Frei wie die Väter waren die Mütter nie. (Gerhard Kocher)

Heute ist es soweit; es ist der Tag der Ernte für die 74sten alljährlichen Hungerspiele.
Es ist mein letztes Jahr und ich bin wahnsinnig aufgeregt. Dieses Jahr steht vieles für mich auf dem Spiel.
Ich habe vor drei Monaten erst ein Baby bekommen, auch wenn das vermutlich niemand von mir gedacht hätte. Immerhin bin ich ein Karriero und sogar verdammt gut. Ich hätte gute Chancen die Spiele zu gewinnen, aber da ist immer noch die Möglichkeit zu sterben. Noch vor einem Jahr hätte ich mich ohne zu zögern freiwillig gemeldet, doch meine Schwangerschaft hat mich verändert.
Gemeinsam mit meiner Stiefmutter Enobaria mache ich mich auf den Weg zum Marktplatz. Mein Vater ist letztes Jahr bei einem Unglück in der Nuss ums Leben gekommen und seitdem sind es nur noch Enobaria, mein Sohn und ich.
Baria ist allerdings eher so etwas wie eine große Schwester für mich. Sie ist zwar noch recht jung, gerade Mal 29 Jahren und trotzdem war sie fast neun Jahre mit meinem Vater verheiratet. Enbobaria gibt sich immer sehr aggressiv, aber wenn man auf ihrer guten Seite ist, dann ist sie äußerst loyal.
"Gib mir Julius", streckt Baria nun die Arme nach meinem Sohn aus. "Ich bringe ihn zu Lyme."
Lyme ist ebenfalls eine Siegerin, allerdings wird im geheimen gemunkelt, sie wäre die Anführerin einer Gruppe Rebellen. Ob diese Gerüchte stimmen weiß niemand, aber wundern würde es mich nicht. Sie hat ähnlich wie Johanna Mason aus Distrikt 7 nach ihren Spielen ihre komplette Familie verloren. Man ermordete sogar ihre dreijährige Tochter, als sie sich weigerte diese mit ins Kapitol zu bringen. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie sehr sie leidet. Julius ist erst drei Monate und ich könnte mir schon kein Leben mehr ohne ihn vorstellen. Die Tatsache, dass sie weiß, wie es sich anfühlt ein Kind zu verlieren, lässt mich ihr meinen Sohn trotz ihres zweifelhaften Rufes anvertrauen. Ich weiß, sie würde Julius niemals etwas antun.
"Ich liebe dich, Julius", küsse ich sanft seine Stirn, dann reiche ich ihn meiner Stiefmutter.
Während sie meinen Sohn weg bringt, reihe ich mich in die Schlange der Wartenden ein und lasse mir Blut abholen, dann stelle ich mich zu den anderen 18-jährigen Mädchen.
Eine viertel Stunde später geht es los.
Unsere Eskorte Flora de la Fleur, was für ein grässlicher Name, betritt in ihrem lächerlichen bunten Kostüm die Bühne.
"Willkommen, Willkommen", trällert sie übertrieben fröhlich ins Mikrofon. "zur Ernte für die 74sten alljährlichen Hungerspiele von Panem."
Die Menge fängt an zu klatschen und laut zu jubeln.
Für unseren Distrikt ist es eine große Ehre, wenn man ausgewählt wird an den Hungerspielen teilzunehmen. Hier in Distrikt 2 ist es Pflicht neben dem normalen Schulunterricht für die Hungerspiele zu trainieren. Je nachdem wie vermögend eine Familie ist, kann man noch individuell am Privatunterricht an der Akademie teilnehmen, allerdings können sich das nur sehr wenige Bewohner leisten.
Nachdem wieder Ruhe eingekehrt ist, spielt sie wie jedes Jahr das Video über die Geschichte der Hungerspiele und die Revolution aus dem Kapitol ab.
Obwohl es jedes Jahr aufs Neue dasselbe ist, besteht sie doch darauf, dass es eine 'ganz besondere Botschaft von Präsident Snow nur für uns' wäre.
Das Video endet und mein Herzschlag beschleunigt sich.
"Endlich ist es soweit", ruft Flora aufgeregt, wobei ihre Stimme sich fast überschlagt. "der Moment auf den wir alle gewartet haben. Die Ziehung der diesjährigen Tribute, welchen die Ehre zuteil wird Distrikt 2 in den diesjährigen alljährlichen Hungerspielen zu vertreten. Da wir letztes Jahr mit den Ladies begannen, sind dieses Jahr wieder die Gentlemen dran."
Unsere Eskorte stolziert zu der riesigen Glaskugel und wühlt darin herum bevor sie einen Zettel zieht. Noch bevor sie allerdings die Chance bekommt den Namen vorzulesen, ertönt eine laute, bestimmte Stimme.
"Ich melde mich freiwillig als Tribut", mir stockt der Atem als ich Cato erkenne.
Ich kann es nicht glauben, dass er sich tatsächlich freiwillig meldet auch wenn es keine sonderlich große Überraschung ist.
Er betritt die Bühne so selbstsicher wie immer und hat schon wieder diesen mordlustigen Ausdruck in den Augen.
Cato ist der Vater meines Sohnes und mein Exfreund. Wir waren fast drei Jahre lang ein Paar, doch als ich schließlich herausfand, dass ich schwanger war, habe ich ihn verlassen. Es ist nicht so, als würde ich ihn nicht lieben, aber Cato ist so zielstrebig. Er weiß genau, was er vom Leben möchte und diese Vorstellungen sind einfach nicht mit einem Baby zu vereinbaren. Es reicht, dass ich meine Freiheit für unseren Sohn aufgeben musste und auch wenn es mir am Anfang schwer fiel, war es die beste Entscheidung Lebens ihn zu behalten.
"Das ist einfach großartig", ruft Flora begeistert und tätschelt Cato die Wange. "Wie groß du geworden bist und so gutaussehend, ganz der Papa."
Charmant wie Cato nun mal sein kann, küsst er Floras Hand. "Danke Flora. Es ist mir eine Ehre Distrikt 2 als Tribut vertreten zu dürfen."
"Für alle die es nicht wissen sollten", wendet unsere Eskorte sich wieder zum Publikum und den Kameras. "Der diesjährige Tribut für die 74sten alljährlichen Hungerspiele ist Cato Hadley, der Sohn von Brutus Hadley, dem Sieger der 43sten Hungerspiele."
Die Kamera schwenkt zu Brutus, der neben Enobaria auf der Bühne sitzt. Es ist offensichtlich, dass er wahnsinnig stolz auf seinen Sohn ist.
Jubel bricht aus und es dauert mehrere Minuten bis alle sich wieder beruhigt haben und Flora fortfahren kann.
Sie tippelt zu der Glaskugel für die Mädchen. Mein Name ist nur sieben mal darin, die Chancen, dass sie mich ziehen wird sind sehr gering.
Ich kenne eine Menge Mädchen, die sich für Tesserasteine eintragen ließen. Ich hatte dies zum Glück nie nötig, da mein Vater einer der Aufsichtshaber in der Nuss war und meine leibliche Mutter eine Siegerin ist. Meine Mum gewann die 54sten Hungerspiele mit gerade Mal 16 Jahren und wurde im Jahr darauf mit mir schwanger. Sie ist die Schande von Distrikt 2, da sie Drogenabhängig ist, was auch der Grund ist, weshalb mein Dad mich ihr wegnahm. Ich besuche meine Mutter zwar regelmäßig und sie unterstützt mich finanziell, aber ich stehe trotzdem Enobaria viel näher.
"Der diesjährige weibliche Tribut für die 74sten alljährlichen Hungerspiele ist Clove Sevina", trillert Flora fröhlich.
Mein Herz setzt aus als ich einen zögerlichen Schritt in Richtung Bühne mache.
Ich bete innerlich, dass irgendjemand nach vorne tritt um meinen Platz einzunehmen, doch nichts passiert.
"Na komm schon, Liebes", winkt Flora mich nach vorne. "Nicht so schüchtern."
Ich straffe meine Schultern und gehe dann so zuversichtlich wie möglich nach vorne. Ich erklimme mit zitternden Knien die Bühne und nehme meinen Platz neben Flora ein.
Ich bin bei weitem nicht so bekannt wie Cato, weshalb auch kein großer Wirbel um meine Mum gemacht wird. Ich bin ehrlich gesagt sehr froh darüber, da auf diese Weise auch keiner von meinem Sohn erfährt.
Ich habe die ganze Zeit Catos Blick so gut wie möglich vermieden, doch als Flora uns auffordet einander die Hand zu schütteln, habe ich keine Wahl.
Ich trete auf Cato zu und greife nach seiner großen, warmen Hand.
Sobald sich unsere Hände berühren, läuft es mir heiß und kalt den Rücken runter. Ich kann es nicht länger leugnen, ich liebe Cato immer noch. Allein die Vorstellung ihn töten zu müssen, zerreißt mir fast das Herz, aber ich habe keine Wahl. Ich muss diese Spiele gewinnen und zu Julius zurückkehren, koste es, was es wolle.
"Großartig, einfach großartig", trillert Flora fröhlich. "Das war's leider schon wieder, meine Lieben. Ich wünsche euch allen fröhliche Hungerspiele und möge das Glück stets mit euch sein."
Zwei Friedenswächter treten vor und führen Cato und mich ins Innere des Justizgebäudes, wo wir uns von unseren Familien verabschieden können.
Das Zimmer in welches ich geführt werde ist wirklich schön und ich muss auch nicht lange auf meinen ersten Besucher warten.
Es ist meine Mutter, die in den Raum gestrauchelt kommt.
Sie ist so krankhaft blass wie immer, ihre Haut ist leicht gelblich verfärbt und ihre Augen sind blutunterlaufen.
"Es tut mir so Leid, mein kleiner Liebling", schlingt sie ihre Arme um mich. "Ich wünschte, ich könnte dir helfen, aber Enobaria wird gut auf dich aufpassen."
Ich erwidere ihre Umarmung. "Mum, bitte reiß dich zusammen. Falls mir irgendwas passiert, dann musst du Enobaria mit Julius helfen."
"Du schaffst das, mein Liebling", küsst Mum meine Schläfe. "Mach dir keine Sorgen."
Der Friedenswächter kommt zurück und verkündet uns, dass die Zeit um ist.
Als nächstes kommt Catos Mutter Talina zu mir.
Sie ist nicht wie die anderen Frauen in Distrikt 2. Talina ist wahnsinnig herzlich und fürsorglich. Ehrlich gesagt ist es schwer zu glauben, dass eine Frau wie sie mit einem Mann wie Brutus verheiratet ist.
"Clove Liebes", umarmt Talina mich. Ihr Gesicht ist tränenüberströmt, als sie mich zum Sofa führt. "Brutus hat mir von dem Baby erzählt. Keine Sorge, Cato weiß nichts davon, immerhin ist es nicht meine Aufgabe es ihm zu sagen."
Ich fahre mir nervös durch die Haare. "Es tut mir leid, Talina. Du verstehst doch, warum ich es Cato nicht gesagt habe, oder?"
Sie nickt und greift nach meiner Hand. "Ich will nur, dass du weißt, dass ich mich, egal was passiert, um euren Sohn kümmern werde."
"Danke", drücke ich ihre Hand bevor der Friedenswächter kommt.
Ich warte ungeduldig, dass Lyme mit Julius den Raum betritt, doch nichts passiert.
Warum kommt sie denn nicht? Ich habe es verdient mich von meinem Sohn zu verabschieden. Ich habe Lyme vertraut und sie nimmt mir die vielleicht letzte Chance meinen Sohn zu sehen.
Außer mir vor Zorn greife ich nach der Blumenvase auf dem Tisch und schleudere sie durch den Raum. Das teure Porzellan zerspringt, sobald es das Fenster trifft, welches jedoch nicht nachgibt. Die Fenster sind alle aus einem dreifach verstärkten Panzerglas und damit unzerstörbar.
Ich kann herumtoben soviel ich will und trotzdem lindert es nicht meinen Schmerz. Ich möchte zusammenbrechen und den Tränen, die in meinen Augen brennen nachgeben, doch das kann ich nicht.
Dadurch würde ich schwach wirken und das ist etwas, was ich mir nicht leisten kann.