It's me

Scullys Apartment, Samstag 18 Uhr

Es war Samstagabend und er hatte sich noch nicht gemeldet. Gelangweilt knipste sie das Licht an ihrem Schreibtisch aus und ließ ihren letzten Autopsiebericht Autopsiebericht sein. Den würde sie auch am Montagmorgen noch zu Ende bringen können. Mit einem gequälten Gesichtsausdruck rieb sie sich den Nacken, dehnte ihre Schultern und sah sich ein wenig ratlos in ihrer Wohnung um. Noch nie hatte Mulder sie ein volles Wochenende in Ruhe gelassen. Spätestens am Samstagabend hatte er sie meist längst auf irgendeine Reise ins Ungewisse mitgeschleift. Es schien ihm jedes Mal ein diebisches Vergnügen zu bereiten, sie mit seiner verspielten Geheimniskrämerei auf die Palme zu bringen, vermutlich weil er damit immer Erfolg hatte. Gleichzeitig hatte er aber auch fast immer innerhalb von 24 Stunden ihr Interesse geweckt, weswegen sie sich immer und immer wieder auf seine Abenteuer einließ. Und weil es ihr Spaß machte.
Weil er sie ablenkte von der Einsamkeit, die der Job in ihrem Leben hinterlassen hatte.
Sie würde es sich selbst niemals eingestehen, aber sie genoss die Wochenenden mit ihm, an denen sie nach ihren eigenen Regeln spielen konnten. Er brachte sie zum Lachen. Er nährte ihren Verstand auf eine Weise, auf die niemand sonst es tat, weil er sie herausforderte. Aber vor allem gab er ihr das Gefühl, am Leben zu sein, weil von seiner unzähmbaren Leidenschaft jedes Mal, wenn sie in seine vor Aufregung glühenden Augen sah, ein Funke auf sie übersprang und ihr einen Energieschauer durch den Körper jagte, wie sie sie zuletzt als Kind verspürt hatte, wenn sie sich am Weihnachtsmorgen mit ihren Geschwistern auf die Geschenke unter dem Baum gestürzt hatte.
Und all das fehlte ihr jetzt.
Sie verdrehte die Augen als sie einsah, was für ein Armutszeugnis sie sich da gerade selbst ausgestellt hatte. Sie war eine junge, attraktive, intelligente Frau, die an einem Samstag definitiv andere Dinge tun sollte, als Autopsieberichte zu schreiben und dabei ein aufgewärmtes zwei Tage altes chinesisches Fertiggericht in sich hineinzuschieben. In der ständigen Hoffnung, ihr fanatischer durchgebrannter Partner würde sie aus ihrer selbstgewählten Misere retten um Monster zu jagen. Auch wenn sie beide wussten, dass die Monster, die sie eigentlich suchten, sich hinter menschlichen Gesichtern versteckten.

Sie holte tief Luft und schüttelte den Kopf als sie sich ein Glas Milch aus dem Kühlschrank nahm um sich damit an ihren Küchentisch zu setzen und zu überlegen, wie sie diesen Abend möglichst würdevoll hinter sich bringen würde.
Ihr Blick fiel auf ihre Dienstwaffe, die unschuldig und genau so verloren und deplatziert wie sie in ihrem Holster auf der Kommode neben ihrer Eingangstür lag.

Zur selben Zeit irgendwo an einem Waldrand

Der Regen trommelte leise und mit dem einschläfernden Hintergrundrauschen der Blätter des Waldes auf seine Windschutzscheibe. Mulder fühlte sich hier draußen so wohl, als wäre es sein Zuhause. Genau genommen verbrachte er mittlerweile auch in seinem Auto mehr Zeit als in seiner Wohnung. Die Meteoritenschauer in den Herbstmonaten gehörten für ihn zur jährlichen Routine dazu wie das Weihnachtsfest für die meisten anderen Menschen. Leider waren die Nächte mit den meisten Meteoriten auch mit der gleichen Regelmäßigkeit wie es keine weiße Weihnacht gab verregnet.
Doch Mulder beruhigte es dennoch, hier draußen zu sein. Weil er jederzeit wegfahren konnte, weil niemand wusste, wo er war. Es gab ihm die Illusion, frei zu sein. Und zugleich wusste er, dass er eigentlich nur davonlief. Vor der erdrückenden Leere seiner dunklen Wohnung.

Dieses Wochenende war seit einer halben Ewigkeit das erste Wochenende, an dem er keinem Fall auf der Spur war und es machte ihn fast verrückt. Sein Verstand war wie ein Uhrwerk mit unendlich vielen Zahnrädern, die dauernd in Bewegung waren. Ohne seine Arbeit war es, als hätte jemand ein Zahnrad entfernt und nun würde alles im Leerlauf ziellos vor sich hinrotieren bis er langsam aber sicher durchdrehen würde. Er brauchte Nahrung. Intellektuellen Input.
Er blinzelte hinüber zu der Zeitung, die neben ihm auf dem Beifahrersitz lag. Er war auf einen zehn Jahre alten Artikel aus dem „Einsamen Schützen" gestoßen, der nun – zehn Jahre später – vor einem ganz anderen Licht erschien. Und darum kreisten seine Gedanken nun.
Aber genau das war das Problem: Sie kreisten. Um den falschen Punkt. Denn sein Fixstern war ein ganz anderer. Ohne ihn konnten seine Gedanken sich nicht in die richtige Bahn bewegen.
Er griff zum Telefon.

„Scully ?"

Scully hatte das Telefon in vorsichtiger Hoffnung neben sich auf den Tisch gelegt und klemmte es nun unter ihr Kinn, so dass sie mit dem Pinsel damit fortfahren konnte, ihre Waffe von innen zu reinigen.

„Was machen Sie gerade ?" ertönte es am anderen Ende der Leitung. Es rauschte im Hintergrund und Mulder klang wie immer irgendwie rastlos und außer Atem, als würde er gerade mit einem Bein am Abgrund der Niagarafälle und mit dem anderen Bein in einem Raubtierkäfig stehen und dabei auf dem Kopf eine Champagnerpyramide balancieren.
Scully schmunzelte.

„Wieso? Was machen SIE denn gerade ?" antwortete sie so unbeeindruckt und desinteressiert wie möglich.
Ihr entging aber nicht die Reaktion ihres Herzens auf diesen Anruf. Und sie nahm diese Reaktion mit Missfallen und einem flauen Gefühl in der Magengegend wahr.

„Äh….ich recherchiere…" antwortete Mulder und Scully hielt ihre Waffe hoch um sie prüfend in besserem Licht zu betrachten.

„Und was, wenn ich fragen darf ?"

„Verschiedenes...", kam die Antwort in einem ebenso bemüht beiläufigen Tonfall wie ihrem.

Es folgte eine Pause und Scully hörte den Regen am anderen Ende der Leitung im Gleichtakt mit dem Trommeln der Tropfen gegen ihre Fenster rauschen.
Sie runzelte die Stirn. Er rief ganz sicher nicht an, um sie in einen Fall zu involvieren. Denn er war offenbar mit irgendetwas beschäftigt. Aber warum rief er dann an ?

„Mulder ?"

„Ja ?" Etwas raschelte.

„Warum rufen Sie an ?"

Es folgte wieder eine Pause und Scully hörte das Rascheln lauter werden.

„Wussten Sie, dass bereits 1987 die ersten Fälle einer Erkrankung beschrieben wurden, die das Hirngewebe zu einem schwammigen Brei verkommen lässt ? Und dass der britischen Regierung damals schon bekannt war, woher diese Erkrankung stammte, aber dennoch keine Anstalten gemacht wurden, die Verbreitung des verantwortlichen Rindfleisches einzudämmen ?"

Scully zog die Stirn kraus.

„Sagt wer ?"

„Steht überall…", wich Mulder aus und las weiter aus dem „Einsamen Schützen" vor. „Und jetzt passen Sie auf: Es gab Anfang der Achtziger erste Publikationen einer britischen Forschergruppe, die an der Entwicklung von Proteinen arbeiteten, die, nach intravenöser Verabreichung das Gewebe eines Menschen binnen 60 Sekunden in Brei verwandeln können ?"

Er legte wieder eine rhetorische Pause ein. Scully wartete und legte die Pinsel in ihre Schachtel zurück als sie mit der Sauberkeit des Innenlebens ihrer Waffe zufrieden war.

„Und ?" fragte sie schließlich, als ihr die Pause zu lang wurde.

„Naja…merkwürdig ist das schon, finden Sie nicht ?"

„Worauf genau wollen Sie hinaus ?"

Mulder schloss die Augen und rieb sie sich müde, während er die Zeitung neben sich auf den Sitz zurückgleiten ließ. Machte es ihr eigentlich Spaß, ihm seine Theorien aus der Nase zu ziehen ? Hatte sie gar kein bisschen Interesse daran, ihm auf halbem Wege entgegen zu kommen ? Oder war das gar ihr Spiel: Sie stellte sich dumm und forderte ihn so lange heraus, bis er ihr seine komplette Theorie offenbaren musste, so dass er am Ende als der Verrückte dastand ? Hatte er nicht eigentlich genau wegen dieses Spiels mit ihr angerufen ? Er fühlte, wie sich die Energie in seinem Inneren wie eine Spirale aufdrehte und in ihm aufkeimte mit jedem ihrer Atemzüge, die sie leise in den Hörer hauchte.

„Scully, kommen Sie. Erst diese Publikationen über im Labor designte Proteine, die man ganz offensichtlich als Biowaffe gegen Menschen einsetzen wollte. Und dann ein paar Jahre später das Auftreten der ersten infektiösen auf Menschen übertragbare Prionkrankheit ? Der Zusammenhang liegt doch nahe…"

Scully seufzte und schloss die Augen.

„Mulder …" stöhnte sie und lächelte fast mitleidig. „Haben Sie eigentlich nichts Besseres zu tun als an einem Samstag die Ursachen von BSE zu erforschen ?"

„Zum Beispiel was ?"

„Ich weiß nicht. Ins Kino gehen, Sport…den Bericht schreiben, den Sie Skinner seit 3 Monaten schuldig sind…"

„Haben Sie denn Besseres zu tun ?" konterte er und sie schwieg.

Er grinste, weil er genau wusste, dass sie vermutlich in ihrem schlimmsten Outfit, unfrisierten Haaren und ihrer Brille auf der Nase ihre Autopsieberichte tippte. Oder ihr Silber putzte. „Touché", antwortete er auf ihr aussagekräftiges Schweigen.

Das Rauschen des Regens schwoll an und erfüllte die Stille zwischen ihnen einen Moment lang. Doch der Moment war lang genug, um ihnen beiden klar zu machen, dass das alles war, woraus ihr Leben bestand: daraus, auf den Anruf des anderen zu warten.

„Sie putzen doch nicht etwa gerade ihre Dienstwaffe, oder ?" fragte er, als er das leise Klicken der Waffe hörte, als sie das Magazin in sie hineingleiten ließ.

„Vielleicht…und wenn schon…" kokettierte sie und stand auf, um sich die Hände zu waschen.

„Mulder, wo genau sind Sie ?" hakte sie nach, als sie hörte, wie das Rauschen des Regens im Hintergrund immer lauter wurde, während der Regen vor ihrem Fenster in ein feines Nieseln übergegangen war und eine verzauberte friedliche Abendstille mit sich gebracht hatte.

Aber er antwortete nicht, sondern verharrte in Gedanken noch bei dem verspielten Klang ihrer Stimme. Manchmal, nur ganz selten, in Augenblicken wie diesen, fragte er sich, ob er eine Chance bei ihr hätte, wenn sie unter anderen Umständen aufeinander träfen. Und er war sich sicher, dass eine Frau wie sie es besser wusste als sich mit ihm einzulassen. Dennoch gab es da diese Bruchteile von Sekunden, in denen er einen Blick auffing, der in seine Richtung geworfen wurde und mit der Schwere unzähliger unausgesprochener Bekenntnise auf ihm lag. Oder ein über ihre Lippen huschendes Lächeln, das er nur aus dem Augenwinkel auffing. Oder eine zufällige Berührung, die nichts bedeuten konnte. Oder aber auch alles.

„Keine Sorge", antwortete er schließlich mit einer kaum überhörbaren Enttäuschung in der Stimme. „Ich bin weit weg. Und ich bleibe Ihnen dieses Wochenende vom Hals. Versprochen."

Scully senkte den Blick und lächelte. Ihr wurde warm und kalt zugleich. Warm von seiner Stimme. Kalt von der Entfernung, die zwischen ihnen lag.
Beinahe wäre ihr ein „Schade" über die Lippen gekommen, doch sie wusste es zurückzuhalten und antwortete stattdessen:

„Dann sehen wir uns am Montag ?"

„Yep. Es sei denn, Sie hätten Karten für die 23 Uhr Vorstellung aller Teile von 'Emmanuelle in Space'. Dann könnten wir uns über den Weg laufen."

Scully schnaubte leise. „Ich fürchte, die Wahrscheinlichkeit, mich dort anzutreffen ist eher gering", antwortete sie kühl und er lächelte.

Sie hörte sein Lächeln und sie sah das Aufblitzen in seinen Augen vor sich, als würde er in ihrer Küche vor ihr stehen. Er war in ihren Gedanken so präsent, dass sie jedes seiner Worte mit einem Gesichtsausdruck vor ihrem inneren Auge verband. Nur deswegen vermochten es selbst die bedeutungslosesten Wortwechsel, ihr das Gefühl unerträglicher Nähe zu geben, einer Nähe, der sie sich nicht entziehen konnte, weil sie in ihren Köpfen existierte, und sich über all die Schutzbarrieren, die sie mühsam aufgebaut hatte, hinwegsetzte.

„Dann Gute Nacht", verabschiedete er sich mit einer Sanftheit, die keinen Zweifel daran zuließ, dass es nur einen einzigen Grund dafür gab, warum er sie angerufen hatte.

"Gute Nacht, Mulder", antwortete sie mit derselben Sanftheit und er schloss die Augen um sich voll und ganz auf das Echo ihrer Stimme konzentrieren zu können.

Sie legte auf.
Und ihre Augen bekamen ein seltsames Leuchten als sie das Gespräch Revue passieren ließ.
Es hätte kein sinnloseres Gespräch sein können.
Und auch das bewies, dass es nur einen einzigen Grund dafür gab, warum er sie angerufen hatte.
Es war derselbe Grund, warum sie das Telefon neben sich auf den Tisch gelegt hatte, derselbe Grund, warum sie am Samstagabend zuhause blieb. Und derselbe Grund, warum sie abgehoben hatte, obwohl sie seine Nummer auf dem Display gesehen hatte: Weil es seine Nummer gewesen war. Weil es immer seine Nummer sein würde.

The End