der Tiefpunkt überwunden war.
Zurück in meinem Apartment hatte ich gerade erst die Einkäufe abgestellt, als es energisch klopfte. Ich ahnte, wer das war.
"Ja?"
Natürlich. Mein Vermieter. War ja klar. Er hatte darauf gewartet, dass ich wieder kommen würde.
"Morgen." – "Guten Morgen", erwiderte ich.
"Also, Sie können sich denken, was ich will: Ich will endlich wissen, ob Sie verlängern wollen, oder ob Sie jetzt doch ausziehen. Ich habe eine Warteliste! Heute ist der 27. – ist Ihnen das klar!"
Ich bemühte mich, ihm beschwichtigend zuzunicken. "Ja, ich weiß, Sie haben ja recht, ich verstehe Sie ja, aber ich habe noch nichts gefunden. Ich bemühe mich wirklich. Versprochen!"
Es gelang mir, ihn abzuwimmeln.
Der 27. ...! Seit wann war ich so desorganisiert? –
Seit wann? Dumme Frage.
Wie sollte ich das schaffen, in dieser kurzen Zeit eine günstigere Bleibe zu finden?
Im Internet ging ich die Mietangebote durch. Die Preise waren wirklich entmutigend. Und zur Untermiete? Der Gedanke war schon unangenehm. Aber welche Wahl hatte ich? Ich rief einige Nummern an, machte ein paar Termine. Aber was wirklich Vielversprechendes war nicht dabei.
Der Tag verlief ergebnislos. Nach einem Nachmittag mit Fahrten in der überfüllten Tube, Fußmärschen durch kalten Regen, Irrwegen und fruchtlosen Gesprächen kehrte ich frustriert und erschöpft in mein Apartment zurück.
28. Januar
Die Nacht war ziemlich miserabel gewesen – als Ausgleich für die Vorangegangene...
Mein Bein hatte nach der ungewohnten Beanspruchung am Nachmittag wieder stärker geschmerzt, als in den letzten Wochen und es ließ einfach nicht nach.
Zusätzlich ärgerte es mich, dass ich gegen meine depressive Stimmung einfach nicht ankam.
Es sah mir nicht ähnlich, zu jammern, in Selbstmitleid zu versinken – ich verabscheue das!
Ein energisches Klopfen riss mich aus meinen trüben Gedanken.
Ich ahnte, wer das war und erlaubte mir ein genervtes Seufzen, ehe ich mich aufraffte und zur Tür hinkte.
"Ja?"
Natürlich. Mein Vermieter.
"Morgen." –
"Guten Morgen", erwiderte ich widerwillig – nichts war gut an diesem Morgen...
"Auch Noch ...!?"
"Wirklich, ich habe gestern den ganzen Tag nichts anderes gemacht, als nach einer alternativen Bleibe zu suchen. Ich gebe mir alle Mühe." Ein nervtötendes, ermüdendes Gespräch, das sich immerfort im Kreise drehte, folgte darauf, bis ich ihn endlich abwimmeln konnte – mit dem Argument, dass er mich von der Wohnungssuche abhielt.
Mit Selbstverachtung und grimmiger Disziplin zwang ich mich dazu, in diesen Tag zu starten.
Als ich gerade von einem weiteren abschlägigen Besichtigungstermin, zu dem ich gestern zu spät gewesen war, weil ich die Adresse nicht finden konnte, in mein Apartment zurück wollte, hörte ich:
„John? John, bist du das?"
Normalerweise gehe ich davon aus, dass ich NICHT gemeint bin, wenn ich irgendwo meinen Vornamen höre – alle Welt heißt John! Aber diese Stimme erkannte ich – das galt wirklich mir.
"Bill"
Bill Murray, der Krankenpfleger, der mein Leben gerettet hatte. Wir kannten einander schon unser halbes Leben lang.
Als ich mich umwandte, sah ich, dass er auf mich zueilte, er schüttelte meine Rechte mit beiden Händen, strahlte mich an und zog mich dann doch noch in eine kurze, kumpelhafte, aber dennoch wirklich herzliche Umarmung. – Er hatte alles Recht dazu – ich ließ es nicht nur geschehen, sondern drückte ihn ebenfalls ganz kurz an mich.
„John! Mensch! Du siehst schon viel besser aus! – Aber immer noch dünn wie eine Latte! Ich hab' mir schon Sorgen gemacht, weil du so kurz angebunden warst. Deine E-Mail...klang ...nicht gut..."
„Bill, entschuldige, es geht mir ganz gut, wirklich, danke…", antwortete ich etwas lahm. Und dann sagte ich – nicht nur, um von mir abzulenken, sondern weil mir das wirklich auffiel, "Du siehst ...gut aus! ...irgendetwas ist ...anders?" rätselte ich.
Bill grinste stolz: "Ich habe geheiratet!" platzte er heraus.
"Oh..., da gratuliere ich dir!"
"Du, ich hab' grad keine Zeit, aber ich melde mich ganz bald!"
Und ich dachte noch so: Ach, lass man…!
Wieder in meinem Apartment, sah ich zunächst in der Times online, was es Neues gab. Dann wechselte ich gedankenverloren zu meinem Blog.
28. Januar
Es hat noch einen von diesen Serienselbstmorden gegeben. Das ist irre. Es scheint überhaupt keine Verbindung zwischen den Verstorbenen zu geben. Das ergibt keinen Sinn.
Hab Bill Murray getroffen. Nein, nicht der Filmstar. Er war der Sanitäter, der mein Leben gerettet hat. Er hat geheiratet.
Glück haben wohl immer nur die anderen.
– Ich hielt inne...löschte den letzten Satz und schrieb stattdessen:
Was andere Leute so erleben!
– und speicherte...
– "Was andere Leute so erleben!" –
Auch nicht viel besser – vor allem, weil die Selbstmörder es ja nicht überlebt hatten. Blöd.
Erst hatte ich geschrieben:
"Glück haben wohl immer nur die anderen."
Aber damit hatte ich natürlich nur Bill gemeint ... oder unbewusst vielleicht doch auch die Selbstmörder? Wie oft war in den letzten Wochen dieser Gedanke einfach da gewesen: "Ich werde mir wirklich alle Mühe geben, aber wenn ich es gar nicht mehr aushalte, bleibt mir immer noch dieser Ausweg. Gott wird es verstehen – obwohl ich ihn damals angefleht hatte, mich am Leben zu lassen... "
Tjaaah... vielleicht hätte ich "leben" etwas besser präzisieren sollen...! dachte ich bitter.
"Glück haben immer nur die anderen." –
Gut dass ich das gleich wieder gelöscht hatte. Es war erbärmlich. Es klang neidisch. Es war absolut furchtbar.
Ich gönnte Bill sein Glück wirklich...
Schon wieder so ein mysteriöser Selbstmord.
Schräg. Unheimlich. Irre.
Serienselbstmorde, wie kann das sein? Gibt es irgendeinen kitschigen Roman oder Film, in dem sich jemand so umbringt? Etwas wie damals Goethes "Werther"? -
Das ergab aber auch keinen Sinn. Immer das gleiche Gift, immer an Orten, wo diese Menschen nichts verloren hatten. Und Verabredungen zum Selbstmord sehen auch anders aus, auch wenn man sich im Internet kennengelernt und abgesprochen hat.
Ich schob den Gedanken beiseite und wandte mich wieder meinem Wohnungsproblem zu. Es half ja alles nichts, ich musste den Suchradius erweitern! Ich konnte mich nicht recht damit abfinden, weiter in die Peripherie zu ziehen, aber was sollte ich machen...
Mein Blog meldete einen Kommentar. Aber ich ignorierte das. Wenn ich schon so weit weg vom Zentrum wohnen musste, wollte ich wenigstens eine gute Verkehrsanbindung, deshalb suchte ich zu allen in Frage kommenden Adressen die Entfernung zu den nächsten Stationen. Dann machte ich ein paar Termine, die alle irgendwo Richtung nord-nordwestlich von London lagen. Das sollte am Nachmittag zu schaffen sein.
Noch ein Alarm. Jetzt ließ ich mich doch ablenken und sah mir die Kommentare an.
Der erste war von Bill. Das hatte ich mir schon gedacht.
War großartig, dich zu treffen, Kamerad. Und du musst wirklich mal runter kommen, damit ich dir meine Mrs. Right vorstellen kann. Aber merk' dir das! Es ist meine, Casanova!
Bill Murray 28 January 11:46
"Oh, bitte, Bill!" stöhnte ich. Musste er das als Kommentar schreiben? Wieso schickte er keine Mail? – Doch, eigentlich wusste ich, warum. Er wollte mich aus der Reserve locken! Ich ging in die Mailbox und schickte ihm meine Telefonnummer.
Da fiel mein Blick auf den zweiten Kommentar:
Casanova?! Mein Bruder?!
Harry Watson 28 January 13:36
"Argh!" – Das Telefon klingelte. Mann war der schnell!
"Bill, hallo. Hör zu, bitte, schreib sowas nicht in den Blog! – ja klar, kann ich das löschen – " (ich muss unbedingt rauskriegen, wie das geht!)" – aber Harry hat es schon gesehen! Da ist es jetzt auch schon egal. Und ja, ich hatte eine ziemlich wilde Zeit – wer nicht! Aber ich habe nie jemandem sein Mädchen ausgespannt, das weißt du! – Vor allem ist es Ewigkeiten her... – Also für die Zukunft – ruf bitte einfach an. - Okay – aber jetzt habe ich Termine...bis dann."
Ich ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen und machte mich auf den Weg in der Hoffnung, dass es diesmal klappen würde. Die erste Wohnung war im 5. Stock – und das Haus ohne Aufzug. Ich sah sie mir gar nicht erst an. Wie sollte ich das bewältigen? Mit diesem Bein geriet jede einzelne Stufe zum Kraftakt! Auf dem Weg zum nächsten Termin, versuchte ich zu verdrängen, wie niederschmetternd der Anblick des Treppenhauses auf mich gewirkt hatte. Ich versuchte, mich auf meine Wut zu konzentrieren, damit mich die aufkommende Verzweiflung aus ihren Klauen ließ. Ich war nicht so recht erfolgreich damit.
Mein Telefon klingelte. Bill.
"Bill, hallo ..."
"Was machst du?"
"Mich zum Narren! Die erste Wohnung war im fünften Stock – kein Aufzug!"
"Und das stand nicht in der Anzeige?" Was für eine Frage! Ich seufzte nur. "Das ist ja wirklich fies." Ich konnte hören, dass er grinste! "Hör' mal, ich habe grade mit Kate telefoniert, komm doch heute Abend zu uns zum Essen, das lenkt dich etwas von dem ganzen Stress ab. Vielleicht finden wir sogar eine Lösung. – Komm, du kannst mir das nicht abschlagen, Kumpel, du schuldest mir noch was." Wo er recht hatte... "Also, schön!" gebe ich nach... "Dann um sieben! Ich sims' dir die Adresse! – Lass dich nicht unterkriegen!" –
Ich rief eine Notiz auf – neuerdings notierte ich mir den Einkaufszettel im Handy, das verschaffte mir zusätzliche Übung mit dem Gerät. Die Liste brauchte ein update:
Blumen für Bills „Mrs Right", eine Flasche puren Cranberrysaft für Bill.
Die nächste Wohnung war vielversprechend – aber dann stellte sich heraus, dass sie mit einer Art Hausmeisterjob verbunden war! Klar! Ich und Leitern raufklettern und in mehr als 12 Fuß Höhe im Hausflur Deckenlampen putzen und Birnen wechseln – was sonst! Stinksauer verließ ich den Ort. Ich hatte schon keine Hoffnung mehr, als ich auf das dritte Haus zuging, aber ich konnte nicht sicher sein, wenn ich es nicht versuchte.
Es stellte sich heraus, dass die Wohnung im Souterrain lag – feucht, schimmlig und düster...
Das reichte mir aber jetzt wirklich für heute. Ich fuhr zurück nach London, kaufte unterwegs noch ein und kehrte in mein Apartment zurück – und hätte dann gerne endlich irgendetwas zerschlagen...
Bill hatte schon wieder einen Kommentar geschrieben!
"Aber Ja! Der hat Sachen angestellt bevor wir nach A. gegangen sind. Schlimmer Bursche!
Bill Murray 28 January 17:56"
Mit einem lauten "Rumms" landete meine Faust auf dem Tisch. "Bill!" brüllte ich, als schon der nächste Kommentar kam.
"HAHAHAHAHAHAHA!
Harry Watson 28. Januar 18.12 Uhr"
Knurrend klappte ich den Laptop zu. Ich musste mich beeilen, wenn ich nicht zu spät kommen wollte.
Glück haben wohl immer nur die anderen.
Da war er wieder, der Gedanke von heute Morgen.
Doch, ich gönnte Bill seine Kate, wirklich...
Aber es hatte mich mit voller Wucht getroffen, die beiden zu sehen, ihn und seine "Mrs Right". Mir wurde schlagartig klar, dass ich als armer Krüppel und seelisches Wrack die Gelegenheit, die Frau fürs Leben zu finden, mit großer Wahrscheinlichkeit bereits verpasst hatte. Eine Attacke aus dieser Richtung war wie ein Überraschungsangriff, dem ich nichts entgegen zu setzen hatte. Den Nachmittag über hatte ich begonnen, mich sogar ein wenig auf die Einladung zu freuen. Aber dann verlief der Abend für mich derartig quälend – schlimmer noch, als ich es mir in meiner pessimistischsten Stimmung hätte ausmalen können: Die gefürchteten Fragen: „Wie geht's dir?", „Was wirst du jetzt machen?", die gut gemeinten Tipps – dabei immer diese beiden vor Augen mit ihren verliebten Blicken und den kleinen Berührungen...! Der Klumpen in meinem Solarplexus wurde immer größer und härter. Und das alles ohne Alkohol, denn Bill und seine Frau Kate tranken unter der Woche nie und außerdem hatte Bill gerade Frühschicht. Natürlich wusste Bill auch – zumindest so ungefähr – welche Medikamente ich gerade nahm...und von dem Besäufnis, über das ich bescheuerterweise gepostet hatte... Ich hatte kaum einen Bissen herunter gebracht und schließlich war mein Magen wie zugeschnürt gewesen. Und dann zeigte Bill auch noch einen Zusammenschnitt des Hochzeitsvideos, das er mit dem Laptop abspielte und mit einem Beamer an die Wand warf...
Endlich ist es vorbei – dafür würde nun das Gespräch wieder aufgenommen werden – schwer zu sagen, was schlimmer ist.
"John - ! Du siehst... – furchtbar aus!" ruft Bill besorgt, als er das Licht wieder angemacht hat. "Mensch, du hättest doch was sagen können! Ich hätte nicht gedacht, dass es noch so anstrengend für dich ist...!"
Und dann sagt Kate: „Ich habe das Gästezimmer vorbereitet. Für den Fall, dass es spät wird – und wir dachten, wenn du magst, könntest du übergangsweise auch bei uns wohnen. Noch... – brauchen wir kein Kinderzimmer..."
Alles. Nur. Das. Nicht!
Ich stehe auf. Zu schnell. Saublöd! – Alles schwankt. Mein Gesichtsfeld wird grau. Ich ringe nach Atem und halte mich am Türrahmen fest.
Idiotisch.
Ich sollte wissen, was ein orthostatischer Kreislaufkollaps ist...
"Danke, nein, ich... das ist lieb, aber ich denke, es ist besser, ich gehe jetzt einfach in mein Apartment."
Okay, jetzt sind sie gekränkt.
Aber auch Bill hat einen Hippokratischen Eid abgelegt und er besteht darauf: "Aber sicher nicht allein!"
Später in der Tube schiebt er mich auf den einzigen freien Platz im Abteil und bleibt neben mir stehen, – wahrscheinlich befürchtet er, ich könne in den Mittelgang kippen.
Irgendwann sagt Bill heftig: "Gute Frau, sehen Sie denn nicht, dass der Mann KRANK ist!"
Direkt vor mir nehme ich geschwollene Frauenbeine wahr – ...mit gewaltigen Varizen, die unter ihren Strümpfen mäandern. ... Den Anfang der Unterhaltung habe ich wohl nicht mitbekommen.
Ich blicke auf, – eine Lady steht vor mir und schaut mich gebieterisch an.
"DU bleibst sitzen, John." Ich spüre Bills Hand, die meine linke Schulter drückt – und kann nicht verhindern, dass ich mich reflexartig dort verkrampfe...
Bill besinnt sich. Er zieht die Hand weg, weil ihm natürlich eingefallen ist, dass ich dort verwundet wurde.
Ich stemme mich mit meiner Krücke aus dem Sitz, schaffe es immerhin, dabei nicht zu ächzen und mache stumm Platz.
Bill knurrt ein bisschen.
"Tut mir leid, Bill", bitte ich ihn hilflos – Meine Stimme klingt matt.
Bill sagt nichts.
Als meine Station kommt, begleitet er mich bis zu meinem Apartment.
"Wirst du wirklich zurechtkommen? Ich kann auch noch ein bisschen bleiben,... bis du dich besser fühlst... "
"Nein, Bill, bitte, wirklich nicht." Der Tonfall war eine Spur zu heftig, sorry...
Leider bin ich zittrig und habe Mühe, das Schlüsselloch zu treffen. Bill nimmt mir schließlich wortlos den Schlüssel aus der Hand, schließt mit raschen, koordinierten Bewegungen auf und schiebt mich in das Apartment.
"Hübsch hässlich hast du's hier", kann er sich nicht verkneifen...
Er wartet, bis ich auf dem Bett sitze, beginnt dann ohne Umschweife, Tee zu kochen; mustert prüfend meine Medikamente auf dem Tisch. Schließlich reicht er mir meinen Becher mit dem Äskulapwappen und bleibt auf der Tischplatte schräg gegenüber auf der anderen Seite des Raumes an der Kante zum Kamin hin hocken mit dem einzigen weiteren Kaffeebecher, dem Verbeulten aus emailliertem Blech.
Wir trinken.
Das Schweigen zwischen uns wird nicht erträglicher. Mit jeder Sekunde wird es nur noch schwerer, es zu brechen...
"Bill... tut mir Leid. ...und danke..."
(Mir kommt wieder in den Sinn, dass ich mich vorhin bei den Beiden für den "Abend" bedankt habe. Nur für den "Abend" – ich brachte es einfach nicht fertig, diesen "Abend" „schön" oder "nett" zu nennen...)
Es dauert noch einen Moment, dann gibt sich Bill einen Ruck. Wieder zögerlich schaut er sich um, greift nach dem Stuhl – lässt ihn doch wieder los und setzt sich mit 10,12 inches Abstand zu mir ebenfalls auf das Bett.
"Nein, MIR tut es leid", sagt er zu meiner Überraschung.
"Mir tut es leid, dass du noch so kaputt bist."
Ich schließe die Augen und denke: Keinen Schritt weiter!
"Schon gut." Meine Stimme ist nur ein Flüstern.
Ich muss das jetzt irgendwie beenden.
"Schon gut, Bill, ...wird schon wieder. Mach dir keine Gedanken... - Danke, dass du mitgekommen bist. Aber ich komme jetzt wirklich alleine klar. Geh heim zu deiner Frau – und pass auf dich auf. Schick 'ne sms, wenn du zuhause bist."
Ich lausche unzufrieden meiner Rausschmissargumentationskette hinterher.
Nicht so gut...
"Mach' ich. Gute Besserung."
Ich entlasse ihn schweigend und fühle mich schuldig.
Mir wurde jetzt erst so richtig bewusst, dass ich bei dem Versuch, mir einen Start in ein neues Leben vorzustellen, irgendwie völlig versagte.
Warum?
Warum war es so mühsam?
Ich hatte das Gefühl, vor dem Nichts zu stehen. Was das Geld anging, war es wie man so sagt, zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel – ein dummer Spruch, denn auch Sterben ist verdammt teuer heut' zu Tage… – Was sollte ich mit mir anfangen? Praktizieren? Hausbesuche machen mit Schmerzen und Krücke? "Arzt, heile dich selbst!" Und überhaupt, würde ich dazu je wieder die seelische, die nervliche Kraft haben?
Ich ging zum Schreibtisch, fuhr den Laptop hoch, und trank den Rest Tee aus.
Auf der Seite der BBC1 ging ich die Nachrichten durch.
Das konnte mein Interesse nicht wecken. Nichts Neues von den Serienselbstmorden...
Eine kurze aufsteigende Tonfolge kündigte eine SMS an.
Bin zuhause. K grüßt dich. schlaf gut. BM 22.23
Du auch, danke! JW 22.24
Ich versuchte, mich mit online-Poker abzulenken – natürlich nur mit Spielgeld*. Aber ich hätte es vorher wissen können, dass ich in dieser Stimmung einen massiven Downswing haben würde. Der Italiener an meinem Tisch spielte wie ein Irrer und ging fast in jeder Runde preflop all in. Es war nervtötend!
Ich wechselte schließlich von No limit Holdem zu No limit Omaha Hi/Lo - ...die Spieler waren zumindest etwas manierlicher drauf. Aber ich verlor, ganz egal welchen Move ich machte, ob ich eine tight-aggressive Phase einlegte, oder nur limpte, es ging fast jedes Mal schief. Dreimal hatte ich zwei Asse und dazu einmal zwei mittlere suited Connectors, aber auch diese viel versprechenden Starthände wurden gecrackt. Auch die Laydowns stellten sich viel zu oft als Fehlentscheidung heraus. Ich war on tilt.
Dann fingen die beiden Rumänen am Tisch an zu chatten. Mein Nickname fiel, den Rest verstand ich nicht.
Frustriert hackte ich ins Eingabefeld:
Nur Englisch an diesem Tisch!
Dummkopf
Dummkopf
kam es zurück.
War ja klar...
Ich habe genug.
Ohne mich abzumelden, klicke ich Pokerstars weg.
* Wenn ihr kein Poker könnt – macht nichts – ich hatte das ursprünglich geschrieben, weil ich vorher die Chronologie falsch im Kopf hatte, und John sollte nur noch bis nach Mitternacht die Zeit totschlagen!
Irgendwann will ich Poker nochmal einbauen, da ist es natürlicher, wenn es schon mal vorgekommen ist.
kleiner Pokerglossar:
All in – Alles setzen, womit man sich an den Tisch gesetzt hat. (Je nach Regeln, kann man danach Chips nachkaufen – oder auch schon während des Spiel, ehe man pleite ist – aber man darf dabei in keiner „Hand" sein.)
Ass – Höchster Kartenwert, aber auch als 1 verwendbar: As,2,3,4,5 ist eine Straight (Straße)
Bet – setzen, wetten
Blinds – Pflichteinsätze, letzte Positionen: Zwei Spieler zahlen jeweils blind den halben, bzw ganzen Mindesteinsatz, dann entscheiden die anderen, ob sie mitziehen usw.
Board – die Gemeinschaftskarten, die alle mit ihren Starthänden/Hole Cards kombinieren.
Button – Merkstein, der die Runde macht, um zu markieren, bei wem die Runde beginnt (und wer dealt, falls es keinen Profi-Dealer gibt), letzte Position vor den Blinds
Callen – bei einer Erhöhung mitgehen
Check – mitgehen, wenn nicht erhöht wurde
Club – Kreuz
Connectors – verbundene Karten, also zB Bube, Dame als Starthand – macht eine Straße etwas wahrscheinlicher
Cut off – vorletzte Position in einer Runde
Diamond - Karo
Farbe – die 4 Symbole
Flop – die ersten 3 Karten des Board – werden zusammen aufgedeckt
Flush – alle fünf Karten in einer Farbe, die höchste entscheidet, wenn es mehrere Flushs gibt
Fold – aussteigen (aus der aktuellen Hand!)
Fullhouse – Drilling und Paar, der Wert des Drillings zählt mehr
Hand – die optimale Fünferkombination, die sich für einen Spieler aus seines Starthand und den
Gemeinschaftskarten herausholen lässt – bzw, die Runde, in der man diese Kombination aufbaut/hat.
Heads Up – Poker zu zweit
Hijack – "Entführen" drittletzte Position in der Runde
Information bet – kleine Erhöhung, nur um zu sehen, ob jemand von den anderen überhaupt meint, er hätte ein gutes Blatt...kann aber nach hinten losgehen – oder auch ein Bluff sein...
Jack - Käfer
Laydown – Entscheidung, die Hand abzulegen...nicht einfach, wenn man vorher schon Geld gesetzt hat...
Mainpot – Hauptgewinn. Dann gibt es auch einen Sidepot: Passiert, wenn bis zuletzt mindestens drei Spieler in einer Hand dabei bleiben und mindestens einer davon nicht mehr den kompletten Einsatz aufbringen kann. Dieser kleine Stack bekommt nämlich von den anderen nicht alles, falls er gewinnen sollte, sondern nur so viel, wie er selbst noch setzen konnte.
On tilt – stinksauer wegen einer Pechsträhne, der Spieler wird dann unvernünftig...
Overcard – Karte auf dem Board, die höher ist als meine.
Passen – Folden, aussteigen (aus der Runde)
Pocket... – Wenn jemand als Starthand ein Paar hat, redet man zB von
Pocket-Kings usw.
Pot – aktuell auf dem Spiel stehender Gesamtbetrag
Rainbow – Flop in drei Farben
Raise – Einsatz erhöhen
River – 5. und letzte Board-Karte
Sidepot – siehe Mainpot
Splitpot – bei gleichwertigen „Händen" wird der Pot geteilt
Stack – Das Vermögen, das man innerhalb des Spiels hat
Starthand – beim No Limit Texas Holdem, die zwei Karten, die der Spieler zu Beginn jeder Hand bekommt
Straight/Straße – Ass,2,3,4,5 (kleinste) oder 10, Jack, Queen, King, Ace (größte) – und alles dazwischen wie 6,7,8,9,10. Man kann aber nicht über das Ass hinwegzählen! (also Dame, König, Ass, 1, 2 geht nicht)
Suited – zueinander passend, in einer Farbe
Tell – unfreiwillige, meist unbewusste, nervöse Geste/Unart, die den Spieler verrät wenn er blufft, oder ein gutes Blatt zu verbergen sucht
tight – beherrscht. Jemand, der sich im Spiel sehr zügelt spielt so
Turn - 4. Board-Karte
'under the gun' – 1. Position, in der ein Spieler entscheidet, ob er mitgeht, erhöht oder aussteigt
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Afghanistan oder Irak?
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„Ja, der ist immer so", hatte Stamford schmunzelnd gesagt. Ich muss sehr verblüfft und irritiert ausgesehen haben. Ich versuchte das Geschehene irgendwie in meinem Gehirn unter zu bringen.
„Was – was war das da – grade mit der – Reitgerte?" –
„Oh, ich bin sicher, er hat damit eine Leiche bearbeitet…", erklärte Mike – immer noch mit diesem Dauerlächeln.
„W-Was!" stammelte ich, dann – meldete sich mein Gehirn zurück und erinnerte mich an eine Pipette, ein Mikroskop... – und an das, was mir Mike schon erzählt hatte.
„ – zu forensischen – Tests?" brachte ich hervor.
Stamford lachte nur: „Ich denke nicht, dass er nekrophil ist oder so!" Mike kicherte.
„Also Mediziner?"
"Soweit ich weiß, ist er graduierter Chemiker. Er ist gut in Anatomie und so. Aber soweit ich weiß, hat er nie ordentlich Medizin studiert. Er ist überhaupt ziemlich planlos und exzentrisch in seinen Studien, aber er besitzt in verschiedenen Wissenschaftszweigen eine Menge ungewöhnlicher Kenntnisse, um die ihn mancher Professor beneiden könnte."
"Hast du ihn nie danach gefragt, was er eigentlich macht?"
"Nein – er ist kein Mensch, der sich leicht ausfragen lässt; aber er kann bisweilen sehr mitteilsam sein, wenn er in der entsprechenden Laune ist. – Achja, und er ist so was wie eine Kriminalchronik auf Beinen!"
"Wie zum Teufel konnte er wissen, dass ich in Afghanistan gedient habe?"
Mike lachte verschwörerisch. "Es haben sich schon viele gefragt, wie Sherlock Holmes gewisse Dinge herausfindet. Er besitzt eben eine besondere Gabe."
"Aha, es steckt ein Trick dahinter", freute ich mich, "das ist ja hochinteressant. Ich danke dir wirklich für diese neue Bekanntschaft. Das beste Studium für den Menschen bleibt ja doch immer der Mensch."
"Du musst ihn studieren", entgegnete Stamford. "Du wirst feststellen, er ist eine harte Nuss. Ich wette darauf, er kennt dich bald besser als du ihn."
Wir verabschiedeten uns und ich fuhr mit der Tube zurück, noch halb benebelt von diesem Zusammentreffen. Mike war unsicher gewesen, mir IHN als WG-Genossen vorzuschlagen. Aber weil er uns beide innerhalb weniger Stunden hatte sagen hören, dass uns wohl kaum jemand als Mitbewohner würde haben wollen, hatte er sich dazu durchgerungen. Aber er hatte mich gewarnt: "Du darfst mir nicht die Schuld geben, wenn du nicht mit ihm klar kommst, ich möchte dir weder zu- noch abraten."
"Wenn wir nicht miteinander auskommen, sollte es kein Problem sein, die Zweckgemeinschaft wieder aufzulösen. Kommt es mir nur so vor, oder willst du deine Hände in Unschuld waschen? Da ist doch noch etwas! Was stimmt nicht mit diesem Kerl? Heraus damit!"
"Es ist nicht leicht, das Unaussprechliche auszusprechen; er ist nur nach meinem Geschmack seiner Wissenschaft allzu sehr ergeben. – Das grenzt schon an Kaltblütigkeit. Ich halte es nicht für undenkbar, dass er einem guten Freund eine Prise des neuesten vegetabilischen Alkaloids eingeben würde – nicht etwa aus Bosheit, nein, aus Forschungsdang – um die Wirkung genau zu beobachten. Ebenso bereitwillig würde er freilich die Probe an sich selber machen, das muss ich gerechterweise zugeben. (*) Überhaupt ist Klarheit und Genauigkeit des Wissens seine größte Passion; aber zu welchem Zweck er alle seine Studien betreibt, weiß der Himmel..."
Mike hatte mich neugierig gemacht und meine Erwartungen waren weit überboten worden. In meinem Apartment setzte ich mich auf das Bett. Ich versuchte meine Gedanken zu sortieren – irgendwie hatte mich dieses Zusammentreffen mental grade wie ein Doppeldeckerbus überrollt… – Ach ja…wozu hatte er sich eigentlich mein Handy geborgt?
Warum er lieber simste als zu telefonieren, glaubte ich verstanden zu haben: Da konnte man kurz angebunden sein, es sparte Zeit, lästige Höflichkeitsfloskeln entfielen.
Ich hatte mich zu der Nachricht durchgeklickt: „Wenn Bruder grüne Leiter hat, Bruder verhaften. SH"
Okay, jetzt bin ich glaube ich wirklich von ihm angefixt! ging es mir durch den Kopf. Und dann konnte ich nicht anders, ich musste Sherlock Holmes einfach googlen.
Ja, er hatte eine Seite! Unfähig, alles zu erfassen, weil ich mich dort viel zu hastig umsah, überraschte mich zunächst am meisten, dass ich tatsächlich schon die Antwort darauf bekam, was es mit der grünen Leiter auf sich hatte.
Ein Mann war gestorben, weil der Mörder wusste, dass sein Opfer abergläubisch war und nie unter einer Leiter durchlaufen würde?
W-was!?...
Im Forum fand ich folgendes:
SH
FALSCH! FALSCH! FALSCH! FALSCH!
G Lestrade
DANN HELFEN SIE UNS! DA STERBEN MENSCHEN, SHERLOCK!
Lestrade? Den Namen hatte ich doch gelesen! Ich fügte Holmes Seite zu meinen Favoriten hinzu und klickte die Online-news an… genau, wusste ich's doch: DI Gregory Lestrade! Er ermittelte in diesen Serienselbstmorden…
Ich kehrte zu der Seite von Holmes zurück. Irgendwann schwirrte mir der Kopf von all dem, was ich da fand. Ich brauchte eine Pause…
„1. Ich beobachte alles.
2. Aus meinen Beobachtungen kann ich alles folgern
3. Wenn ich das Unmögliche ausgeschlossen habe, was auch immer übrig bleibt, so verrückt es auch scheinen mag, muss die Wahrheit sein. …"
Aber mein Gehirn machte keine Pause. Es zappte bloß in einen anderen Kanal. Aber da lief auch Sherlock Holmes:
Als ich hinter Mike ins Labor humpelte, sah ich einen Typen – unpassender Weise im schwarzen, schmal geschnittenen Anzug, aber ohne Schlips – blass mit dunklen Locken. Er sah nur kurz auf und fragte Mike übergangslos, ob er sein Handy borgen könne. „Was spricht gegen das Festnetz?" fragte Mike „Ziehe SMS vor." Als Mike feststellte, dass er sein Handy nicht griffbereit hatte, bot ich meines, oder besser gesagt, Harrys an. Er dankte mir – ein wenig …überrascht, erfreut, aber dennoch sehr kühl und kam vom anderen Ende des langen Tisches zu mir herüber und ich konnte sehen, dass er hoch gewachsenen und schmal gebaut war. Um die leichten elastischen Schritte beneidete ich ihn. Er nahm mein Handy und mir fiel auf, dass er keine Latexhandschuhe trug, ein Signal ertönte, als er das Menü bediente – und dann hörte ich „Afghanistan oder Irak?" Ich war irritiert, wollte nachfragen – aber da kam eine dunkelblonde Labormaus herein und brachte ihm einen Becher Kaffee. Er bedankte sich knapp und fragte, was aus ihrem Lippenstift geworden sei und auf ihre verlegene Antwort widersprach er ihr, dass das eine große Verbesserung gewesen sei, ihr Mund sei zu klein… – Was für ein Charmebolzen! Mit nach unten gezogenen Mundwinkeln trollte sich die schüchterne Maus, als sei sie ein derartiges Verhalten schon gewohnt. Armes Mädchen...
Er ging zurück an das andere Ende des Tisches. Dann überfiel er mich plötzlich mit der Frage, was ich von Geige hielte und dass er manchmal tagelang nicht rede, ob mich das stören würde? Und dann sah er mich an und meinte, Mitglieder einer Wohngemeinschaft sollten das Schlimmste voneinander wissen. Zum Ende der Phrase, die irgendwie klang, als hätte er sie in einem Ratgeber gelesen, folgte ein künstliches – aber irgendwie – nichtsdestoweniger – reizendes Lächeln.
Ich sah Mike an und stellte fest, dass er uns wohl schon die ganze Zeit schmunzelnd beobachtet hatte. Nein, er hatte ihm nicht von mir erzählt. Tja, wann denn auch…
Es war Wahnsinn! Ab da kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er überging ohne jede Entschuldigung meine Frage, woher er wissen könne, dass ich vor kurzem noch im Einsatz gewesen sei, und nannte mir den Besichtigungstermin – wollte er nicht auch meine Gewohnheiten wissen? Indem er sich in einen langen anthrazitfarbenen Mantel schwang und einen Schal umlegte, leierte er beiläufig und monoton praktisch meine und Harrys Lebensgeschichte herunter, ungerührt erwähnte er, dass Harry trank und 'seine' Frau verlassen hatte und all das kam von seinen geschwungenen Lippen, ohne dass er seine Augen von mir nahm… Mir wurde klar, dass ich ihn endlos angestarrt haben musste, ihn und diese elektrisierenden, hellblaugrauen Augen…
Ich schrieb in meinen Blog, versuchte Ihn mit meinen ungeübten Worten zu skizzieren. Es war schwierig…nein, es war kaum zu bewältigen! Ich begann zu verstehen, was Mike mit dem Unaussprechlichen gemeint hatte!
29. Januar
Ein seltsames Zusammentreffen
Ich weiß nicht, ob ich darüber schreiben soll. Ich bin überhaupt kein Schreiberling. Ella meinte, einen Blog zu führen, könnte helfen – aber es half nicht; weil ich sowieso nichts mehr erlebe – aber heute hab ich! Ich habe was erlebt.
Ich ging durch den Park und traf Mike Stamford, er war ein Kommilitone von mir. Wir holten uns einen Kaffee und ich erwähnte, dass ich umziehen müsste. Er sagte, er kenne jemanden in der gleichen Situation. So gingen wir ins Bart's und er stellte uns einander vor.
Das heißt: Nein, tat er nicht. Er hat uns nicht vorgestellt. Der Mann wusste, wer ich war. Irgendwie wusste er alles über mich. Er wusste, dass ich in Afghanistan gedient hatte und als Invalide zurückgekehrt war. Er sagte, mein Hinken sei psychosomatisch, und er bekam zwar nicht alles heraus, aber er wusste sogar, warum ich gekommen war, obwohl Mike es ihm nicht erzählt hatte.
Ich habe ihn gegooglet und hier ist ein Link zu seiner Website: thescienceofdeduction-punkt-co-punkt-uk
Es ist verrückt, ich glaube, er ist verrückt. Er ist ganz sicher arrogant und wirklich total unhöflich, er sieht aus wie 12, wirklich ein bisschen wie von einer Privatschule, ja ich bin mir sicher, dass er verrückt ist, aber irgendwie merkwürdig liebenswert. Er war bezaubernd. Das alles war wirklich ziemlich schräg.
Und morgen sehen wir uns diese Wohnung an. Ich und dieser Verrückte. Ich und Sherlock Holmes.
Ich klickte auf speichern und wechselte in das Dokument "NichtsfürdenBlog", denn ich konnte einfach noch nicht aufhören…
Es war spät geworden. Aber ich war überhaupt nicht müde…
Ich sehe einen seltsamen, faszinierenden Typen, der etwas von einem Teenager hat und den unbezwinglichen Blick einer Katze, sehe schmale weiße Hände, die mir Harrys Handy aus der Hand nehmen und höre eine leise, nachlässig gesprochene Baritonstimme*:
„Afghanistan oder Irak?"
„Wie geht es Ihnen mit Geigenspiel?"
„Ich spiele Geige, wenn ich nachdenke…
…manchmal rede ich endlose Tage nicht, würde Sie das beunruhigen?"
Er weiß wohl, dass er sehr beunruhigend sein kann, dachte ich.
„Potentielle Mitbewohner sollten das Schlimmste voneinander wissen…"
Kommentare zu meinem Blog kommen rein.
Interessiert mich nicht…
Moment, wie viele Kommentare sind das?
5 Kommentare
Was zum ...?!
Harry Watson 29. Januar 19.37 Uhr
Junge, bist du schwul geworden?
Bill Murray 29 January 20:31
Hahahahaha! Er doch nicht! So wie er Clara immer angeschaut hat!
Harry Watson29 January 20:34
Mal wieder was von ihr gehört?
Bill Murray 29 January 20:41
Ach, ist schon okay. Mann, wir reden hier über meinen Bruder!
Harry Watson 29 January 20:43
Also wirklich! Ich schrieb einen sechsten Kommentar:
Könnt ihr euch nicht mailen oder was? Das hier war gedacht, damit ich meine Gedanken sortieren kann.
John Watson 29 January 21:02
Ich wartete. Aber da kam nichts. Gut. Ich ging duschen, packte ein paar Sachen.
Als ich wiederkam fand ich:
Du leugnest es auch nicht?
Bill Murray 29. Januar 21.32 Uhr
Ich bin nicht schwul. Er vielleicht. Ich weiß es nicht. Es ist egal.
John Watson 29 January 21:42
Ich packte weiter.
LOL!
Harry Watson 29. Januar 22.00 Uhr
LOL? Du bist 36, Harry. Sechsunddreißig!
John Watson 29. Januar 22.03 Uhr
Ich klickte den Blog weg.
30. Januar
Ich fürchte ich habe von ihm geträumt…beunruhigend. Aber wenigstens nicht Afghanistan… Und ich bin fast sicher, dass ich irgendwann so etwas gesagt habe – wie: „Woher können Sie das wissen?" – …und „Ich bin nicht schwul!"
Ich setzte mich abrupt auf. Das konnte ja heiter werden! Ich wollte nicht, dass die Leute annehmen, ich sei schwul! Nein, ich habe nichts gegen Homosexuelle. Aber, das…
Da klopft es.
Und mir wird schlagartig klar, dass das ein klassisches Patt ist.
* In Zshg mit Sherlocks Stimme ist meist von einem "tiefen Bariton" die Rede – eigentlich ist das ein Anglizismus, denn im Englischen gibt es den Begriff Bass nicht für Singstimmen, es ist dann eben ein hoher oder tiefer Bariton, während es im Deutschen Bariton, Bass und tiefen Bass gibt (und allerlei Spezifizierungen wie Heldenbariton, seriöser Bass usw.). Es geht dabei einmal um den Stimmumfang aber auch um das Timbre. Eigentlich sollte ich Bass schreiben, aber es hat sich in den deutschen FFs so eingebürgert, dass ich nun doch auch Bariton schreibe...
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221b Baker Street
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Das nervige Gespräch mit meinem Vermieter hatte mich wenigstens irgendwie wieder geerdet. Zumindest versuchte ich, es so zu sehen. Warum musste der Besichtigungstermin aber auch erst so spät sein! 19.00 Uhr!
Ich fuhr den Laptop hoch und checkte meinen Blog. Keine neuen Kommentare. Keine Nachrichten sind gute Nachrichten. Werden die Leute wirklich anfangen, mich für schwul zu halten, wenn ich mir mit einem anderen Junggesellen die Wohnung teilte? Meine Augen irrten mehr beiläufig über meine Zeilen und – blieben immer wieder an einem Wort hängen. Oh Gott, WIE oft hatte ich Holmes als verrückt bezeichnet? Und wer ist jetzt „wirklich total unhöflich"? Sollte er mich auch gegooglet haben, hatte sich unser kleines Arrangement womöglich schon wieder erledigt!
Noch 11 Stunden. Vielleicht sollte ich sie wirklich nutzen. Halbherzig begann ich zum x-ten Male die Mietangebote zu durchsuchen.
31. Januar
3.45 Uhr
Sherlock ist eingeschlafen. Ich warte. Ich will ihn keinesfalls wecken. Erst, wenn ich sicher bin, dass er in Tiefschlaf gefallen ist, werde ich hinaufgehen… in das Zimmer, das ich noch gar nicht gesehen habe. Ich weiß nicht mal, ob eine der Stufen knarrt. Hoffentlich quietscht die Tür nicht zu sehr.
4.22 Uhr
Sherlock hängt jetzt völlig schlaff auf dem Sofa, seine Atemzüge und die unbeweglichen Pupillen unter den Lidern verraten mir, dass er in Phase drei gelandet ist, der ersten Tiefschlafphase. Diesbezüglich scheint er normal zu sein. Ich breite eine Decke über ihn und schleiche die Stufen hinauf.
Es interessierte mich jetzt nicht wirklich, wie dieses Zimmer aussah, ich musste mich nur kurz orientieren, was wo stand, um nicht etwa später über einen Stuhl zu stolpern. Ich zog nur die Schuhe aus und legte mich auf das Bett. Ich war müde, aber immer noch aufgedreht, Bilder und Wortwechsel aus dieser wahnsinnigen Nacht zuckten durch mein Hirn.
Wir waren um viertel nach zwei höflich aus dem Chinesen hinaus komplimentiert worden und in einvernehmlichem Schweigen die Baker Street entlang gegangen. Unsere Gespräche waren verebbt – wenn man es Gespräch nennen kann, dass ich ihm eine Frage nach der anderen gestellt und er sie in aller Ausführlichkeit mit dieser falschen Bescheidenheit beantwortet hatte, und es sichtlich genoss, ein so aufmerksames Publikum zu haben. Allerdings merkte ich bald, dass ich ihn vom Essen abhielt. Sherlock schien das gar nicht zu registrieren. Mir fiel wieder ein: „Atmen ist langweilig…" – möglicherweise wurde Nahrungsaufnahme auch zur Nebensächlichkeit, wenn er mitten in einem „Spiel" steckte. Also begann ich längere Pausen einzulegen, und – wann immer er wieder eine seiner Deduktionen beendet hatte, mit einem – wie ich hoffte – beeindruckt wirkenden Schweigen zu reagieren, um ihn nicht zu enttäuschen. Er hatte es selbst gesagt: Es ist die Schwäche des Genies, dass es Anerkennung braucht! Oh ja...! Ich war hungrig wie ein Wolf und hatte die komplette Portion gebratene Ente mit Wok-Gemüse und Erdnusssoße bald vertilgt, allerdings war vom Reis noch die Hälfte übrig. Sherlock dagegen schien nicht viel Appetit zu haben. Vielleicht war sein Magen keine großen Portionen gewöhnt. Oder konnte es sein, dass ihm doch noch ein wenig die Aufregung den Magen zuschnürte? Moment, sagte ich zu mir selbst: Das ist Sherlock! Es war nicht der Schrecken über die überstandene Lebensgefahr, es war der Adrenalinkick, den es ihm gab, wenn er beweisen konnte, wie clever er war… Wenn er diese Möglichkeit hatte, wurde alles andere unwichtig, egal wie notwendig es gewesen wäre. Ich lehnte mich zurück und sah vor meinem geistigen Auge wieder durch die zwei Fenster in das gegenüberliegende Gebäude, aus dem Dunkel ins Licht, wo ich IHN erblickte. Meine Erleichterung, dass er noch am Leben war überfiel mich gleichzeitig mit der Verzweiflung darüber, dass ich im falschen Gebäude war! Eine Fifty-fifty-Chance, ein Coinflip – und ich war im falschen Haus! Und er stand da drüben und was er da gegen das Deckenlicht hielt, war zweifellos eine von den verfluchten Giftpillen… Ich versuchte seine Körperhaltung, seine Bewegungen zu deuten…und kam zu dem Schluss, dass ich einfach keine andere Wahl hatte… Wie hatte Sherlock die ganze Zeit bloß überlebt?
„Alles in Ordnung?" fragte er mich plötzlich. Sicher habe ich besorgt ausgesehen. Ich lächelte ihn an. „Bestens." „Sicher?" „Nur etwas überfressen!" Ich vermutete, dass er diesmal falsch lag, indem er annahm, dass mir etwas Sorgen bereiten könnte, was ich getan hatte.
Wir erreichten 221b. Mein ganzes Zeug war noch in meinem Apartment, aber was machte das? Sherlock schien zu wissen, dass ich bleiben würde, denn er warf die Tür nicht hinter sich zu, sondern ließ sie offen. Ich setzte mich im Wohnzimmer in den Sessel gleich hinter der Tür. Nachdem Sherlock Mantel, Schal und Jackett abgelegt hatte, holte er wortlos eine Flasche Scotch und zwei Gläser, schenkte uns ein und warf sich dann auf das Sofa. Ich begann mich zu fragen, ob das jetzt eine von diesen Phasen werden sollte, in denen er endlos schwieg. Mir war nicht bewusst, wie lange ich da so saß. Es war in Ordnung mit Sherlock zu schweigen. Es war zwar noch nicht alles gesagt worden und es gab eine Sache, über die ich nirgendwo etwas schreiben würde – Moment! Eine Sache und eine Person! Jedenfalls wenn Sherlock nicht übertrieben hatte, was seinen „Erzfeind" anging.
Als ich wieder aufwachte war es fast halb elf. Das winterliche Tageslicht erfüllte den Raum, denn ich hatte in der Nacht nicht daran gedacht, die Vorhänge in zu zuziehen. Aber geweckt hatte mich etwas anderes. Eine Geige. Solo. Moment… sollte er das sein? Oder war es eine Aufnahme? Es klang verdammt gut, richtig professionell. In diesem Augenblick – riss die Melodie ab und ich hörte seine mittlerweile schon so vertraute Stimme sagen: „Vielen Dank, Mrs. Hudson, es ist fürchterlich spät geworden, wir sind erst gegen halb drei zurückgekommen." Was Mrs. Hudson darauf sagte, wurde durch die Tür zu sehr gedämpft, als dass ich es hätte verstehen können.
Bald darauf stieg ich hinunter. „Guten Morgen, Sherlock." Er legte die Geige behutsam in ihren Kasten und wies auf den Tisch zwischen den Fenstern. Die meisten Kisten hat er auf den Boden gestellt und irgendwie Platz gemacht, für ein kleines kaltes Büffet. „Ah," gab ich verstehend von mir „der Imbiss, den du gestern bei Mrs. Hudson – bestellt hast." „Aber nur dies eine Mal", imitierte Sherlock sie mit Fistelstimme, „Ich bin nur deine Vermieterin, mein Lieber, nicht deine Haushälterin!" Ich muss kichern. „Hör' auf, sie ist ein Goldstück." Wir frühstücken schweigend. Aber ich bin froh, dass er offenbar doch nicht in so eine tagelange Schweigephase gefallen ist. „Du holst deine Sachen?" vermutet er. „Gute Deduktion" witzle ich und es gelingt mir nicht ganz seine Stimmlage zu treffen. Er grinst. Ganz kurz nur, um mir zu signalisieren, dass es okay ist, wenn ich ihn aufziehe – jedenfalls in dieser Situation. „Nicht viel vermute ich…" „Kaum mehr als Marschgepäck. – Was machst du heute? Die Striemen von der Reitgerte untersuchen?" „Ah, Mike hat es dir gesagt – was hältst du davon?" Ich versuche lässig auszusehen und zucke die Schultern: „Wenn's der Wahrheitsfindung dient…" Sherlocks Lippen zucken in ein ganz kleines Lächeln. Gute Antwort, offenbar! „Dieses... Mädchen mit dem Kaffee himmelt dich an, aber das weißt du ja sicher", setze ich schnell hinzu, obwohl ich da nicht ganz sicher bin. „Dieses – Mädchen – " „ – ist Pathologin", unterbreche ich ihn rasch und freue mich, dass ich ihn damit ein wenig überrasche. „Ich konnte es riechen. Der Rest war leicht." „Guter Schuss", wiederholt er die Worte von letzter Nacht. Mir bleibt fast der Bissen im Hals stecken. Musste er das jetzt sagen! Ich trinke rasch meinen Tee aus und sage: „Ich geh dann mal. Du kannst mir ja simsen, was du machst." Ich eile die Stufen hinunter und mir geht durch den Kopf, dass Sherlock eben so aussah, als ob er mich gleich wieder fragen wollte, ob ich in Ordnung sei…
Ich war nicht beunruhigt, von dem was ich getan hatte, es erschreckte mich, was hätte passieren können...
Da mein Vermieter nicht da ist, beschließe ich eine Weile zu warten. Im Allgemeinen ist er zum Lunch zurück. Ich nutze die Zeit, um meine Gedanken über unsere Verbrecherjagd in Nichtsfü festzuhalten und für meinen Blog.
31. Januar
Mein neuer Mitbewohner
Gestern Abend habe ich mir die Wohnung angesehen. Sie ist tatsächlich ziemlich passabel. Sherlock war bereits eingezogen, deshalb sah es etwas chaotisch aus, Aber zurzeit empfinde ich das als eine nette Abwechslung von dem, wo ich vorher war.
Und der Verrückte selber? Er ist faszinierend. Arrogant, tyrannisch, pompös. Er ist nicht ungefährlich. Das weiß ich ganz gut. Ich werde mich nicht langweilen und ich bezweifle, dass wir streiten werden, wer dran ist, die Gasrechnung zu bezahlen oder um die Fernbedienung. Und ja, möglicherweise ist er tatsächlich eindeutig verrückt. Aber er kennt schon mal mindestens zwei gute Restaurants, deshalb ist er nicht so übel.
Tja, wir haben uns rasch umgesehen und mit der Vermieterin geschwatzt. Dann kam die Polizei und bat Sherlock, sich eine Leiche anzusehen, Also kamen wir mit zum Tatort. Dann jagten wir durch London, einem Killer hinterher und Sherlock löste diese Selbstmord-Mord-Geschichte.
Und dann gingen wir in ein großartiges Chinesisches Restaurant, wo in meinem Glückskeks stand: "Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Es ist alles schon mal da gewesen." Nach der Nacht, die ich da hatte, hoffe ich inständig, dass das nicht stimmt.
– Speichern –
Ich krame den Zettel aus der Tasche: "Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Es ist alles schon mal da gewesen." Genau. Es irritiert mich, es ist unpassend, denn ich bin zu 99% sicher, dass das keine fernöstliche Weisheit ist. Ich bin sicher, es ist aus der Bibel. Ich google den Spruch: Bingo, da haben wir's: Prediger 1. Merkwürdig. Sherlock hatte mir nicht verraten, was auf seinem Zettel gestanden hatte. Ich meine mich zu erinnern, dass er den eingeschweißten Keks einfach in seine Manteltasche gesteckt hat. Ich bin nicht abergläubisch, aber ich hätte es gerne gewusst, vielleicht war es etwas ähnlich Unpassendes.
Es klopft. Diesmal springe ich auf und öffne so rasch, dass mein Ex-Vermieter zusammenzuckt. „Ich ziehe aus", platze ich heraus. Dann erst…"Guten Tag, 'tschuldigung…" Meine Wunderheilung irritiert ihn. Grinsend lasse ich ihn rein, gebe ihm einen Umschlag mit der restlichen Miete und wir wickeln rasch die Übergabe ab.
Als ich nachhause zurückkomme – seltsam – ich denke von 221b schon als Zuhause… – ist Sherlock nicht da. Keine Nachricht. Mein Handy war an. Keine SMS. Auch gut.
Ich bringe meine Sachen nach oben, fahre den Laptop hoch und checke meinen Blog.
5 Kommentare
WWas !? Geh ein dein Telefon!
Harry Watson31 Januar 13.46
Bitte, gehen Sie an Ihr Telefon!
E Thompson 31 January 13:48
Ich habe nicht mitbekommen, dass du einen Blog schreibst. Ich hätte dich nicht als einen Typ dafür eingeschätzt. Und wegen dem was mit Sherlock passiert ist: das überrascht mich kein bisschen. Viel Glück, Junge!
Mike Stamford 31 January 13:56
Was ist mit dir los? Ich hab irgendwas im Fernsehn gesehen. Warst du das?
Bill Murray 31 January 14:12
Ernsthaft, John! Was passiert da? Bist du in Ordnung?
Harry Watson 31 January 14:16
Irgendwie habe ich überhaupt keinen Nerv zu reagieren. Ich steige in den ersten Stock hinab und bleibe im Wohnzimmer, wo es immer noch chaotisch aussieht, stehen. Der Frühstückstisch ist nicht abgeräumt, nicht mal die Milch ist in den Kühlschrank gewandert, ganz zu schweigen, von den anderen Resten. Das könnte ein Problem werden. „Für diesmal", denke ich und räume die Reste in den Kühlschrank – er ist praktisch leer. Wir brauchen Frischhalte-Folie. Spülmittel… Fast alles! Ich durchsuche die Schränke. Chemikalien… oh, Tee, immerhin.
Als ich den Abfall wegwerfen will, fällt mir eine kleine rote Folie auf: Sherlock muss seinen Glückskeks heute Morgen verspeist haben. Wo ist der Zettel? Wieso sollte er den Zettel aufheben…? Es sei denn… – Mein Puls beschleunigt sich. Ich habe auf einmal ein verdammt ungutes Gefühl.
Ich stürze auf die Straße und renne zu dem Chinesen. Ich erreiche den Eingang keuchend, zwei Hände, die meine Arme am Bizeps packen bremsen mich. Sherlock steht vor mir und hält mich mit fast durchgestreckten Armen auf Abstand. Gute Reaktion… Er lässt mich los, mustert mich. Ich versuche, nicht so heftig nach Atem zu ringen – er soll das nicht sehen – aber es geht nicht anders. „Sag schon, was drinsteht!" belle ich zwischen zwei Atemzügen. „Lass uns gehen."
Auf dem gemächlichen Rückweg, versuche ich ihn zu lesen …angespannt…besorgt…?
Seine Stimme hat kühl geklungen, aber auch irgendwie müde... Wahrscheinlich wurmt es ihn, dass er den Spruch nicht schon letzte Nacht angesehen hat.
Er betritt 221b, ich folge ihm. In der Küche nimmt er eine Beweismitteltüte aus der Küchenschublade und gibt sie mir.
„Sie haben einen Fan! M."
Erleichtert lache ich auf: „Das war es – ?" Aber dann merke ich, dass Sherlocks Lachen leicht verzögert ist – und – Moment…! „M? M? Du meinst – ? Sherlock? Hast du mir alles erzählt? Habe ich irgendwas nicht behalten?" Sherlock beginnt durch das Zimmer zu tigern. „Jefferson Hope sagte, ich hätte einen Fan, im ersten Moment dachte ich, er redet von sich selbst…" Das mulmige Gefühl kehrte zurück. Um vieles stärker. Eine kriminelle Organisation oder ein mysteriöses Verbrechergehirn, das die Mittel hatte, einen Serienmörder zu sponsern – war – Sherlocks – Fan...!
„Moriarty…", brachte ich hervor und musste feststellen, dass ich mich so anhörte, wie ich mich fühlte. Ich beeilte mich, in die Küche zu kommen und ein Glas Wasser zu trinken. Ich wollte jetzt nicht noch mal von Sherlock gefragt werden, ob ich in Ordnung sei.
Als Sherlock neben mich an die Spüle trat, hatte er Mantel und Schal abgelegt. „Was stand bei dir drin?" „Nichts Beunruhigendes…" – ich krame den Zettel hervor – „nur…irritierend. Nicht grade sehr chinesisch… Prediger 1" Er nimmt ihn mir aus der Hand. Aus seinem abwesenden Blick schließe ich, dass er sich ins Gedächtnis zurückruft, wer uns – und wie – die Glückskekse gebracht hat. Ich muss zugeben, ich habe keine Ahnung – um die Uhrzeit war ich schon viel zu entspannt und zu abgelenkt gewesen. Aber ich bin sicher, Sherlock hat noch alles vor Augen. Ich bleibe reglos stehen, um ihn nicht zu stören.
Schließlich bewegt er sich. „Sherlock?" „Hättest du etwas dagegen, heute noch mal zum Chinesen zu gehen – und Geld sollte nicht das Problem sein." „Ich…naja, wenn du zahlst, sieht es wieder aus wie ein – Date…" Da sehe ich auf einmal mein Portemonnaie in seinen Händen. „Du – du Taschendieb…" Er schiebt zwei 50 Pfund Scheine hinein. „19 Uhr. Okay für dich?" Ich nicke. „dann bestell den Tisch. Und geh einkaufen."
221b hat mir Kopfzerbrechen bereitet. Es hat eigentlich keine Wohnungstüren, als sei es früher mal von einer einzigen Familie (mit Personal im DG, EG und UG?) bewohnt worden. (Okay, natürlich ist es ein Set, das ist mir klar) – aber ich kann mir das kaum vorstellen, so zu wohnen – und als Detektiv in einer Metropole, der auch schon mal zuhause überfallen wird, erst recht nicht!
Mrs Hudson hat unten ein Schloss - zumindest an der Küchentüre, aber damit hat es sich auch schon. (Um es kurz zu sagen: Ich habe hier Abschlusstüren, wo eigentlich keine sind...)
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Glückskekse
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„Dann bestell den Tisch. Und geh' einkaufen."
Ich führte die Befehle aus. Er war wieder in den „Kein-überflüssiges-Wort-Modus" gefallen.
Als ich vollgepackt zurückkam, lag Sherlock in Denkerpose auf dem Sofa und ich versuchte, von weitem zu erkennen, ob und wenn ja, wie viele Nikotin-Pflaster er aufgeklebt hatte. Es gelang mir nicht.
Ich verstaute Tee, Kaffee, Milch, Zucker, Äpfel, Tomaten, Karotten, Konserven mit Bohnen und Würstchen, Speck, Toast, Marmelade, Butter, Orangensaft, Tomatensugo, Zwiebeln, Hackfleisch, Parmesankäse, Nudeln und Reis, sowie Salz, Speiseöl, Spülmittel und Frischhaltefolie. Ich war nicht mal fertig, da –
"John. Tee."
Ich verkniff mir einen Kommentar und gehorchte. Seine Manschetten waren zugeknöpft, unmöglich zu sehen, ob da Nikotinpflaster waren oder nicht.
Ich ging erst mal nach oben, denn ich fühlte mich dann doch verpflichtet, mich bei Harry zu melden und schrieb als Kommentar:
Entschuldige, kein Grund zur Panik. Mir geht's gut. Besser als gut. Ich werde aufschreiben, was passiert ist, aber ich möchte es anständig machen. Gib mir ein paar Tage.
John Watson 31 January 16:12
„Arrogant, tyrannisch, pompös." – das hatte ich vor ein paar Stunden in meinen Blog geschrieben. In Hochstimmung… – und wie fühlte ich mich jetzt dabei?
Neuer Kommentar:
Du kannst es nicht dabei belassen! Sag mir, was passiert ist!
Harry Watson 31 January 16:15
Er war schwer zu ertragen, wenn er so herrisch war. Ich habe schon viele Befehle befolgt und selbst Befehle gegeben, sie haben ihren Sinn, weil die Hierarchie kostbare Zeit spart und die Kompetenzen klar sind. Aber Sherlock kommandierte mich auch herum, wenn keine Gefahr im Verzug war, wenn er einfach zu faul war, aufzustehen…
Und dann begann ich, über Sherlocks Fehler nachzudenken. Ganz automatisch. Ohne es wirklich zu wollen. Mein Gehirn begann, die entsprechenden Szenen hervorzukramen, wenn auch nicht immer in der richtigen Reihenfolge, mehr assoziativ…
Er lieh sich ohne Umschweife fremde Handys, zitierte mich durch ganz London, nur um nochmals mein Handy zu leihen – obwohl er sicher das von Mrs Hudson hätte benutzen können – und das mit solchen SMS wie: „Baker Street. Komm sofort, wenn es passt. SH" um nur Minuten später weiter zu bohren: „Wenn es nicht passt, komm trotzdem. SH" und schließlich: „Kann gefährlich werden. SH". Dann diktierte er mir die Nachricht, die er selbst sicher viel schneller hätte schreiben können, und hetzte mich dabei noch. Sherlock hatte mich an den Tatort geschleift und zu Lestrade gesagt: „Er gehört zu mir." Als ob das irgendwas erklärt hätte, auf die nochmalige Nachfrage des Inspektors hin, hatte er trotzig diese Formulierung beibehalten. Anschließend – nur die Suche nach dem pinkfarbenen Koffer im Kopf – hatte er mich stehen lassen, wie einen lästig gewordenen Hund, den man vor dem Urlaub aussetzt – nicht dass ich so was täte – . Er instrumentalisierte seine Umwelt, manchmal sagte er ein kleines Danke – und schien zu glauben, dass das tatsächlich alles in Ordnung brachte… Er rannte Leute fast um und dann war ich es hinter ihm, der sich entschuldigte. Und diese ganzen Unverschämtheiten… Molly gegenüber. Sogar Mrs Hudson hatte er schließlich angeschrien – gut, unter äußerstem Stress wahrscheinlich… Ich musste zwar feststellen, dass mir Anderson gar nicht und Sally wenig sympathisch waren, aber so mit ihnen zu reden, das war schon richtig dreist, unnötig dreist... Ich fragte mich, was die Vorgeschichte war, oder gab es keine? „Eine alte Freundin", hatte er mir Donovan vorgestellt... „Wenn ich sage „Freund"…" – ja, was dann – … – dann was...? …war dieser Schädel am Ende für Sherlock wirklich kein anonymes Forschungsobjekt? Jemand, den er gekannt hatte? – „Sie sind nicht sein Freund, denn er hat keine Freunde, also wer sind Sie?" hatte mich Donovan gefragt. – „Wie viele Freunde kann er wohl haben?" war ich letzte Nacht gefragt worden. Eine rhetorische Frage, eindeutig. Und als ich Sherlock erzählte, ich hätte einen seiner Freunde getroffen, schien er geradezu ein wenig beunruhigt, was aber nachließ, als ich das Wort gegen „Feind" bzw. „Erzfeind" austauschte. Welcher normale Mensch hat denn schon Erzfeinde? – Andererseits …fehlte ihm jedes Feingefühl? Begriff er wirklich nicht, dass eine Frau auch nach 14 Jahren um ihre totgeborene Tochter trauern konnte? „Nicht gut…?" Was für eine Frage…wollte er es lernen? Jetzt noch? Er war bereit, jeden nicht nur für einen Idioten zu halten, sondern es auch zu sagen, – eine tote Frau zu untersuchen machte ihm Spaß und vier mysteriöse Morde waren für ihn wie Weihnachten!
Was machte ich hier überhaupt? Sherlock kommandierte mich herum. „Dann bestell' den Tisch. Und geh einkaufen." Und der Gipfel eben: „John. Tee." Sherlock hatte sogar die Entscheidung für mich getroffen, bei ihm einzuziehen, ganz ohne mich zu fragen, weil sein Geld nicht reichte... –
Die Szene spulte sich in meinem Kopf ab: „Mrs Hudson! Dr. Watson kann jetzt oben in das Zimmer einziehen…" Sagt wer? gebe ich zurück. Sherlock dreht seinen Kopf und lächelt mich immer noch etwas außer Atem an. „Sagt der Mann an der Tür…"
- …meine Krücke…! Wann hatte er Angelo eigentlich gesimst, dass er die Krücke vorbeibringen sollte? – Er musste den Text vorbereitet haben, als begabter Taschendieb brauchte er dann nicht lange zum Abschicken… – trotzdem? Wann…? –
Die Stimmung in meinem Kopf drehte sich plötzlich komplett. Andere Szenen spulten sich ab…
…Sherlock verabschiedete sich bei Mrs. Hudson mit einer Umarmung und einem Kuss, er ließ sie nicht nur gewähren, wie eine lästige Tante, es war eine Aktion, die von ihm ausging und die sogar herzlich wirkte… „John, fühl' dich wie zuhause, trink' einen Tee, bleib nicht meinetwegen auf." – „Kollege von mir, Dr. Watson" – „Gehört zu mir" –„Ich sag' doch, er gehört zu mir." – „Dir ist klar, dass du das laut sagst?" – Tut mir Leid… – „Nein, …fein…" –
Moment! – Vertauschte Rollen? – …er färbte schon ab auf mich, zuletzt war ich es gewesen, der – kichernd – gesagt hatte, „Wir können hier nicht rumkichern, das ist ein Tatort!" - - -
"...pink. Du wusstest – das – alles, nur weil dir klar war, dass der Koffer – pink sein muss? „Er musste pink sein, offensichtlich." Warum habe ich nicht daran gedacht… „Weil du ein Idiot bist! Nein, guck nicht so, das ist fast jeder."
–...guck nicht so... Das war eine Bitte um Vergebung gewesen.
„Komm schon, John, wir verlieren ihn!" Erstaunlich genug, dass er tatsächlich einen Moment gewartet hatte! –
„Wieder zu Atem gekommen?" –
„Bereit, wenn du es bist!", flüsterte ich halblaut in die Stille meines neuen Zuhauses.
Noch vor weniger als 24 Stunden hatte ich gesagt: „Ich bin niemand". Ich war ein Invalide gewesen – in-valide – untauglich, unwert…entwertet, unnütz – und so hatte ich mich gefüllt, wie Müll, wie Ballast, wie etwas, das nicht mehr repariert werden konnte.
Sherlock hatte aus einem körperlichen und seelischen Krüppel einen Kerl gemacht, der über Dächer und Außentreppen durch London turnte, er hatte mir eine Aufgabe gegeben, die mich aus dem schwarzen Loch riss, in dem ich gesessen hatte.
„Bereit, wenn du es bist", flüsterte ich noch einmal. Es war ein Versprechen und es war auch eine Abbitte, denn mir war klar geworden, dass ich ihm etwas schuldete, und dass seine Fehler nicht zählten…
Ich brachte meinen Browning in Ordnung…nur für alle Fälle. Danach nahm ich mir endlich die Zeit zum Duschen, Rasieren und Umziehen.
Jetzt hörte ich ein Knarren. Der Couchtisch, der unter dem Gewicht von Sherlocks Schritt leise ächzte. Ich hatte es gestern nur aus den Augenwinkeln wahrgenommen, als Sherlock über den Couchtisch gestiegen war. Bald darauf hatte er sich aus einer normalen Sitzposition im Sessel plötzlich hochgestemmt, die Beine hochgezogen und saß dann mit den Füßen auf der Sitzfläche in der Hocke. – Er turnt über die Möbel wie ein Zwölfjähriger…, dachte ich. Und dann hörte ich Sherlock wieder durch das Wohnzimmer tigern. Das Geräusch machte mich nervös. Besser, wenn ich gleich hinunterging.
„Zu früh, John."
Ich grinste nur, räumte mir einen Sessel frei, setzte mich und wartete.
Ihn dann bei seiner rastlosen Wanderung auch noch zu sehen, machte es aber irgendwie nicht besser. Ich sagte mir: Lass ihn, er braucht die Bewegung! – weil ich sonst womöglich noch aufgesprungen wäre, ihn in einen Sessel gedrückt hätte und ihm gesagt hätte, dass er sich beruhigen solle. –
Okay, ich schau mir das nicht mehr an. Ich gehe in die Küche, koche Tee, trinke ihn dort.
Ich presste die Handballen in die Augenhöhlen, um mich zu beruhigen. Ich hatte selbst schon gewusst, dass es gefährlich werden konnte mit Sherlock, warum war ich dann jetzt um so vieles mehr beunruhigt? – Warum? Blöde Frage! Weil ich allmählich wieder runter kam, weil mein Unterbewusstsein begonnen hatte die Eindrücke und Situationen dieser verrückten Nacht zu sortieren. Jemand, den ich zu diesem Zeitpunkt für ein kriminelles Superhirn gehalten hatte, hatte mir gesagt, mit Sherlock wäre London ein Schlachtfeld. – Ich musste mich korrigieren… es war doch nicht so theatralisch gewesen, wie ich gedacht hatte.
Warum – noch mal – war ich dann jetzt um so vieles mehr beunruhigt? ...weil ich nicht so von den Ereignissen überrollt worden war wie gestern? – …vor allem, weil ich diesmal schon weiß, dass die Drohung Sherlock gilt und wie wenig ihn das Risiko schert.
„Du hast deinen Text gleich wieder erkannt?" Oh, ein ganzer Satz. Sein – was auch immer für ein Organ das ist – taut auf.
„Sofort", sage ich. Er guckt angewidert. Okay, das kann ich, glaube ich einordnen. „Nicht ich. Fromme Großmutter. Warf ständig mit Bibelzitaten. Und ein Onkel, Pfarrer. " Ich kann auch überflüssige Worte weglassen. Er scheint beruhigt. „Ist aber nicht dieselbe Übersetzung", ergänze ich. "Soll ich nachsehen?"
„Und wofür?" Ah, der genervte Unterton…
„Könnte auf eine andere Konfession schließen lassen. Wenn der Absender kein Anglikaner ist, engt das den Kreis der Verdächtigen ein." Ich versuche mein Lächeln nicht zu breit werden zu lassen, denn die Veränderung, die seine Mimik und Gestik grade durchlaufen, macht mich ein wenig stolz.
„Gut…" Eine Augenbraue zuckt nach oben. „…gut, mach das…"
Ich gehe an sein Netbook – mit dem ich letzte Nacht das Taxi verfolgt habe, gebe den Wortlaut ein…suche…, Sherlock steht über meine Schulter gebeugt wie vor nicht mal 20 Stunden, als ich versuchte, das Handy zu lokalisieren.
„Douay-Rheims Version", sage ich, „Katholisch." sagen wir beide. Und Sherlock: „Eircom phonebook, – such nach Moriarty!"
Ich nicke: „Klar, ein Ire ist am wahrscheinlichsten, wenn er aus der Umgebung ist… – " und dann halte ich unwillkürlich die Luft an. „59 Einträge…" Ich hätte nicht gedacht, dass es tatsächlich einfach ein ganz normaler Nachname sein könnte.
Sherlock beginnt wieder herum zu tigern. „Hilft uns im Augenblick nicht…vielleicht später…"
„Sherlock." Er ignoriert mich.
"Sherlock".
„Sherlock. Es ist Viertel vor Sieben. Soll ich den Revolver mitnehmen?" Aha, das Wort „Revolver" wirkt irgendwie.
„Was?" Eben habe ich ihn. Oder jedenfalls einen großen Teil seiner Aufmerksamkeit.
„Es ist Viertel vor Sieben. Soll ich den Revolver mitnehmen?"
„Nein, nein, es sollte so gehen. Wir riskieren viel zu viel Ärger, wenn wir eine Schusswaffe dabei haben… Gehen wir…"
„Womit rechnest du? Weih' mich ein."
„Ich erinnere mich, wer die Kekse brachte, hatte ihn da noch nie zuvor gesehen…"
„Was willst du tun, wenn er wieder da ist?"
„Lass mich machen…"
„Wäre es nicht besser, ich weiß was du vorhast? Wenn ich raten muss, vertue ich mich wahrscheinlich, weil ich nur ein Idiot bin, also erklär 's mir." Ich hatte nicht ganz so genervt klingen wollen.
Er bremst und schaut mich an. „John… – ich weiß es noch nicht. Es kommt darauf an…"
„Gut."
„Gut?"
„Soweit es mich betrifft."
„Gut. – John – ?"
„Was?"
„Du bist kein Idiot."
„Okay."
Sherlock stürmt den Laden und ich schlüpfe hinter ihm durch die Tür. Ironischerweise ist es derselbe Tisch wie letzte Nacht. Diesmal reichen mir, glaube ich, ein paar Frühlingsrollen oder so was. Sherlock schiebt mir eine Karte zu…
Die Geste erkenne ich wieder... „Du isst wieder nichts…aber ich soll, damit es mehr nach einem – – damit es – natürlicher aussieht? – Sherlock, Glückskekse gibt es erst hinterher, also – "
„Das weiß ich."
„Warum isst du dann nichts? Es würde dann noch – natürlicher aussehen."
„Ich esse nicht, während eines Falls."
„Ach du liebe Zeit – und wenn es länger dauert?"
„Es dauert nicht länger…"
„Nicht länger als was?"
„Eine Woche. Höchstens. Meist deutlich drunter. Wie gestern."
„Aber um Himmels willen warum denn?"
„Ich kann dann besser denken!"
„Noch besser…ist ja nicht auszuhalten…"
„John, beim Verdauungsprozess, vereinnahmt der Magen verstärkt Erythrozyten, das – "
„Erzähl du mir nichts von roten Blutkörperchen, das weiß ich selbst!"
„Warum fragst du dann?"
„Weil du es übertreibst!"
Die Bedienung beendet unser kleines Scharmützel. Wir bestellen. Er einen Jasmin-Tee, ich Wasser und Frühlingsrollen mit Salat.
Sherlock mustert verstohlen das Personal, dann sieht er kurz zu mir herüber und murmelt. „Ich werde einen Blick nach hinten werfen. Benimm dich ganz normal…"
Er schlängelt sich zwischen den Tischen Richtung Toilette.
Ich stelle fest, dass ich keinen rechten Appetit habe. Er färbt schon wieder auf mich ab.
Sherlock kommt zurück.
"Warst du eigentlich auf dem Yard heute Morgen? Lestrade wollte dich doch holen lassen." will ich wissen. Er nickt nur. "Gut, ich dachte schon, du würdest – …schwänzen, nachdem du den Spruch gesehen hast."
„Ich war am Vormittag hier, bevor das Personal kam."
„Bist du eingebrochen?"
"Unnötig. Der Vermieter kennt mich seit Jahren, habe gesagt, du hättest gestern etwas verloren."
„Ich!?"
„Natürlich. War weniger verdächtig. Ich pflege nichts zu verlieren."
"Natürlich! – Spuren?"
"Nichts. Dann war ich im Bart's und beim Yard."
Er verstummt.
"Und? Irgendwas, das ich wissen sollte?"
Er schaut mich an, formiert seine Lippen zu einem künstlichen Lächeln und sagt:
„Keine Sorge, es wird keine Untersuchung deswegen geben."
Ich bin überrascht. „Wieso? Bist du sicher?"
"Ganz sicher. Es gab einen Scharfschützen, der von höherer Stelle dorthin beordert wurde."
„Einen – was? Quatsch – das wäre ein ganz anderes Kaliber! – Woher weißt du das?"
„Polizeireport gelesen."
„Lestrade hat ihn dir gezeigt?"
Sherlock feixt. "Natürlich nicht. Lag auf seinem Schreibtisch. Ich kann auf dem Kopf Stehendes lesen."
Mir wird etwas mulmig. „Du glaubst, Lestrade ahnt etwas...? ...hat das – erfunden? Weil er dir was schuldet?"
„Unwahrscheinlich, finde ich später heraus."
„ – dein Bruder? – ...um MIR zu helfen!?"
„Nein. Damit ich ihm einen Gefallen schulde."
"Okay, DAS Motiv erklärt es."
"Offenkundig." –
"Übrigens kann ich das auch ganz gut."
"Was?"
"Auf dem Kopf Stehendes lesen." Sherlocks Augenbraue zuckt nach oben. Er ist angenehm überrascht und ich setze hinzu.
"Auch Handschriftliches – wenn es nicht allzu wüst ist..."
"Gut..." murmelt Sherlock anerkennend.
„Hast du Lestrade von M. erzählt?"
„Ich weiß gar nichts über Moriarty."
„Dachte ich mir… – "
Unsere Bestellung trifft ein.
Ich frage ihn: „Willst du mir nicht etwas erzählen, zB, ob es einen Hinterausgang gibt, ob man vom Hinterhof auf die Straße kann, oder wie hoch irgendeine Mauer ist...?"
„Kundschafte es selbst aus, Captain." Er drückt mir eine angebrochene Zigarettenschachtel in die Hand, in der ein Feuerzeug steckt."
Als ich ihn verblüfft ansehe, rollt er die Augen.
„Argh! Geh in den Hof, eine rauchen! Als Tarnung! – Aber pass auf, in welchen Mülleimer du die Kippe wirfst!"
Ich gehorche wortlos, tue aber nur so, als würde ich rauchen, die Zigarette brennt schließlich von alleine herunter. Irgendwo habe ich neulich gelesen, dass in ein paar Jahren Zigarettenpapier eingeführt werden soll, das nach kurzer Zeit ausgeht, wenn keiner daran zieht. Begrüßenswert.
Der Hinterhof ist klein und mit Mülltonnen und einigem Gerümpel zugestellt. Ein kleines Gittertor führt zwischen den Hausmauern hinaus... es muss ...Kendallplace sein... ja. Ist es. Ich denke, dass ich genug gesehen habe. drücke die Kippe aus und werfe sie in den Restmüll.
Als ich zurückkomme, sehe ich Sherlock an unserem Tisch stehen und mit einem Chinesen sprechen. Ich haste los, merke aber schon nach zwei Schritten, dass die Szene höflich und völlig ungefährlich aussieht und falle in ein zivileres Tempo. Dann sehe ich den kleinen Teller mit den rot eingeschweißten Glückskeksen auf dem Tisch. Der Chinese verabschiedet sich mit einer kleinen Verbeugung und einem breiten Lächeln von uns und geht.
Sherlock lässt das Lächeln aus seinem Gesicht fallen, gleitet mit einer raschen Bewegung auf seinen Stuhl und sinkt ein Stück in sich zusammen. Nur seine rechte Faust ballt sich auf dem Tischtuch. Er sieht ziemlich frustriert aus.
"Stimmt was nicht?"
Er seufzt. "Alles stimmt. Das ist es ja! – Heute ist nur das übliche Personal da – und obendrein, soll auch gestern keine Aushilfe da gewesen sein. Es war völlig unnütz, heute herzukommen!"
„Na, dann kannst du ja jetzt noch etwas essen", gebe ich trocken zurück.
Von Sherlock kommt nur ein Knurren. Versuchsweise schnippe ich mit der Gabel von meinem Teller eine meiner zwei letzten Frühlingsrollen auf sein Teetablett.
„Ich brauche niemanden, der mich füttert", brummt er.
„Außer Mrs Hudson…" setze ich gelassen hinzu.
Als die Rechnungen kommen, wird mir klar, dass er doch nicht etwa schon vorhin beim Chef gezahlt hat und dass es wirklich ZWEI sind. Wir zahlen getrennt. Gut.
Ich deute mit dem Kinn Richtung Glückskekse und vermute: „Der Chef hat sie selbst gebracht."
Sherlock nickt. „Merk dir den 3. vor."
„Du versuchst es noch mal", stelle ich fest.
Kaum merkliches Nicken.
„Du kannst nicht wirklich voraussagen, was in den Glückskeksen steht", fordere ich ihn heraus, denn das hatte er behauptet, als wir den Tatort verließen, ich hatte später nur nicht mehr daran gedacht.
Er wirft mir einen kurzen Blick zu, fixiert dann die Kekse und zitiert:
„'Ein Mensch ohne Freund, ist wie eine trostlose Einsamkeit.'
'Wer mir schmeichelt, ist mein Feind, wer mir meine Fehler sagt, ist mein Freund...'
Sieh nach", befiehlt er ohne aufzusehen. Ich schiebe den einen zu ihm rüber.
„Beide. Ich esse ihn ohnehin nicht."
Er steht auf, rauscht an die Garderobe und windet sich in seinen Mantel. Ich eile ihm nach: „Du hast recht!" sage ich beeindruckt, während ich meine Jacke suche.
„Natürlich habe ich das."
„Wie viele verschiedene Sprüche gibt es?" will ich wissen.
"Etwa 10…", sagt er vage, schon in der Tür.
Die Frühlingsrolle auf dem Teetablett ist unberührt geblieben. Meine Letzte habe ich auch liegen lassen. Dieser Abend war irgendwie etwas schwierig gewesen. Sherlock war schwierig...
Er schwieg. Neben seinen langen Schritten musste ich marschieren, um mit ihm mithalten zu können. Nach einer Weile kam mir ein Verdacht, der mich fast traurig stimmte. Leise fragte ich:
„Sind die Kekse eigentlich sortiert abgepackt, oder...?"
Sherlocks Gesicht verzog sich zu einem kleinen, schiefen Grinsen: „Pro Karton nur ein Spruch. Das war die Lösung, John. Man sieht die Kartons im hinteren Thekenbereich, direkt neben dem Pass. Es ist ganz einfach."
Aber das ist nur ein Teil der Lösung, dachte ich bedrückt: Der Chef sucht dir jedes Mal den gleichen Spruch aus, Sherlock – und wenn jemand dabei ist, kommt immer derselbe zweite dazu… – aber weil ich nicht Sherlock Holmes bin, werde ich dir das jetzt nicht an den Kopf werfen… –
Bereit, wenn du es bist!
Sherlock zückte sein Blackberry, und zu meiner Überraschung simste er nicht. „Entwarnung. Am 3. noch mal. Ich melde mich. Ende." –
„Du – hast – …?"
Er wirbelt zu mir herum: „Jemanden im Hof postiert, ja!" Sherlock brüllt mich frontal an, in den hellen Augen sehe ich Verachtung aufblitzen. „Und du Idiot hast nichts bemerkt!"
Er stürmt davon.
Dass auch ich sauer sein könnte, kommt ihm nicht in den Sinn. Wieso hatte er mich nicht eingeweiht?
.
.
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Nicht gut
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.
Wie ein geprügelter Hund schlich ich hinter Sherlock her und bemerkte kaum, wie der Abstand zwischen uns immer größer wurde. Als ich aus einiger Entfernung eine Tür schlagen hörte, wusste ich sofort, dass Sherlock die Haustür von 221b hinter sich zugeworfen hatte. Ich stoppte... und spürte wie mir die Eiseskälte die Schultern hinauf kroch. Ich weiß nicht, wie lange ich da so stand, aber es kostete mich einige Überwindung, meinen Weg fortzusetzen. Die Tür aufzuschließen, die Stufen hinauf zu steigen...das schien unendlich mühsam. Vor der grün lackierten. abgeschabten Tür blieb ich stehen...gab mir einen Ruck und öffnete sie.
Sherlock stand am rechten, geöffneten Fenster und zog heftig an einer Zigarette. Seine Haltung verriet immer noch starke Anspannung. Mit einer eleganten aber hastigen Bewegung schleuderte er den Stummel hinaus und zündete sich die nächste an. Nach dem nächsten Zug wandte er ruckartig den Kopf, so dass die dunklen Locken um seine bleiche Stirn sprangen und während ich mich gegen so etwas wie "Verpiss dich!" wappnete, warf er mir einen so giftigen, angewiderten Blick zu, dass ich Mühe hatte, ihm stand zu halten. Die hervortretenden Augen zu Schlitzen verzerrt, fletschte er mich an wie ein wütendes Tier. Es war nur ein Moment, eine Sekunde, vielleicht zwei, aber dieser Blick traf mich im Innersten. Dann wandte sich Sherlock, heftig rauchend, wieder dem Fenster zu. Ich musste mich zusammenreißen und zwang mich, die Stufen zu meinem Zimmer hinauf zu steigen.
Dort angekommen sank ich auf meinen Schreibtischstuhl und starrte auf den dunklen Bildschirm meines Laptops.
Meine Gedanken schienen irgendwie festgefahren. Nach einer Weile wurde mir klar, dass ich aus dieser Stimmung irgendwie raus kommen musste. Ich fuhr den Laptop hoch und versuchte, diesen Tag, der beim Chinesen begonnen und geendet hatte zu sortieren.
Sherlock hinter den beiden Fenstern, die Giftpille in der Hand,
Sherlock schlafend auf dem Sofa,
...der entspannte, wortkarg verlaufende Brunch nach ein paar Stunden Schlaf.
Mein Umzug und dann –
die Verpackung des Glückskeks' bei den Tischabfällen, mein alarmierter Instinkt, der mich zum Chinesen sprinten ließ, wo ich fast in Sherlock hineinrannte...
Moriarty. Moriarty ist Sherlocks Fan! ...
Sherlocks herrische Befehle, mein Groll gegen ihn, der plötzlich in Dankbarkeit und Loyalität umschlug:
"Bereit, wenn du es bist!"
... sein allmähliches Auftauen bei unserer Recherche...
seine Mitleid erregende Frustration, als es keine Hinweise gab – und...
„Ein Mensch ohne Freund, ist wie eine trostlose Einsamkeit."
…und das große, traurige Geheimnis hinter dem kleinen Zaubertrick mit den Glückskeksen.
Und dann Sherlocks kurzes Telefonat.
– Ich hatte mich so hintergangen gefühlt. Aber diese Enttäuschung war noch nicht das Schlimmste gewesen.
"...Und du Idiot hast nichts gemerkt!" Und dann dieser vernichtende Blick, eben...voller Abscheu...
"Wenn wir nicht miteinander auskommen, wird es kein Problem sein unsere kleine Zweckgemeinschaft wieder aufzulösen", hatte ich unbekümmert zu Stamford gesagt.
Wie lange war das her? - 53 Stunden? – Es fühlte sich an, als sei das in einem anderen Leben gewesen...und irgendwie war es das auch. Denn das war noch bevor ich Sherlock kannte...
Ratlos checkte ich meine Mails, löschte die Werbung, die sich trotz Spamfilter zu mir verirrt hatte, und fand – eine Nachricht von Alistair, einem Kameraden und guten Freund, der so weit ich wusste, noch in Afghanistan war. Meine Freude war kurz. "Sehr traurige Nachrichten" warnte mich die Betreffzeile. Oh, Gott, wen hatte es erwischt? Als mir ein Aufstöhnen entfuhr, presste ich eine Hand auf den Mund, während ich mit der anderen die Mail öffnete:
„Lieber John,
so lange wollte ich mich schon bei dir melden und wissen, ob du dich inzwischen erholt hast. Aber ich stecke hier so drin, du weißt ja selbst, wie das ist. Ich habe tatsächlich oft an dich gedacht, aber irgendwie immer zur falschen Zeit, entschuldige bitte.
Umso mehr tut es mir leid, dass dir meine Mail sicher großen Kummer bereiten wird. – Wenn du denkst, dass du das noch nicht verkraften kannst, solltest du besser noch nicht weiter lesen, aber ich will auch nicht, dass du es aus irgendeiner x-beliebigen Quelle erfährst."
Alistair hatte eine ganze Menge Leerzeilen gemacht, so dass ich nicht weiter lesen konnte, ohne vorher zu scrollen. Aber ich hatte jetzt schon einen Kloß im Hals und befürchtete das Schlimmste.
„Es hat einen üblen Überfall auf unser Camp gegeben. Ian und Brian waren fast sofort tot, dazu hat es einige von den Frischlingen erwischt, die du nicht kennst, und Duncan, dem armen Teufel, hat es beide Beine abgerissen. Anfangs war er natürlich nicht transportfähig und blieb im Lazarett. Tom, Connor und ich besuchten ihn so oft wie möglich – und auch einige von den anderen – redeten ihm zu, schwiegen mit ihm, weinten mit ihm... Ärzte erzählten von tollen neuen medizinischen Möglichkeiten, du weißt ja, wie das ist. In der fünften Nacht, in der Nacht, bevor er nach London geflogen werden sollte, fiel im Lazarett ein Schuss. Irgendeiner von uns hatte Duncan seinen Revolver gebracht, damit er sich selbst eine Kugel in den Kopf jagen konnte.
Wir sind alle noch richtig fertig deswegen und die Ermittlungen, die jetzt angelaufen sind, machen es fast unerträglich. Wenigstens musstest du das nicht miterleben. Ich hoffe, du wirst über dieser Nachricht nicht verzweifeln, zumal ich ja keine Ahnung habe, in was für einer Verfassung du bist. Anfang November warst du ja noch völlig traumatisiert. Bitte melde dich bei mir! Ich weiß, dass es schwer für dich sein wird, diese Mail zu schreiben, aber du musst wissen, dass ich gar nicht erwarte, dass mich eine Mail oder was auch immer trösten könnte nach diesem Desaster – und auch, dass ich an meiner Mail drei mühsame Stunden geschrieben habe, weil mir immer wieder die Worte versagten. Deshalb, bitte, antworte!
Alistair "
Erst als ich mich aufstöhnen hörte, merkte ich, dass ich die komplette Mail mit angehaltenem Atem gelesen hatte. In meinem Innern begann das Kopfkino zu laufen. Heiße Tränen schossen mir in die Augen, ich ballte die Fäuste und krümmte mich unter lautlosem Schluchzen. Keuchend versuchte ich, mich wieder in meine Gewalt zu bekommen. Als es mir einigermaßen gelungen war, wankte ich in das angrenzende Duschbad und schüttete ein Glas Leitungswasser in mich hinein. Mein bleiches geschocktes Spiegelbild sah mir entgegen.
Ich versuchte, mich zu sammeln. Alistairs eindringlicher Bitte würde ich natürlich nachkommen. Egal wie mühsam es sein würde.
Auch ich brauchte endlos für meine Antwort. So erbärmlich kurz sie auch war.
„Lieber Alistair,
zuerst – du brauchst dich nicht zu entschuldigen, ich weiß, wie das manchmal ist.
Was mich anbelangt, meine Schulter ist ziemlich gut verheilt und die psychosomatischen Symptome sind fast vollständig abgeklungen. Auch seelisch bin ich wieder recht stabil – naja – vielleicht – gewesen: Denn natürlich hat mich deine Nachricht geschockt, aber du hast recht, es war besser, sie von dir zu erhalten.
Was soll ich sagen… Es ist entsetzlich!
Sieh zu, dass du bald am Stück nachhause kommst! Und grüß die anderen Jungs von mir.
Ich finde keine Worte mehr.
John "
Links neben mir das ohrenbetäubende Rattern, rechts spüre ich Bills keuchenden Atem, als wir im Schützengraben kauern. Granaten schlagen ein, Schreie… gebellte Befehle. Die gepanzerten Jeeps der Angreifer explodieren unter unserem Beschuss – Der Kommandierende Offizier unsres kleinen Spähtrupps nickt mir zu. Ich wende mich nach hinten. „Zur Einschlagsstelle auf drei Uhr! – Jetzt!" Ich sprinte los, Bill neben mir, die anderen folgen uns, während Alistair und Duncan sich bemühen, uns Feuerschutz zu geben, falls sich doch noch einer unserer Angreifer rühren sollte.
Ein Warnruf – da sehe ich die Granate kommen, reiße Bill mit mir zur Seite und nach zwei Schritten geht sie hoch. Wir werfen uns zu Boden, die heiße Druckwelle walzt über unsere Körper, drückt uns in den Dreck. Kraftlos hebe ich den Kopf und sehe zu Bill hinüber, sehe wie er zittert und zu lächeln versucht. Noch einmal rattern die Geschütze los. Wir können nur im Dreck liegen bleiben und warten, bis es vorüber ist. Wo ist nur diese verdammte Granate hergekommen? Ich taste nach Bills Hand und merke, dass ich ebenfalls zittere. Unsere Hände verschränken sich und wir werden nicht mehr loslassen bis Stille eingetreten ist… Plötzlich hagelt es Granaten, Explosion um Explosion um uns herum. Das ist falsch! Das kann nicht sein! Wo kommt das her? Aus dem Himmel...? Gott...!
– Bitte, Gott, lass mich leben! denke ich. –
Ich schreie meine Panik heraus und der Donner der Detonationen, schluckt meine Stimme vollkommen.
„John! John! Aufwachen! Hörst du mich!"
Es ist Sherlock. Er hat mich gepackt und wachgerüttelt. Jetzt lässt er mich los und ich sinke zusammen, Sherlock richtet sich auf und macht einen kleinen Schritt rückwärts... Völlig ausgepumpt ringe ich nach Atem und irgendwo zwischen Schock und Scham wird mir bewusst, dass ich schlotternd und im Schlafanzug vor Sherlock liege und ein aufkeimender Weinkrampf meine Kehle würgt.
Nicht! Watson! Nicht weinen! Reiß dich zusammen! Hör auf zu zittern! Es war ein Alptraum! Watson! Wie viele hattest du davon schon? Krieg dich wieder ein!
Sherlock stürzt hinaus. Ich presse die Handballen in meine Augenhöhlen und versuche ruhiger zu atmen. Plötzlich – nach einigen Sekunden – spüre ich etwas neben mir, die Matratze hat sich abgesenkt. Überrascht nehme ich die Hände von den Augen. Sherlock. Er hat mir mein Zahnputzglas mit Leitungswasser gefüllt und sitzt auf meiner Bettkante.
Ich richte mich auf, straffe, soweit ich dazu in der Lage bin, meinen Rücken und Sherlock lässt mich dabei nicht aus den Augen. Ich versuche mit fester Stimme zu sprechen. "Danke..., Sherlock..." Es klingt nicht besonders gut. Ich nehme das Glas entgegen, aber meine Hand zittert so heftig, dass ich die zweite zu Hilfe nehmen muss. Trotzdem droht das Wasser aus dem Glas zu schwappen und zu alledem flammt auch noch Zorn in mir auf, weil ich nicht verhindern kann, dass Sherlock mich so sieht… – Erschreckt fühle ich plötzlich. wie sich Sherlocks Hände um die Meinen schließen – sie sind warm, mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass sie warm sein könnten... – er führt das Glas an meine Lippen, ohne dass ich es loslassen muss. Es ist eine unorthodoxe Methode und weit entfernt von dem, was ein Pfleger machen würde, aber obwohl es so unpraktisch ist, macht er es unglaublich geschickt, aber vor allem ist es so unendlich viel mehr, als ich von Sherlock erwartet hätte erst recht nicht nach dem gestrigen Abend. Sherlock hat seine Hände wieder zurückgezogen und wartet. Ich widerstehe dem Drang, mich einfach wieder nach hinten fallen zu lassen, schöpfe tief Atem und gestehe: "Du hattest vollkommen recht. Ich hätte an das denken sollen, was dein Bruder gesagt hat – und wenn in diesem Hinterhof jemand war, dann hätte ich ihn verdammt noch mal entdecken müssen! Freund oder Feind." Keine Reaktion. – Ich hätte Mycroft nicht erwähnen sollen. Blöder Fehler!
"Was – hat Mycroft gesagt?" Sherlocks Stimme klingt ein klein wenig – lauernd...
"Dass sich an deiner Seite London als Schlachtfeld darstellt."
"Das klingt sehr nach Mycroft."
Seine Augen wandern zu meinem Laptop. "Gefallene Kameraden", murmelt er tonlos.
Es ist eigentlich kein Nicken. Ich lasse bloß den Kopf etwas nach vorn fallen. "Deduzier' mich jetzt bitte nicht", bringe ich leise hervor.
"Nicht gut." Es ist eigentlich keine Frage.
Ich versuche zu lächeln: "Nur ein bisschen 'nicht gut'." –
"Das Beobachten und Deduzieren geht ganz automatisch. Ich werde es für dieses Mal für mich behalten." –"Danke...und danke, dass du mich geweckt hast." Mein Blick gleitet an ihm herunter: Hemd, graue Hose... "Du hast nicht geschlafen", stelle ich fest und im gleichen Augenblick wird mir klar, dass diese Bemerkung eine neue Debatte auslösen könnte. Atemlos warte ich auf eine Retourkutsche.
"Geht es dir etwas besser?" überrascht sehe ich in seine Augen, spüre dass ich anfange zu lächeln "Geht schon wieder, danke." Er steht auf und geht zur Tür, fast schon draußen, sieht er mich mit einem Auge an, weil sein Gesicht zur Hälfte schon von der Tür verdeckt ist, sagt: "Gute Nacht" und schließt die Tür hinter sich.
Ich höre, wie er die Treppen hinunter eilt und zwei, drei Sekunden später wird mir klar, dass er die Tür im ersten Stock nicht wieder geschlossen hat, um noch besser hören zu können, ob ich wieder zu schreien anfange.
Ich rolle mich zusammen und starre in die Dunkelheit. Bilder aus meinem Traum zucken durch meinen Kopf wie Mündungsfeuer... Gegen Ende war er völlig surreal geworden. Es hatte, nachdem Bill und ich im Dreck lagen noch drei Einschläge in unserer Nähe gegeben und Gegenfeuer von unserer Seite. Dann war es vorbei. Diesmal wirklich. Aber von meinem Sanitätsteam hatten nur Bill und ich überlebt und von den Verwundeten konnten wir nur wenige wirklich retten.
Ich versuchte, die Erinnerung auszublenden. Es genügte vollkommen, wenn mein Unterbewusstsein mich mit Alpträumen zu therapieren versuchte.
Warum hatte Sherlock mich geweckt? Hatte ihn mein Geschrei beim Denken gestört? Ich glaubte und ich wollte es glauben, dass es doch mehr war... Wie er da gestanden hatte – in einer ungelenken Pose erstarrt…während ich versuchte, mich wieder in den Griff zu kriegen. Als er hinausgestürzt war, war ich überzeugt gewesen, dass er aus einer Situation flüchten wollte, mit der er nicht umgehen konnte – ! Es war etwas, das er noch nie gemacht hatte. Aber er hatte es gemeistert. Jedenfalls besser, als ich erwartet hätte. Ich musste Geduld mit ihm haben.
Jedenfalls war er anscheinend gewillt, Geduld für mich aufzubringen!
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Enigmas
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1. Februar
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich abgeschlagen und war immer noch leicht zittrig. Wirklich gut geschlafen hatte ich nicht, aber zumindest konnte ich mich an keine weiteren Albträume erinnern. Ich blieb noch eine Weile liegen, bis mein Kreislauf sich einigermaßen in den Tag-Modus hochgefahren hatte, stand dann auf und machte mir in meinem Zimmer einen Tee, denn der Gedanke, hinunterzugehen und Sherlock nach dem Zwischenfall von letzter Nacht wieder gegenüber zu treten, war mir unangenehm. Mein Blick irrte zum Laptop hinüber… – ich fühlte mich immer noch erschüttert und merkwürdig leer. Ich hatte Angst um meine Kameraden und mir wurde bewusst, dass ich die ganzen letzten zwei, drei Monate die Gefahr, in der sie permanent schwebten, völlig verdrängt hatte. Töricht… Aber meine Psyche wäre wohl einfach nicht auch damit noch fertig geworden. Psychologisch war das einfach zu erklären und entschuldbar. Trotzdem bereitete mir meine Egozentrik jetzt ein schlechtes Gewissen.
Ob ich mich mit dem Bericht über den Fall ablenken konnte? Ich kam zu dem Schluss, dass ich es versuchen musste und begann mit Stichpunkten. Als ich damit – meiner Ansicht nach – fertig war, stellte ich fest, dass ich im Augenblick zu weiteren Arbeitsschritten nicht in der Verfassung war. Geräusche drangen aus der ersten Etage. Klappern und Rumpeln, dazwischen Schritte. Ich beschloss nachzusehen.
Als ich das Wohnzimmer betrat, war ich überrascht, festzustellen, dass Sherlock erneut begonnen hatte, seine Habseligkeiten in die Regale und Schränke zu sortieren. Bis zu unserem Besichtigungstermin vorgestern, hatte er ungefähr gut die Hälfte eingeräumt – jedenfalls, was das Wohnzimmer anging. Er hatte wirklich eine Menge Zeug.
„John", sagte er nur.
„Guten Morgen, Sherlock. Ich bin überrascht. Was ist mit dem Fall?" „Unzureichende Daten. Alles, was ich aufgrund der bisherigen Informationen durchdenken konnte, habe ich erledigt. Möglich, dass es auch übermorgen nichts Neues gibt, aber Moriarty wird sich mit Sicherheit wieder melden."
Ich setzte mich in den altmodischen Sessel am Kamin und fragte mich, ob Sherlock nach dieser Erkenntnis noch etwas geschlafen hatte, aber ich wollte diese Frage auf keinen Fall stellen, denn selbst so ein Soziopath wie Sherlock könnte dadurch auf die Idee kommen, mir eine entsprechende Gegenfrage zu stellen und auf den Vorfall von letzter Nacht zurückkommen und ich mochte wirklich nicht darauf angesprochen werden. Im Übrigen wirkte Sherlock geradezu energiegeladen auf mich. Ich beobachtete ihn eine Weile und stellte fest, dass es unterhaltsam war, seine geschmeidigen Bewegungen zu verfolgen, …wie denen einer Raubkatze im Zoo.
Ich begann, die Zeitung durchzuarbeiten und wir verbrachten eine ganze Weile schweigend in einem Raum und ich war insgeheim froh, dass mich Sherlock noch nicht mal gefragt hatte, ob ich gut geschlafen hätte. Besser, wir vergaßen das Ganze.
Ein kleiner Alarmton kündigte eine eintreffende Nachricht an und Sherlock lief über den Couchtisch zum Laptop, der auf geklappt auf der Rückenlehne des Sofas stand. Während Sherlock sich auf das Sofa fallen ließ, schnappte er das Gerät, um es am Herunterfallen zu hindern. Es sah gleichzeitig kindlich und beeindruckend aus und dabei so koordiniert und zielsicher, dass klar war, dass er so was ständig machte. Ich musste grinsen. Ich dachte an unsere wahnwitzige Jagd nach dem Taxi… – hätte mir irgendjemand vorhergesagt, dass ich auf meine alten Tage Parcours über Londons Dächer turnen würde, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Dafür wohnte ich jetzt selbst mit dem verrücktesten Kerl zusammen, den ich je getroffen habe… – Bereit, wenn du es bist! – wiederholte ich in Gedanken.
„Wie ist es mit Mittagessen? Wir haben einiges da…", schlug ich vor. „Tu, wonach immer dir ist…" Ich sah zu Sherlock, denn es klang, als sei er auf irgendetwas ganz anderes konzentriert und ich musste feststellen, dass er lauernd in den Bildschirm starrte. An seiner Nasenwurzel bildete sich eine doppelte horizontale Falte, seine Oberlippe war ein wenig hochgezogen…Verachtung? Ekel? Etwas in der Richtung. „Was ist los? Ein Fall?" „Sieh selbst." Er drehte den Laptop schwungvoll um 90 Grad nach links, zu dem Sessel, der mit der Lehne zur Tür stand, ich wechselte den Sitzplatz und sah auf Sherlocks Website folgendes:
"Sherlock Holmes Verborgene Nachrichten
Verborgene Nachricht #1
Anonymous:
"Ich habe dir eine kleine Nachricht geschickt. Ein kleines Spiel zum Spielen, ich mag Spiele."
'Liebster Sherlock,
ein römischer Kaiser wird dir helfen, herauszufinden, was das bedeutet.
DSPCWZNV T LX HLENSTYR JZF
xx '
„Anonymous?" fragte ich.
Wortlos glitt Sherlocks schlanke Linke auf den Touchpad des Laptops, das Display wechselte ins Forum und ich las:
„Anonymous: Eines Tages werden wir einander kennen lernen.
SH: Oh, das ist lahm.
Anonymous: Du weißt nicht, wer ich bin.
SH: Nein, aber Sie verwenden Phrasen wie „Eines Tages werden wir einander kennen lernen", wenn Sie mich schon bedrohen oder stalken wollen, oder was immer das hier werden soll, benutzen Sie wenigstens Ihre Fantasie!" – "
Ich konnte nicht ganz verhindern, dass mich ein Schauder überlief, denn in meinem Kopf spulten sich zwei völlig andere Szenen praktisch gleichzeitig ab, denn ich assoziierte augenblicklich Sherlock, dessen Gesicht plötzlich auf das meine zu schnellte und mir zu zischte: „Wenn DU im Sterben lägest, wenn du ermordet worden wärest, in deinen allerletzten Sekunden – WAS würdest du sagen?" – Bitte, Gott, lass mich leben! – „Benutz' deine Vorstellungskraft!" – Das muss ich nicht. – …und dazu startete mein Kopfkino zu Alistairs Mail von letzter Nacht. Mit äußerster Konzentration brachte ich mich wieder unter Kontrolle – vielleicht nach zwei Sekunden – vielleicht brauchte ich auch länger – ich hatte kein Zeitgefühl für die Dauer dieser aufkeimenden Attacke.
„John?" Er hatte es trotzdem gemerkt. Ich beschloss, mich dumm zu stellen und begann grübelnd: „Ich – weiß nicht… Es wirkt – kindisch…aber das könnte täuschen. – Gibt's mehr von ihm?" Sherlock musterte mich misstrauisch von der Seite und ich fragte mich verärgert, wie lange das eben gedauert haben konnte, dass ich am Rand einer kleinen Panikattacke gestanden hatte. Sherlock zögerte einen Augenblick – und ich war erleichtert, dass dieser Augenblick verstrich, ohne dass er mich fragte, ob ich in Ordnung sei, stattdessen zeigte er mir die aktuellen Einträge:
„SH: Ein weiterer Fall gelöst. Irgendwas? Irgendjemand? Will mich denn alle Welt an Lethargie sterben lassen?! "
Ich war sprachlos! Ich hatte ja schon die ein oder andere Pose von Sherlock gesehen in dieser kurzen Zeit, aber jetzt begann ich zu verstehen, wieso Mycroft behauptet hatte, sein Bruder liebe es, dramatisch zu sein! Was war DAS denn? Und dann drei Fragezeichen und vier Ausrufezeichen? Wie alt war der Mann? 12?
"Was?! – wann hast du das denn geschrieben? – Gestern? Gestern Morgen um neun?"
"Unwichtig." Er wedelte mit einer Hand vor seinem Gesicht herum. „Darunter."
Ich las:
"Anonymous: "Ich habe dir eine kleine Nachricht geschickt. Ein kleines Spiel zum Spielen, ich mag Spiele."
SH: Ein Geheimcode. Damit kann ich mich nicht befassen.
Anonymous: Den wirst du mögen.
SH: Nicht ein bisschen. Bin schon total gelangweilt. Mag irgendjemand da draußen das für mich dechiffrieren? Einzelheiten auf der Seite verborgene Nachrichten."
Wahnsinn, jetzt konnte ich schon sein dazu passendes, gelangweiltes Brummen in meinem Kopf hören, während ich das las. Mein Gehirn fing an, Sherlocks geschriebene Äußerungen zu synchronisieren – wie schräg war das denn?
„Hast du schon eine Idee?" fragte ich meinen Mitbewohner.
„Nein. Ich KENNE den Code. Ich werde mich damit nicht befassen."
„Aber du hältst für möglich, dass es – dein – Fan ist?"
„Wahrscheinlich."
„Wieso willst du das nicht angehen?" Ich erntete – oh, wie oft schon in diesen nicht mal drei Tagen? – diesen genervten Blick, der zu sagen schien: „Ist das nicht offensichtlich?"
„Weil es WIEDER kein brauchbarer Hinweis sein wird, sondern eine nichts sagende Drohung, wie in dem Glückskeks oder was ähnlich Unspezifisches."
„Aber du denkst, es ist – wer oder was auch immer – Sponsor unseres Lieblingstaxifahrers – Moriarty…auch wenn er sich einmal mit M abkürzt und sich hier Anonymous nennt...?"
„Ich überlasse es dem Internet", sagt Sherlock lässig. „Irgendjemand wird das kleine Rätsel lösen."
Das war keine Antwort auf meine Frage... und das wusste er.
„Und das war's?"
Sherlock zuckte die Schultern und lächelte mich an. Wie ein unbekümmerter Teenager. So what? Er stieg wieder über den Couchtisch und fuhr fort, Bücher einzusortieren. Nach ein paar Sekunden sagte er: "Schau dich auf dem Forum um, wenn du magst – es ist meine offizielle Website…"
Ich las weiter:
"Sherlock Holmes Verborgene Nachrichten
Verborgene Nachricht #1
Das ist für die Internet-Geeks da draußen: Anonymous hat sich wieder gemeldet.
"Ich habe dir eine kleine Nachricht geschickt. Ein kleines Spiel zum Spielen, ich mag Spiele."
Und in der Tat hat er mir geschrieben:
'Liebster Sherlock,
DSPCWZNV T LX HLENSTYR JZF
xx '
Offenkundig ist es ein Geheimcode. Ihr bekommt das heraus. Ich werde die Lösung noch diese Woche senden.
Danke, Sherlock."
Okay, das sah ihm ähnlich! Ob diese halbherzige Aufforderung wirklich jemanden ermuntern würde, sich mit dem Rätsel zu befassen? Ich war ja selbst wirklich niemand, der sich im Netz heimisch fühlte – manche dieser Abkürzungen oder Emoticons z. B. waren total kryptisch für mich, aber ein bisschen mehr Netiquette hätte Sherlocks – ja was? Hilferuf? – wie nennt man einen desinteressierten, gelangweilten Hilferuf… – ? Okay, Sherlock forderte es heraus, dass seinetwegen neue Wörter erfunden wurden, aber dafür war ich sicher nicht der Richtige. Aber wie auch immer: Ich beschloss, ein bisschen nachzuhelfen, wenigstens mit meinen bescheidenen Mitteln. Einen Moment überlegte ich, dann war mir klar, es wäre Schwachsinn, Sherlock so etwas zu sagen wie ‚ich bin dann mal oben' – er bekam es ja mit. Ich ging also wortlos in den zweiten Stock und postete folgendes:
1. Februar
Geheimcode
Verzeihung, ich schreibe noch an dem, was vorletzte Nacht passiert ist, aber in der Zwischenzeit hat Sherlock eine Mitteilung oder so was empfangen. Er sucht Leute, die ihm dabei helfen können.
Wenn Sie Lust haben, dann nur zu und gehen Sie auf seine Seite: Die Wissenschaft der Deduktion.
– senden –
Zufrieden mit meiner kleinen Hilfestellung, speicherte ich den Eintrag – dann überfiel mich vom einen auf den anderen Moment die Erinnerung an die vergangene Nacht und ich floh aus dem Zimmer. Vor der Tür, hinter der das Wohnzimmer lag, stoppte ich. Lehnte mich an die Wand. Keuchend. Zittrig…mit weichen Knien...
– Watson! Reiß dich zusammen, verdammt...!
Nachdem ich mich gesammelt hatte, wischte ich mir mit dem Ärmel den kalten Schweiß von der Stirn, betrat erneut den ersten Stock und setzte mich wieder in den alten Sessel am Kamin. Nach einer Weile fragte ich:
„Du bist tödlich gelangweilt, aber das Rätsel willst du nicht lösen?"
Wieder dieses Abwinken. „Es wird ein Verschiebungsode sein, wie ihn Julius Cäsar verwendet hat, man ersetzt einfach jeden Buchstaben durch einen anderen, der soundso viele Stellen weiter hinten im Alphabet steht. Immer der gleiche Abstand. Es ist langweilig." –„Willst du mir nicht, beweisen, dass du es kannst?"
Aufgebrachtes Schnauben. Dann sehr kühl: „Ich würde bei Rätseln von Anonymus immer mit dem K anfangen…" – „K…?"
Er stöhnte theatralisch: „John, bitte! Es ist so offensichtlich! K ist relativ selten! Und mein Vorname MUSS vorkommen."
Sein…. – klar! Arroganter Kerl….
„John! Es gab Leerschritte – ! Die Anzahl der Buchstabengruppen! Das erste Wort MUSS mein Vorname sein, ich müsste nur von dem achten Buchstaben aus zählen bis ich zum K komme und vielleicht zur Kontrolle noch die Probe bei einem weiteren machen. Und danach folgt ein Wort, das aus nur einem einzigen Buchstaben besteht. Das ist entweder „ein" aber das ergäbe wohl keinen Sinn – oder „Ich". Bei einem größenwahnsinnigen Kriminellen in einem so kurzen Text ist es ganz bestimmt „ich"! Alles pures Abzählen. Langweilig!"
Ich verkniff mir die Bemerkung, dass er wirklich unbeschreiblich faul sein konnte, denn immerhin war er grade dabei, aus dem halben Chaos in unserem Wohnzimmer etwas zu machen, das von Minute zu Minute gemütlicher aussah. Stattdessen lief ich nach oben und ergänzte in meinem Blog:
"Könnte der Römische Kaiser möglicherweise Cäsar sein?"
Danach begab ich mich umgehend in die Küche. Es war schon eine ganze Weile her, dass ich eine richtige Küche zur Verfügung gehabt hatte. In der kläglichen kleinen Kochnische in meinem vorigen Apartment hatte ich sowieso keine Lust zum Kochen gehabt... Ich bin kein Hobbykoch, aber imstande, eine anständige Mahlzeit zubereiten – meistens mit den üblichen Hilfsmitteln – und damit auch das ein oder andere Mädchen ein wenig mehr für mich einzunehmen. Gut, wenn der Snob nicht mitaß, hatte ich einfach eine zweite Portion für heute Abend oder Morgen zum Aufwärmen.
Sherlock sortierte weiter Bücher ein. Ich setzte Nudelwasser auf – nur wenig salziger als isotonische Kochsalzlösung, briet das Hackfleisch in Öl an, knöpfte mir eine der Zwiebeln vor, und beendete vorzeitig die Produktion von Würfelchen, als ich der Ansicht war, dass ich jetzt genug geheult hätte und meine Schleimhäute ausreichend zugeschwollen wären. Ich kippte die Zwiebelwürfel in die Pfanne. Die Karotte zu raspeln war dagegen wie Urlaub. Das Nudelwasser kochte, ich maß die Fusilli mit einer Tasse, genug für zwei ausgewachsene Männer. – Ich esse und koche nie Spaghetti, ich esse überhaupt nie lange Nudeln – ich bin zu ungeschickt, sie zu essen. Ein Blick auf die Uhr, – den Pfanneninhalt in einen größeren Topf, Sugo, umrühren, etwas Parmesan und köcheln lassen.
Die absurde Unterhaltung bei Angelo kam mir in den Sinn… Ich bin nicht sein Date! – oh, Mann… Angelo war schon der Zweite an dem Tag gewesen! Nach Mrs Hudson – oh, und abgesehen von den neckischen Anspielungen eines gewissen mysteriösen Gentleman... "Es gibt ein weiteres Schlafzimmer eine Treppe höher, wenn Sie zwei Schlafzimmer brauchen…" – Natürlich brauchen wir zwei Schlafzimmer!? – Und dann hatte sie irgendwas erzählt, dass die Nachbarin Mrs Turner auch zwei Mieter hätte, die verheiratet wären… Und dann natürlich der Kommentar von Bill am nächsten Tag! Da konnte ich mich ja auf einiges gefasst machen… Und Sherlock?
...„Nein, Freundinnen sind nicht wirklich mein Gebiet…" – Mh, gut… Dann – hast du einen Partner – was in völlig Ordnung wäre… – "Ich weiß, dass es das wäre..." – „Dann hast du also einen Partner? „Nein." – Gut…Okay. – Du bist ungebunden, wie ich…gut… – „John, äh – ich denke, du solltest wissen, ich betrachte mich als mit meiner Arbeit verheiratet und ich bin zwar geschmeichelt, aber ich suche – wirklich – keine…" – Oh, Gott! Ich hatte ihn unterbrochen bevor es wirklich unwiderruflich, endgültig eindeutig wurde – aber es waren wirklich schon viel zu viele Worte gefallen und ein weiteres Mal, ein weiteres unzähliges Mal in meinem Leben verfluchte ich mein ungeschicktes, loses Mundwerk.
…"Ein Mensch ohne Freund, ist wie eine trostlose Einsamkeit"…
Der Gedanke an diesen Spruch aus dem Glückskeks, brachte mich dazu, heftig in der Soße herum zu rühren.
Dann waren die Nudeln fertig. Ich drehte die Herdplatten aus, goss die Nudeln ab, machte mir eine Portion mit ordentlich viel Parmesan zurecht und setze mich an den Tisch zwischen den Fenstern, auf die Seite zum Kamin hin…
„Sherlock? – Nimm dir was von der Pasta, wenn du magst. Ist reichlich da." – „Später vielleicht, danke…" murmelte er immer noch ins Bücher Einsortieren vertieft.
Ein Alarmton vom Laptop, wieder wirbelte Sherlock herum, sprang in den Sessel an der Tür, in dem ich zuletzt gesessen hatte und der dabei kurz bedrohlich ins Wanken geriet – und spähte, auf der Sitzfläche hockend, auf den Bildschirm. Dann hob er den linken Arm und winkte mich mit einer fahrigen Bewegung heran, ohne seine Augen vom Laptop zu nehmen.
Ich stand auf und kam mit meinem Teller zum Couchtisch und setzte mich links neben Sherlock in den Sessel, und bekam zu sehen, dass ein Typ mit einem albernen Nickname gemailt hatte:
"Hallo, Sherlock,
du hättest auch direkt mich fragen können, es heißt:
Sherlock, ich beobachte dich!
Verschiebungschiffre wie bei Cäsar. Jedes Mal 15 Positionen später.
Ich habe dir ein kleines Java-Script gebastelt, um die Lösung zu enthüllen, das du gerne verwenden kannst.
(Dann kam ein Link zu Wikipedia und)
Gerne wieder!"
Sherlock lächelte sein Siegerlächeln. Ich konnte nicht anders, als schmunzelnd den Kopf zu schütteln. Sherlock kannte offenbar jemanden – mehrere womöglich – da draußen, die nur darauf warteten, dass er ihnen solche Brocken hinwarf. Sherlock tippte im einwandfreien 10-Finger-System. Beneidenswert. Aber das war ja nicht anders zu erwarten. Es gab noch einen Alarmton. Dann zeigte er mir folgendes:
„Anonymous: Du hast meine Mail bekommen?
SH: Ja. Und wir haben deine erste Botschaft entschlüsselt. Wirklich Furcht erregend!
Anonymous: Ich hoffe, das ist kein Sarkasmus?!
SH: Oh nein, natürlich nicht! Falls irgendjemand die zweite Nachricht dieses Idioten entschlüsseln möchte, seht nach bei den verborgenen Nachrichten.
Anonymous: Du wirst es nicht selbst machen? Ich muss deine Aufmerksamkeit wohl auf andere Weise auf mich ziehen…"
"Diese Weise könnte unangenehm werden", murmelte ich.
Während Sherlock über den Couchtisch latschte, blieb ich dort sitzen und schaufelte meine Pasta in mich hinein. Sie war mir übrigens wirklich gut gelungen. Es war mein Lieblingsrezept, wenn mein Date etwas gegen denaturierte Nahrungsmittel, Glutamat und dergleichen hatte – oder um ehrlich zu sein – nur eines von zweien in dieser Kategorie, das andere war ein Reisgericht, wahlweise mit Fleisch oder lacto-vegetarisch…
Wieder ein Alarm. Diesmal drehte ich den Laptop zu mir. Sherlock sortierte weiter seinen Kram und sagte: "Lies vor." Ich hatte natürlich gerade einen Löffel voll in meinen Mund geschaufelt. „John?" – „Hab gen Mungoll!" nuschelte ich vorwurfsvoll. „Dann schluck!" War ja klar – jetzt musste ich mich zusammennehmen, mich nicht zu verschlucken! „Momeng...! – so also:
"Hallo, Sherlock,
– wenigstens schreibt er nicht wieder 'Liebster'!" stellte ich fest.
„Exakt den Wortlaut", tadelte Sherlock mich. Das hatten wir doch schon mal... „ Okay.
"Hallo, Sherlock, SOM ...
– muss ich das wirklich alles buchstabieren?"
„S! O! M!" bekam ich nur genervt zur Antwort, also fuhr ich fort:
"NEHCCGTEKO – "
„Das reicht." „Du weißt wie's geht?" „Weiterer Text." – „ 'Du wirst nie herausfinden, wer ich bin. Ich lebe nicht hinter Gittern.'"
Ich verstummte, als Sherlock theatralisch aufstöhnte.
"Noch was?" fragte er. – „ ‚Tschüss und zwei x!' " –
Nein, ich werde nicht „Küsschen" sagen, dachte ich – was ist das für eine Tunte?! Hinter mir hörte ich Sherlocks Stimme, während er immer noch einräumte „Anonymous hat sich wieder gemeldet. Danke für die, die – " Zuerst erstaunte mich der Tonfall, dann dämmerte mir, was das hier werden sollte: „Sag' mal, DIKTIERST du mir etwa?" fragte ich entgeistert.
„Ist das nicht offensichtlich?" –
„Also wirklich, Sherlock, ich esse gerade und außerdem kann ich kein 10-Fingersystem. Du kannst das viel schneller."
Er seufzte genervt – im nächsten Moment sah ich seinen Fuß direkt neben meinem Teller und zuckte zusammen, während Sherlock schon auf der Couch landete. Er drehte sich den Laptop um 180 Grad und ich hörte, dass er tippte…wie ein Weltmeister. Ich bemühte mich, desinteressiert auszusehen und aß erst mal auf. Als ich abgewaschen hatte, kam ich zurück und trat neben die Couch und las auf dem Bildschirm:
„Sherlock Holmes Verborgene Nachrichten
Verborgene Nachricht #2
'Anonymous' hat sich wieder gemeldet.
Danke für die, die seine erste Botschaft entschlüsselt haben. Offensichtlich. Furchterregend!
Das ist seine 2. E-Mail:
"Hallo Sherlock,
SOMNEHCCGTEKOTYRIMOOLAIGU
Du wirst nie herausfinden, wer ich bin. Ich lebe nicht hinter Gittern.
cheers
xx '
Du brauchst mir keinen Hinweis zu geben. – Sherlock"
„Dann weißt du auch diesmal wirklich, was es für eine Art Code ist?" – ein qualvolles Seufzen…wirklich Mitleid heischend –
„So offensichtlich und dann auch noch ein Hinweis! John! Das ist wirklich eine Kränkung!" Ich grinste in meinen Teller und genoss einfach seine kindische Frustration.
„John, sieh dir die Buchstaben an. Was fällt dir auf?"
„Naja, dein Vorname, lässt sich daraus schon mal bilden… also sind es wohl schon die richtigen Buchstaben", sagte ich langsam, um Zeit zu gewinnen.
„Gut…"
„Den Rest…"
Sherlock seufzte, kopierte die verschlüsselte Nachricht, wechselte in die Textverarbeitung und fügte die Buchstabenschlange ein. Dann drehte es das Gerät zum Sessel links neben sich. Ich setzte mich seufzend. Sherlock seufzte ebenfalls.
„Wie viele Buchstaben?"
Ich markierte die Zeile und überließ diese Arbeit Word.
„25."
„Was ist an dieser Zahl besonderes?" –
Ich hatte keinen Schimmer, worauf er hinaus wollte und ich sagte:
„Keine Ahnung, meine Erythrozyten haben grade alle ein Meeting in der Magengegend." Im nächsten Moment wurde mir klar, wie ungeschickt das war, nun hatte ich Sherlocks Argument, nichts zu essen während er einen Fall bearbeitete, auch noch unterstützt. Bestens!
„John", stöhnte Sherlock. „Es ist eine Quadratzahl! Gitter! – Eine Gitter-Chiffre! Probier's aus. Mach dir eine 5x5 Tabelle und setz' die Buchstaben der Reihe nach ein, dann wirst du schon sehen, was passiert."
Ich gehorchte und als ich mit der zweiten Zeile anfing, begriff ich das System und sagte:
„Wenn es dich so wenig interessiert, kannst du ebenso gut etwas essen – mag sein, dass die Soße vom Aufwärmen besser wird, aber die Nudeln nicht." Mehr würde ich dazu nicht sagen – nicht heute jedenfalls. Sherlock ließ sich nicht beirren, er wollte endlich alles an seinem Platz haben – eigentlich war das begrüßenswert – hatte ich mich doch vorgestern fast schon gefragt, ob er möglicherweise ein kleiner Messie sein könnte.
"Sherlock, ich komme und werde dich kriegen!" las ich mein Ergebnis vor.
"Was?! – " Er starrte mich einen Moment irritiert an. "Ach so, ja, es musste was in der Art sein." Ich schmunzelte über seine anfängliche Verwirrung, obwohl ich es völlig unabsichtlich so ohne Einleitung gesagt hatte.
Gleiche Aktion von Sherlock, er schrieb einiges, dann drehte er mir den Laptop zu, zeigte mir, dass er die Lösung des zweiten Rätsels veröffentlicht hatte.
Anschließend stieg wieder über den Tisch und fuhr unbekümmert fort, Bücher einzusortieren.
"Welche Kulisse hat Mycroft für deinen unfreiwilligen Vorstellungstermin übrigens ausgewählt?" fragte Sherlock beiläufig. "Oh, ich kam mir vor wie in einem Agentenfilm..." "Er hat die Nummer mit den CCTV-Kameras abgezogen", vermutete Sherlock. "Ja, als ich versuchte, in Brixton ein Taxi zu rufen, klingelte es in einer leeren Telefonzelle, später in einem Laden, dann wieder in einer Telefonzelle – normale Menschen rechnen mit so was nicht, normalen Menschen, passiert so etwas nicht." Sherlock kicherte in sich hinein. "Er stand in einer Lagerhalle oder so, wo er einen einzelnen Stuhl hatte aufstellen lassen. Es war so surreal." – "Wie war euer Gespräch?" "Du willst jetzt hoffentlich nicht den exakten Wortlaut, ich bin Arzt, kein Diktaphon." – "Versuch es."
„….okay… Zuerst habe ich gesagt... eh: Wissen Sie, ich habe ein Telefon. Ich meine, das ist zwar alles sehr clever – aber, Sie hätten mich einfach anrufen können. Auf meinem Telefon.
Er: Wenn man Sherlock Holmes' Aufmerksamkeit vermeiden will, lernt man, diskret zu sein, daher dieser Ort. – Dann bot er mir den Stuhl an, aber ich lehnte ab. –
Er: Sie scheinen keine große Angst zu haben.
Und ich; Sie sehen nicht sehr Angst einflößend aus – "
Sherlock lachte kurz auf. "Das hast du gesagt? – unbezahlbar! – obwohl es falsch ist… er ist wirklich gefährlich – für die falsche Seite… Wie hat er reagiert?" –
"Total herablassend natürlich. "Die Tapferkeit des Soldaten. Tapferkeit – "
Sherlock fiel mir ins Wort: " – ist der bei Weitem netteste Ausdruck für Dummheit!" –"Genau, dann – kam er auf dich zu sprechen, den Deal, den er mir anbieten wollte..." Ich wollte nicht sagen, dass er von meiner "Verbindung" mit und "Beziehung" zu Sherlock gesprochen hatte, dann eine Anspielung darauf machte, ob wir uns womöglich schon Ende der Woche verloben würden! Und dass ich "sehr schnell sehr loyal" geworden wäre, brauchte Sherlock auch nicht zu erfahren. Da sollte er lieber glauben, dass ich mich nicht an genaue Formulierungen erinnern konnte.
"Dann kam deine erste SMS – und er vermutete schließlich, es hätten mir sicher schon Leute gesagt, ich solle mich besser von dir fernhalten, er könne aber an meiner linken Hand sehen, dass das nicht geschehen würde." –
"Ah", machte Sherlock leise.
Ich hielt inne, weil mir schlagartig die vergangene Nacht einfiel und ich versuchte, mich dagegen zu wappnen.
"Dann kam der Satz mit – dem …Schlachtfeld... Und er erklärte mir, dass ich einen intermittierenden Tremor in der linken Hand hätte und meine Therapeutin das für eine posttraumatische Störung hielte – er nannte mir ihre genaue Diagnose. – Das machte mich wirklich wütend, aber er befahl mir einfach nur, ich solle sie feuern, weil sie es genau verkehrt herum betrachtet, denn ich wäre jetzt unter Stress aber meine Hand perfekt ruhig..." Ich beschloss, den Rest zu verschweigen, denn dass der Krieg mich eben doch verfolgte, wie ein ruheloser, rachsüchtiger Geist aus einer alten Raunachtgeschichte, hatte mir die vergangene Nacht nur zu deutlich gezeigt.
"Sonst?"
Ich zögerte.
"Dass es Zeit wäre, sich für eine Seite zu entscheiden."
"Nein, John, das ist Unsinn. Melodramatischer Unsinn… – Mycroft – eben. Wir beide kennen uns grade mal drei Tage. Und ich weiß wirklich zu schätzen, was du getan hast... – Wir werden schon herausfinden, ob wir einander ertragen können oder nicht."
Während ich diesen Worten noch verwundert nachlauschte, wurde mir erst richtig bewusst, dass Mycroft sich längst völlig darüber im Klaren war, dass ich Sherlock gerettet hatte und – ja, …anscheinend hatte ich mich bereits für eine Seite entschieden.
Dann kam wieder ein Alarm von Sherlocks Laptop – und ich begann mich zu fragen, wie lange unser Couchtisch das aushalten würde – der Gedanke, dass er eines Tages unter Sherlock zusammenbrechen könnte, ließ mich innerlich grinsen. Aber diesmal…ist etwas anders…, etwas in seinem Blick, das ich noch nicht einordnen kann.
„Sherlock?... alles in Ordnung?
"Hm...? Oh, ja... bestens... – das ist wenigstens etwas origineller…"
Er drehte mir sein Laptop zu.
"Sherlock Holmes!
Das ist ein Bild, das du lieben wirst:
Und dann folgte eine Bilddatei – merkwürdige Winkel oder Quadrate, denen zum Teil eine Seite fehlte, manchmal mit einem Punkt darin.
Darunter stand:
Und? Wo leben die Schweine?
Mwah!
Xx '"
Sherlock drehte den Laptop wieder sich zu – und bestimmt schrieb er so was wie….
„Vielleicht wird das enthüllen, wer mein Stalker ist...
Macht euer Ding. Danke. Sherlock"
Nach diesem letzten Rätsel musste ich noch mal kurz an meinen Blog arbeiten und ergänzen, dass es mehrere Geheimbotschaften sind.
Ich fragte mich allerdings, ob Sherlock dieses Rätsel nicht doch sehr viel mehr Kopfzerbrechen bereitete, als er vorgab…
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to be continued
