Der Preis von Flügeln

von Frayach ni Cuill

übersetzt aus dem Englischen von: Vaysh11


So lag der Adler getroffen auf der Erde,
nie wieder würde er emporsteigen durch die Wolkenbänke.
Die eigene Feder am tödlichen Pfeil streckte ihn darnieder
und verlieh Flügel der Spitze, die in seinem Herzen steckte.

Lord Byron


Buch 1


Einen Bogen Pergament vor ihm auf der Schreibunterlage, nimmt der Schriftsteller eine Feder aus der Schublade. Er hält sie gegen das zarte Licht der Wintersonnwende, das durch das Fenster in die Bibliothek scheint. Die Feder ist weiß wie Schnee. Sie wurde mit der Hand, nicht mit Magie, aus dem Flügel einer schwarzen Weihe gerissen. Der Schriftsteller lächelt. Es hat ihn einiges gekostet, diese Feder zu bekommen. Er weiß, es ist arrogant, sich die weiße Feder eines Vogels zu wünschen, der bekannt ist für sein schwarzes Gefieder. Für gewöhnlich gibt er solch anmaßenden Impulsen nicht nach, diesen Luxus erlaubt er sich nicht. Doch dieser eine anmaßende Wunsch schien ihm zu perfekt, um ihn aufzugeben. Und mit einer gewissen Vorsicht, die er heutzutage immer an den Tag legt, wird niemand außer ihm jemals davon erfahren.

Im schwächer werdenden Licht des zur Neige gehenden Jahres wirkt die Feder fast blau. Kein kräftiges Himmelblau wie die Schale eines Rotkehlcheneis, auch nicht azurblau wie ein wolkenloser Herbsttag, sondern ein bläuliches Schimmern wie im Inneren von Austernschalen, deren messerscharfe Ränder vom ständigen Gezeitenwechsel weich wie Seife geworden sind. Noch nie hat der Schriftsteller diesen kaum sichtbaren Farbton wahrgenommen – das letzte Mal hat er die Feder in dem brennend heißen Licht einer namibischen Sonne gesehen, unter der alles ausgebleicht wirkt wie Knochen. Sein Ruf hatte die Stille zerrissen, und aus den verdorrten Ästen eines Strauchs in der Nähe war die Weihe aufgestoben, wie ein Fetzen Nacht inmitten eines niemals endenden Tages, wie eine Muggel-Plastiktüte, die sich im Wind verfangen hat. Die Sonnenstrahlen brachen sich im Schwarz ihrer Federn. Er hob den Zauberstab und visierte sein Ziel an. Genau in dem Moment, als der Stupor den Vogel traf, sah er das brillante Weiß seiner Flugfedern, die unter dem dunklen Gefieder verborgen waren. Eine weiße Flagge der Unterwerfung, doch die Weihe hatte sie zu spät zur Schau gestellt. Der Vogel fiel lautlos zu Boden. Als er sich ihm näherte, vibrierte die Luft von den lauten Schritten seiner Stiefel und dem heißen, klagenden Zirpen der Heuschrecken. Der Vogel lag im Staub, mit offenen, starren Augen.

Die besten Schreibfedern werden aus Federn gemacht, die von einem lebenden Vogel stammen. Die Tatsache war ihm schon lange bekannt, doch den Grund dafür hatte er erst viel später verstanden. Erst musste er am eigenen Leib spüren, dass man für alles, was es wert ist zu haben, einen hohen Preis zahlen muss. Als er die Feder mit Gewalt aus dem Fleisch des Vogels riss (das Wort "rupfen" muss jemand erfunden haben, der es nie gemacht hat), rollte ein Tropfen Blut von ihrer Spitze. Die Erde, auf die der Tropfen fiel, hat nie Kälte gespürt, nie lag hier Schnee. Doch das ist es, an was er sich erinnert. Blut auf Schnee. Tinte auf Pergament.


Scorpius Draconis Eltanin Malfoy las das erste Buch der Alford Ocamy-Serie in den Weihnachtsferien, als er elf Jahre alt war. Nun, eigentlich "las" er es nicht, er verschlang es. Immerhin brauchte er drei Tage dafür. Keine geringe Leistung angesichts der Tatsache, dass das Buch über sechshundert Seiten dick war. Als er am dritten Tag, immer noch in das Buch vertieft, zum Frühstück herunterkam, roch seine Mutter an ihm, rümpfte die Nase und befahl ihm, sich zu duschen und einen frischen Schlafanzug anzuziehen. Er hatte die Zeit nur noch mit essen, schlafen und lesen verbracht, seit er das steife silberne Papier aufgerissen und das Buch zum ersten Mal aufgeschlagen hatte. Duschen und frische Kleider waren ihm als nebensächliche Störungen erschienen, als unerträgliche Unterbrechungen.

"Aber ich bin fast fertig", protestierte er. "Bitte! Nur noch ein paar Stunden, und ich verspreche, dann dusche ich und zieh mich um und räume mein Zimmer auf und mach alles, was du willst …"

"Warum um alles in der Welt willst du dein Zimmer aufräumen? Dafür haben wir doch Hauselfen", sagte seine Mutter im Ton ehrlicher Verwunderung.

Scorpius' Vater faltete die Zeitung und legte sie neben seinen Teller. Dann griff er nach der Platte mit pochierten Eiern und Schinken. "Gutes Buch?", fragte er, wobei er immer noch auf einen Artikel in der Zeitung schaute.

"Gut? Das Buch ist nicht bloß gut, es ist klasse, total super", sprudelte es aus Scorpius heraus. Er hatte seinen Toast noch nicht geschluckt und spuckte feuchte Brotkrumen auf die Seiten.

"Liebling, kannst du bitte das Buch zumindest von deinem Teller nehmen", sagte seine Mutter und reichte ihm eine Serviette.

Scorpius nahm die Serviette und wischte sich damit schnell um den Mund herum ab. "Es ist genial, Dad. Lies es doch. Es würde dir auch gefallen!"

"Mmmmm", kam die unentschlossene Antwort seines Vaters. Er hatte nicht von der Zeitung aufgeblickt, aber seine Lippen zuckten leicht, und in seinen Augenwinkel zeigten sich winzige Fältchen.

Dadurch ermutigt, beschloss Scorpius, ihn weiter zu drängen. "Es würde dir gefallen, Dad, ich weiß, dass es dir gefallen würde."

"Na, dann spann mich nicht weiter auf Folter", sagte sein Vater. "Warum geht es in dem Buch?"

"Es geht … es geht …" Scorpius stockte. Wie sollte er nur beschreiben, um was es in dem Buch ging? Es ging um alles, was er jemals gedacht und gehofft, geträumt oder sich vorgestellt hatte. Es ging um Freundschaft, um Mut und um Treue. Aber auch um stille Dinge, von denen er bis jetzt gedacht hatte, dass nur er allein sie spürte. Dinge wie Einsamkeit und Sehnsucht und dieses seltsam erhebende Glücksgefühl, das manchmal wie eine heiße Flamme am Rand seines Bewusstseins aufflackerte.

Sein Vater blickte auf, als Scorpius plötzlich schwieg, und hob eine lange, elegante Augenbraue. "Nun?", fragte er.

Scorpius holte tief Luft. "Es geht um einen Jungen. Einen Jungen, der Alford heißt. Ein Muggel-Junge. Er ist elf, genau wie ich, und er geht auf eine besondere Schule für begabte Muggel-Kinder. Die Schule ist weit oben in den Bergen, dort schneit es im Oktober, und er hat solche Fächer wie Englisch und Mathe und Chemie. Er hat viele Freunde, aber sein bester Freund ist ein anderer Junge, der Raph heißt. Er und Raph haben sich in dem Flugzeug kennen gelernt, das ist so ein großes Muggel-Schiff, das durch die Luft fliegt. Alford hat Raph da sitzen sehen, neben einem anderen Jungen. Die Familie von dem Jungen mochte Alfords Eltern nicht, aber er ist trotzdem zu Raph hin, weil er Raph mochte und er gerne mit ihm befreundet sein wollte. Aber der andere Junge war gemein und hat gesagt, dass Alford nicht nett sei. Da hat Alford gesagt, 'Nein, das stimmt nicht!', und Raph hat ihm geglaubt und sie sind Freunde geworden …"

"Ich weiß nicht", sagte sein Vater. "Für mich klingt das wie ein Kinderbuch."

Scorpius konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. "Ja schon, aber es ist mehr als ein Kinderbuch", sagte er, und ein bittender Ton lag in seiner Stimme. "Es ist nicht wie Erville die Eule oder Gus Gusington geht zur Weltmeisterschaft. Es ist … es ist real."

"Liebling", sagte Scorpius' Mutter, "es ist eine Geschichte, eine erfundene Geschichte. Es ist nicht real."

Vielleicht lag es daran, dass er höchstens vier Stunden am Stück geschlafen hatte, oder vielleicht daran, dass die Weihnachtsferien fast vorüber waren, und er bald wieder zurück in die Schule musste, doch mit einem Mal spürte Scorpius, wie ihm Tränen in die Augen schossen. Er senkte den Kopf und versuchte, sie vor dem ruhigen Blick seines Vaters zu verbergen. Aber ein verschlucktes Schluchzen verriet ihn.

"Ichweiß, dass es erfunden ist", sagte er heftig. "Aber das heißt doch nicht, dass es nicht real ist. Für mich."

"Liebling …", begann seine Mutter, doch in diesem Moment legte sein Vater die Hand auf Scorpius' Arm, mit dem er das Buch bedeckte.

"Natürlich ist es real", sagte sein Vater und brachte damit seine Mutter zum Schweigen.

Der ungewöhnliche Tonfall seines Vaters überraschte Scorpius, und er blickte auf, wobei er die Tränen zwischen seinen Wimpern wegzwinkerte. Doch was immer sich gerade zwischen seinen Eltern abgespielt hatte, war schon wieder vorbei, und auf beiden Gesichtern zeigte sich die vertraute Maske ruhiger Gelassenheit. Er schaute mit fragendem Blick von einem zum anderen, doch seine Mutter lächelte ihn nur warm an, und sein Vater hatte sich wieder demSonntagspropheten zugewandt.

Scorpius wusste, was von ihm erwartet wurde. Er holte tief Luft und stellte sich mit geschlossenen Augen eines der Bilder vor, wie es sein Vater ihm beigebracht hatte, damit er seine Gefühle besser kontrollieren konnte: ein Kamin voll glühender Holzscheite, die mit einem Krug klaren, kalten Wassers gelöscht wurden. Er stellte sich das Zischen vor und dann die emporsteigende Dampfwolke und schließlich das Häufchen nasser Asche, das nur durch einen sehr starken Zauber wieder entzündet werden konnte. Nur er konnte diesen Zauber aussprechen oder – und das war noch wichtiger – nicht auszusprechen.

Er atmete aus und war wieder vollkommen ruhig.

"Guter Junge", murmelte sein Vater, wobei er den Blick nicht von der Zeitung nahm. Aber seine Hand lag immer noch auf Scorpius' Fingern, und die bedächtigen, eindrücklichen Bewegungen, mit denen er über Scorpius' Knöchel strich, verrieten, dass seine volle Aufmerksamkeit ihm gehörte. Seine volle Aufmerksamkeit und sein stiller, unerschütterlicher Stolz.

Und obwohl ihm noch Tränen in den Augen standen, lächelte Scorpius.