„Gott, hab ich nen Kater", murmelte Ivo und streckte sich. „Da bist du nicht der Einzige", meinte mein Vater, während er Kaffee kochte.

„Mach mir bitte auch einen", sagte ich, obwohl ich Kaffee nicht ausstehen konnte, aber es gab keine Cola mehr und ich brauchte etwas mit viel Koffein.

„Ich hasse die Morgen nach Vollmond", fügte ich hinzu und stand stöhnend vom Sofa auf. Alles tat mir weh, jeder einzelne Knochen und Muskel. Mein Bruder saß am Küchentisch und sah genau so aus, wie ich mich fühlte. Unter seinen braunen Augen lagen dunkle Ringe und er war ziemlich blass. Meine Mutter betrat das Zimmer. Sie hatte das gleiche dunkelblonde Haar wie ich, nur dass sie ihres kurz trug und meines bis zum Ellenbogen reichte. Ich hätte ja lieber das schwarze, lockige Haar meines Vaters und meines Bruders geerbt, aber sowas konnte man sich im Leben bekanntlich nicht aussuchen. Sonst sah ich meiner Mutter auch sehr ähnlich. Wir hatten die gleichen grauen Augen und eine zierliche Figur.

„Ihr müsst das positiv sehen, meine Lieben. Für diesen Monat haben wir's hinter uns", meinte meine Mutter und stellte sich zu meinem Vater an den Herd, wo sie zärtlich einen Arm um ihn legte. Mein Vater drehte sich kurz zu ihr um und lächelte sie an, bevor er sich wieder dem Kaffeemachen widmete.

„Können wir heute den Unterricht ausfallen lassen?", fragte Ivo mit bettelndem Tonfall.

„Ja, bitte Mum. Wir sind echt kaputt und können uns sowieso nicht konzentrieren", unterstützte ich meinen Bruder. Meine Mutter lachte leise.

„Das könnt ihr vergessen. Heute ist Dienstag, das heißt ganz normaler Unterricht für euch beide."

Ich seufzte und fragte mich zum bestimmt hundertsten Mal, ob mein Leben nicht einfacher wäre, wenn ich wie ein ganz normaler Mensch eine Schule besuchen würde. Es müsste ja nicht einmal Hogwarts sein, das war für jemanden wie mich unmöglich. Mir würde eine ganz normale Muggelschule reichen. Aber meine Eltern waren misstrauisch gegenüber der Welt geworden. Mein Vater wurde von seinen Eltern verstoßen, als er mit fünfzehn Jahren gebissen wurde und meine Mutter wurde als sie nach Beauxbatons kam von allen Lehrern und Schülern verachtet und ausgeschlossen. Sie brach die Zauberschule mit vierzehn ab, weil sie es nicht mehr aushielt, eine ständige Außenseiterin zu sein. Einmal hatte sie mir erzählt, dass sie zu dieser Zeit kurz vor dem Selbstmord stand. Nachdem sie die Schule gegen den Willen ihrer Eltern abgebrochen hatte, lebte sie eine lange Zeit in einem Rudel von Werwölfen, solch ein Rudel, das mehr als Wolf, denn als Mensch lebte. Als die dann achtzehn war, lernte sie meinen Vater kennen, verließ das Rudel und zog mit ihm hier her, in einen Wald irgendwo in Irland. Das ist nun siebzehn Jahre her, in der Zwischenzeit wurden mein drei Jahre älterer Bruder Ivo und ich geboren. Da Mum und Dad beide Werwölfe waren, war es ausgeschlossen, dass wir diesem Schicksal entgingen, aber hier, alleine in der Wildnis, war das theoretisch auch nicht so schlimm. Hier konnten wir niemandem etwas anhaben, wenn wir uns an Vollmond in unberechenbare Monster verwandelten.

„Ylva, wo bist du wieder mit deinen Gedanken? Dein Vater hat dich etwas gefragt!", schreckte mich meine Mutter aus meinen Gedanken. „Was gibt's Dad?" Ich schaute entschuldigend zu meinem Vater, der mich schief angrinste.
„Ich hab dich gefragt, wie du deinen Kaffee möchtest", sagte mein Vater gutmütig.

„Mit Milch und viel Zucker, danke", antwortete ich. Mum zog die Stirn in Falten. „Ylvi, meinst du nicht, dass du mit zwölf nicht ein bisschen zu jung für Kaffee bist?", fragte sie. „Ich hab gedacht, du magst den nicht mal."

„Mag ich auch nicht, aber irgendwie muss ich ja wach bleiben, oder?", gab ich zurück. Sie seufzte und gab sich kopfschüttelnd geschlagen.

„Wir müssen spätestens morgen wieder einkaufen gehen", unterbrach mein Vater die müder Stille. „Fast alle unsere Vorräte sind aufgebraucht."

„Ja, cool!", rief ich und sprang begeistert auf. Alle Müdigkeit war vergessen. Die Vorratseinkäufe waren jedes Mal ein Highlight für Ivo und mich, denn sie waren für uns die einzige Gelegenheit, um für ein paar Stunden aus diesem immer grünen Gefängnis zu fliehen. Nicht, dass ihr es falsch versteht. Ich weiß genau, dass die Lebensart, die Mum und Dad gewählt hatten für uns Werwölfe die einfachste und sicherste war. Dennoch: Für uns Kinder war der Wald zu unserer persönlichen Hölle geworden, ohne einen einzigen Kontakt zur Außenwelt. Mein Bruder entfloh der Langeweile schon seit Jahren durch Computerspiele und ich unternahm fast täglich stundenlange Wanderungen durch den Wald. In dieser Zeit fühlte ich mich frei, ich war mein eigener Herr, doch sobald ich nach Hause kam, war ich wieder das Wolfsmädchen, das sich sowohl für Muggeln als auch vor Zauberern verstecken musste.

Auch meine Mutter lächelte: „Tja, dann sollte jeder aufschreiben, was er für den nächsten Monat benötigt. Ivo, vergess' nicht auch ein paar andere Sachen außer PC- Spiele aufzuschreiben, verstanden? Du brauchst mal wieder ein paar neue Kleider und wasserfeste Schuhe. Nicht, dass wir die noch einmal vergessen zu besorgen."

Mein Bruder nickte geistesabwesend, in Gedanken ging er wahrscheinlich schon alle Computerspiele durch, die er vorhatte zu kaufen. Ich schüttelte meinen Kopf und verließ den Raum, bevor meine Mutter ankündigen konnte, wann sie mit dem Unterricht anfangen wollte.


Ich saß an meinem Schreibtisch und kaute auf einem Bleistift. Meine Liste war schon fast eine ganze Seite lang und trotzdem hatte ich das Gefühl etwas vergessen zu haben. Ich las sie nun zum bestimmt sechsten Mal durch:

Einkaufsliste von Ylva

1. Kleidung

1.1 1x Jeans

1.2. Regenjacke

1.3. gefütterte Gummistiefel

1.4. Pullover und Unterzieh-Shirts

1.5. mind. 4 Paar Socken

2. Bücher, Schulutensilien, etc.

2.1. Schreibblöcke (liniert + kariert)

2.2. neues Set Bleistifte

2.3. Tintenpatronen

2.4. Mathebuch, Band 6

2.5. Geschichte der Zauberei, Band 2

Bei dem Titel „Geschichte der Zauberei" stutzte ich kurz. Ich wusste nicht, ob man dieses Buch in einer Muggel- Bücherei überhaupt kaufen konnte, aber ich fand es wichtig, dass das Buch trotzdem auf der Liste stand, um meine Mutter daran zu erinnern, dass ich den neuen Band brauchte. Die Geschichte der Zauberei war das einzige, was meine Mutter mir über die Welt der Hexen und Zauberer beibrachte und es war so ziemlich das einzige Fach, das mir Spaß machte. Ich hatte nie einen Brief von Hogwarts bekommen. Woran das lag, wusste ich nicht. Das ich eine Hexe war, war klar. Ich hatte schon ein paar mal heimlich mit Mums Zauberstab ein bisschen geübt. Meine Eltern hatten mir das Zaubern strengstens verboten. Sie sagten, dass wenn ich oder Ivo zu zaubern versuchten, wir ziemliche Probleme mit dem Zaubereiministerium bekommen würden, doch bis jetzt war noch nie irgendetwas passiert. Weshalb ich vermutete, dass das Zaubereiministerium uns einfach aus den Augen verloren hatte. Was meinen Eltern gerade recht war und mir auch, denn obwohl ich das Leben hier anstrengend, ermüdend und schlichtweg langweilig fand, war mir alles lieber, als auf diese Schule zu gehen und das gleiche Schicksal zu erleiden wie meine Mutter. Es war zwar oft lästig mit meiner Familie auf so engem Raum zu leben, doch dafür musste ich mich nicht verstellen. Ich konnte ich sein und musste niemanden wegen meines „Wolfproblems" anlügen. Ich seufzte laut und wollte meine Liste weiter durch gehen, als mein Bruder ins Zimmer herein platzte, wie immer ohne anzuklopfen. „Schau dir das an!", schnaubte er wütend und knallte mir einen Artikel vom Tagespropheten vor die Nase. Eine dick gedruckte Schlagzeile sprang mir ins Auge:

Werwolf für lebenslänglich nach Askaban verbannt

Nathan Pike (36, Werwolf) wurde bei dem Gerichtsverfahren am 1974 zu lebenslänglicher Haft im Hochsicherheitsgefängnis Askaban verurteilt.

Pike, der einen Monat zuvor mehrere Muggel und eine Hexe getötet hatte, beharrte vehement darauf, dass er während der Tat nicht er selbst gewesen sei. Als er am Morgen nach dem Vollmond neben den Leichen aufgewacht war, habe er noch versucht ihnen zu helfen, berichtet der Werwolf. Das Zaubergericht berücksichtigte diesen Einwand nicht.

Der 36-jährige ist selbst noch nicht lange ein Werwolf. Die besagte Verwandlung war, nach eigenen Angaben, erst seine Dritte.

Unter dem noch weiter gehenden Artikel war ein Bild von einem jüngeren Mann, der mir Tränen überströmten Gesicht aus einem Gerichtssaal abgeführt wurde. Der Mann sah alles andere als gefährlich aus und aus seinem Blick sprach unfassbare Verzweiflung. Trotzdem wehrte er sich nicht und ließ sich gehorsam wegbringen. Das Bild trieb mir Tränen in die Augen, ob vor Wut, oder Mitleid, konnte ich nicht sagen, vielleicht war es beides.

„Wie können sie so etwas tun? Für den Mann ist das ganze doch schon schrecklich genug", schluchzte ich mit erstickter Stimme. Obwohl ich diesen Mann nicht kannte, traf mich dieser Artikel härter, als ich es mir zugestehen wollte.

„Ich weiß nicht, warum das Zauberministerium so ignorant ist." Die Stimme meines Bruders bebte.

„Ich weiß nur, dass uns das Gleiche passieren wird, wenn die herausfinden, dass wir hier leben."

Ich runzelte die Stirn: „Wieso? Wir haben noch nie jemandem etwas zu Leide getan. Wir sind nicht mal in die Nähe von einem Dorf, geschweige denn einer Stadt gekommen", meinte ich schnippisch. Ivo verdrehte seine Augen. „Mensch, Ylva! Kapierst du nicht? Denen ist es egal, ob wir etwas getan haben, oder nicht. Die wollen keine Werwölfe in ihrer ach-so-schönen-Zauberwelt. Wir sind für die Zauberer gefühllose Monster, die man so schnell wie möglich beseitigen muss."

Ich nickte langsam. „Ich weiß, ich weiß", murmelte ich leise.

Er musste gemerkt haben, dass er mich ziemlich verstört hatte, denn Ivo kniete sich neben mich und nahm mich in den Arm:

„Hier kann uns nichts passieren, Ylvi, okay? Und wir wissen es ja besser, als das Ministerium. Wir wissen doch, dass wir keine Monster sind."

Damit lies er mich los und verließ mein Zimmer mit raschen Schritten. Ich starrte wieder auf das Bild in der Zeitung und merkte, dass sich der Hass um mein Herz legte, wie ein eiserner Ring.

„Ich werde niemals mit Zauberern irgendwas zu schaffen haben", schwor ich mir. „Selbst wenn ich für den Rest meines Lebens hier verbringen muss!"

Ich wusste gar nicht wie schwer es für mich in nächster Zeit werden würde, mich an meinen Schwur zu halten.


„Habt ihr's endlich? Wir müssen los! Die Geschäfte machen sonst zu!" Mein Vater rief jetzt bestimmt schon zum fünften Mal nach uns.

Hektisch schnappte ich mir noch meinen Geldbeutel und eilte dann raus zu meinem Dad.

„Wo bleiben denn die Anderen?", fragte er mich gereizt. Ich zuckte die Achseln. „Keine Ahnung." Er seufzte. „Setz dich schon mal ins Auto", meinte er kopfschüttelnd.

Ich nickte und lief zu unsrem alten, ziemlich mitgenommenen Golf und zwängte mich auf die Rückbank. Das Auto hatten wir nur, um in die Stadt zu fahren, sonst benutzten wir es nie. Meine Eltern konnten beide nicht so gut zaubern, dass sie sich trauten zu apparieren und unser Kamin war nicht an das Flohpulver- Netzwerk angeschlossen. So blieb uns eigentlich nur das Auto, denn Besen hatten wir natürlich auch nicht.

Nach fünf Minuten waren wir dann endlich komplett. Ivo saß neben mir eingeklemmt auf der Rückbank und studierte seine Liste für neue Videospiele. Vater startete gerade den Motor und parkte unseren Golf aus, als ich im Rückspiegel einen Blick auf eine in schwarz gekleidete Gestalt erhaschte, die direkt vor unserer Haustür stand. Sie schien das Auto nicht bemerkt zu haben.

„DAD, HALT AN! Da steht jemand vor unserem Haus", schrie ich. Schreckliche Angst überkam mich, zurecht, wie sich später herausstellen sollte.

Mein Vater legte eine Vollbremsung hin. „Was hast du gesagt?!", fragte er und schaute nun auch in den Rückspiegel. Die Gestalt war immer noch da.

„Ihr bleibt hier", sagte er bestimmt zu Ivo und mir, während er sich abschnallte und die Tür aufmachte. Meine Mutter tat es ihm gleich.

„Keine Sorge, alles wird gut", sagte sie und probierte beruhigend zu lächeln, doch ich merkte wie angespannt sie war. Kaum waren meine Eltern ausgestiegen, sprangen Ivo und ich auch aus dem Auto, schließlich wollten wir auch wissen, was hier vor sich ging. Mit ein paar Metern Abstand folgten wir unseren Eltern. Bis kurz vor unser Haus. Die Gestalt mit dem schwarzen Umhang hatte sich zu uns umgedreht. Es war ein Mann mit schütterem Haar und einem teigigen, ausdruckslosen Gesicht: „Mr und Mrs Stone?", fragte er schon fast gelangweilt.

„Die sind wir", knurrte mein Vater. „Wer sind Sie, und was wollen Sie?"

„Mein Name ist Gernold Trader. Ich bin ein Abgesandter des Zaubereiministeriums. Und habe den Auftrag Ihren Sohn Ivo Stone und ihre Tochter Ylva Stone unverzüglich mit mir zu nehmen."

Ich erstarrte. Was hatte der Mann gerade gesagt? Wieso wollte das Zaubereiministerium uns haben? Was hatten wir gemacht? Ich hatte seit Monaten keinen Zauberstab mehr in der Hand gehabt und auch sonst hatte ich nichts verbotenes gemacht, da war ich mir sicher. Ich warf Ivo einen Blick zu. Der sah aber genauso ratlos aus. Meine Mutter war die erste, die sich wieder fing: „Was wollen Sie von unseren Kindern?"

Der Mann, Mr Trader, musterte sie kühl, so, als würde er das hier nicht zum ersten Mal machen.

„Ihre Tochter Ylva wird nach Hogwarts gebracht, die Schule für Hexerei und Zauberei. Ihr Sohn wird in eine Pflegefamilie mit zivilisierten Werwölfen kommen, dort wird er in das normale Leben der Zauberer integriert und bekommt privaten Unterricht. Das Zaubereiministerium sieht Sie beide nicht als geeignete Eltern, da Sie ihren Kinder den Kontakt zur Außenwelt verweigern, sowie das Recht auf eine ordentliche Schulausbildung."

Er holte einen Brief aus seinem Umhang hervor. „Hier drin steht, dass Ihnen das Sorgerecht für Ihre beiden Kinder entzogen wird und dass das Ministerium sich nun um die Kinder bis zu ihrer Volljährigkeit kümmern wird!"

Ich stand da und konnte einfach nicht glauben, was der Fremde da sagte. Das ist alles ein böser Traum, dachte ich. Gleich wache ich auf und alles ist wieder gut, doch ich wachte nicht auf. Plötzlich war mir schrecklich kalt, obwohl die Sonne schien. Ich begann zu zittern und mir wurde schwindelig. Den Rest, den der Mann vom Ministerium zu meinen Eltern sagte, bekam ich nur noch am Rande mit. Alles drehte sich. Ich weiß noch, dass meine Mutter weinte, mein Vater auf den Abgesandten des Ministeriums los ging und Ivo einfach nur da stand, die Hände zu Fäusten geballt und mit blassem, verzehrten Gesicht. Danach verschwimmen die Bilder.

Es sind die letzten Erinnerungen an meine Familie, denn danach habe ich meine Eltern und Ivo nie wieder zu Gesicht bekommen.