Der kleine Greifvogel mit weissbraun gesprenkelter Brust breitete seine dunkelgrauen Schwingen aus und segelte über das Land vor dem Schloss Hogwarts. Der Blick des gefiederten Spähers ruhte aber nicht auf dem Quidditchfeld, wo gerade eine kleine Gruppe von Schülern mit Bodengymnastik zur Vorbereitung auf das Flugtraining beschäftigt war. Mit so leichten Turnereien hielten sich seine Jungs schon lange nicht mehr auf. Zu wichtig waren die Missionen, für welche sie sich ausbilden lassen wollten. Fliegen war nur eine Sache, die sie fast bis zur Perfektion beherrschen mussten. Wenige Flügelschläge später hatte er die Richtung gewechselt und näherte sich dem Verbotenen Wald. Die vier Stunden seitdem er sie losgeschickt hatte, waren bald um, er war gespannt, was er hinter dem abweisenden schwarzgrünen Waldsaum vorfinden würde.
Das stachelige Unterholz war nur für Anfänger ein Hindernis. Für ihn, der seit Jahren schon in der Profi-Liga mitspielte, stellten selbst die wirr durcheinanderstehenden Baumriesen mit ihren unregelmässig verteilten Ästen bloss eine spielerische Übung des Slalomfliegens dar.
Die Flügel eines Sperbers sind relativ kurz, breit und an ihren Spitzen gerundet, der Schwanz ist verhältnismäßig lang. Dies ermöglichte zwar keine extremen Fluggeschwindigkeiten, jedoch eine hohe Wendigkeit auf engem Raum.
Es überkam ihn aber zu keiner Zeit der Übermut. Den Blick steht's auch auf den Boden zu Füssen der Bäume gerichtet, folgte er einem nur für ihn sichtbaren Weg durch das trübe Zwielicht des Waldes.
Ah dort! Hinter den gespenstisch wirkenden Luftwurzeln eines undefinierbaren Gehölzes konnte man Umrisse einer Gestalt ausmachen. Es war keiner der dauerhaften Bewohner des Forstes, doch die Person rührte sich nicht, als der erfahrene Sperber auf einer moosbewachsenen Fläche in der Nähe niederging. Dass in der Umgebung keine Gefahr lauerte, hatte der ankommende Vogel bereits aus der Luft geprüft. Einen Herzschlag später erhob sich ein Mann mit zimtbraunen Augen und graumeliertem Haar von der Stelle im Moos. Fabian Doge strich sich seinen blauen Umhang glatt und schritt zu dem liegenden Aurorenanwärter Terence Higgs, um ihn zu untersuchen. Es genügten nur wenige Handgriffe und ein erprobter Zauberspruch, um den Animagus Doge dann seufzend auf das schwere Holzfass neben dem zusammengebrochenen Rekruten blicken zu lassen. Terence war der Erste von den Zwölf, welcher sich offensichtlich überschätzt hatte und bei dem Marsch für Eliteschüler an seine Grenzen gestossen war. Dem jungen Slytherin fehlte nichts, was nicht durch ein paar Stunden Schlaf und eine kräftige Mahlzeit zu beheben wäre. Natürlich war da noch die Enttäuschung, dass er die Belastungsprobe nicht bestanden und es nicht geschafft hatte, das Fass mit der Spezialausrüstung an seinem Bestimmungsort abzuliefern. Aber darum konnte sich Ausbilder Doge im Moment nicht kümmern, der Junge musste hier raus, zurück ins Lager und er selbst sollte nun weiter, um nach den anderen Teilnehmern des Ausdauermarsches zu sehen. Geschickt zog der grauhaarige Mann eine grüne Perlenkette aus seinem Beutel und legte sie dem Burschen auf dem Waldboden um den Hals. Nach einem kurzen Aktivierungsspruch waren er und auch das Holzfass verschwunden. Per Portschlüssel zurück ins Lager vor das Zelt seiner Assistenten Ogden und Amelia Bones gereist, wo sich die beiden um den erschöpften Burschen kümmern würden.
Der Sperber jedoch stiess sich wenige Augenblicke später vom Boden ab, stieg steil in die Höhe und zirkelte vorsichtig durch ein lianenreiches Gebiet, immer auf der Hut nicht einer Teufelschlinge zu nahe zu kommen. Ein Auror hatte keinen leichten Job, ob nun als Rekrut, als Auror im Dienst oder eben wie er, als Ausbilder und Prüfer einer Rekruteneinheit.
Hinter dem luftigen Teufelsgarten, ein Stück östlich des Zentauren-Reviers, befanden sich drei weitere Anwärter auf das Aurorenamt. Zwei von ihnen hatten den grossen Sumpf der Wichtelfische schon ohne Schaden überquert und wandten sich dem Pfad zur Höhle des Strix zu. Ein Mädchen aus Hufflepuff war dem Beispiel ihrer Kollegen noch nicht gefolgt und suchte offensichtlich nach einer vierten Person. Der Teamgeist der jungen Dame in Ehren, aber was hatte ihr Kollege angestellt, dass sie ihre eigene Sicherheit an den Ufern des heimtückischen Sumpfes vernachlässigte? Wachsam kreiste der Sperber einige Male über das heimtückische Moorwasser, in dem sich schon der eine oder andere Wichtelfisch an der Oberfläche zeigte. Mit ihren Tentakelzungen, die höllische Wunden in die Haut ätzen konnten, waren sie keineswegs so harmlos, wie sie ausschauten.
Verdammt, jetzt hat er den vermissten Schüler, nach dem gesucht wurde, entdeckt. Der Knabe torkelte wie im Delirium durch das nahe Unterholz und parlierte offensichtlich mit Stimmen in seinem Kopf. Rasch landete der Meister und verwandelte sich in einen Menschen. Dann schickte er die Schülerin weiter, sie solle ihren Kollegen unbesorgt ihm überlassen. Derweil das Mädchen eine solide Spinnennetzbrücke über den Sumpf beschwor und sich, von den Fischen unbehelligt, von dannen machte, näherte sich Doge dem halluzinierenden Rekruten. Dieser hieb mit einem Stock um sich und drohte einer imaginären Todesfee. Als er sich zu dem sich nähernden Mann umdrehte, fiel der Blick von Doge auf ein Pilzgewächs in der anderen Hand des Schülers.
Es war Stephanel Fletcher, der Wichtigtuer in der Gruppe und was er da angebissen in der Hand hielt, erklärte sein verrücktes Verhalten, das er gerade an den Tag legte.
„Schmeiss den Stock weg und setz dich!", befahl der Lehrmeister. Allerdings mit wenig Hoffnung, das der berauschte Bursche gehorchen würde. Stephanel schmiss den Stock schon, aber in Richtung seines Lehrers, welcher sich rasch ducken musste. Dann wollte der Junge mit den Fäusten auf den blaugewandeten Auroren losgehen, stolperte jedoch in seinem Zustand über die eigenen Füsse und machte eine Bauchlandung im Gestrüpp.
„Egal, liegen geht auch und jetzt warte", knurrte Fabian Doge verärgert und suchte eilig die Umgebung nach den geeigneten Pflanzen ab. Immer wieder ein prüfenden Blick zu dem gestrauchelten Schüler werfend, pflückte der Mann die nötigen Pflanzen und legte sie auf einen flachen Stein.
Kaum hatte Fabian den Saft aus dem Rauchmoos gepresst und das gehackte Kleekraut daruntergemischt, füllte er den dünnflüssigen Brei in ein Plastikröhrchen. Dann kniete sich Doge neben dem am Boden kauernden Rekruten und umfasste ihn von hinten mit einem Arm so, dass dieser mit dem Rücken zum Ausbilder sitzen bleiben musste. Aufgebracht begann der junge Fletcher zu fluchen und wollte sich aus dem harten Griff befreien. Doch der erfahrene Auror verstärkte die Umklammerung und schob ihm dann resolut die Spitze des Röhrchens in den offenen Mund. Gleichzeitig nahm er den Finger von der oberen Öffnung und der dünnflüssige Inhalt tropfte dem Jungen in die Mundhöhle. Seine Flüche endeten abrupt, als der übelschmeckende Sirup auf seine Zunge traf. Gurgelnden und hustend versuchte der Rekrut das Zeug auszuspucken, wurde aber rasch nach hinten zu Boden gezogen, bis der er sich halb liegend im Schoss seines Bändigers befand. Dieser hielt den vergifteten Schüler weiter in dieser Position und schob das Röhrchen noch etwas weiter in dessen Rachen.
Stephanel wehrte sich vergeblich gegen den Zwang, sah hinauf zu den zimtbraunen Augen und begegnete dem unerbittlichen Blick von Fabian Doge.
„Schlucken! Durch die Nase atmen und schlucken. Nicht kauen, nur schlucken. Ja so, schön schlucken und noch einmal", drang die Stimme seines Ausbilders an sein Ohr.
„Bitter", nuschelte der Junge undeutlich und wollte sich schütteln. Die starken Hände des Aurors liessen ihm aber kaum Spielraum und Spucken ging in dieser Lage nicht mehr.
„Wenn du an hochgiftigen Wespenpilzen herumknabbern kannst, kannst du auch Rauchmoos mit Bitterklee trinken", erwiderte sein Betreuer ungerührt und begann nun die Kehle seines Patienten zu massieren. Durch die gezielten Berührungen wurde der Schluckreflex weiter angeregt und der junge Mann sah sich genötigt auch den letzten Rest des bitteren Pflanzensirups zu trinken.
Langsam liess die Gegenwehr nach und bald lag Stephanel wie ein Häufchen Elend in den Armen von Doge. Der Sirup hatte seine Wirkung voll entfaltet und die Halluzinationen waren verschwunden.
„Ich hab's verpatzt, nicht wahr?", fragte der junge Bursche einige Minuten später etwas kleinlaut.
„Das kann man wohl sagen", erwiderte Doge und schüttelte missbilligend den Kopf. „Selbstschutz heisst nicht nur Waffen schwingen, sondern auch Gehirn einschalten bei der Nahrungsaufnahme. Hatten wir aber alles in 'Feinddenken Theorie und Praxis' oder auch im 4-wöchigen Überlebenskurs in unbekanntem Territorium."
Doge liess den Jungen los, stand auf und trat ein paar Schritte zurück. Als er sah, dass der Schüler wieder einigermassen sicher auf den Beinen war, schnarrte er erbarmungslos: „Durchgefallen! Ab ins Lager zum Gesundheitsheck. Nachher kannst du deine Sachen packen, deine Lehre bei mir ist hiermit beendet."
Auch wenn er nicht gerne solche Entscheide fällte, bei Schülern, die nach so vielen Lehrstunden und Übungseinheiten sich immer noch durch Übermut und unbedachten Aktionen selbst in Gefahr brachten, da konnte man kein Auge zudrücken. Es hing nicht nur das Leben und die Gesundheit des Schülers von seinen Taten ab, sondern später auch das Wohl seiner Arbeitskollegen, ja einer ganzen Abteilungen oder gar die Unversehrtheit von Zivilisten. Die Auswahl der Lehrlinge und das Bestehen der Prüfungen waren hart und grausam. Genau wie das Leben und der Job eines Auroren es dann eben auch sein würde.
Doge strich sich über seine lederverstärkte Hose und dachte an die grosse Narbe auf seinem Oberschenkel. Er bedauerte das Ausscheiden von Fletcher, aber er hatte kein Mitleid mit dem erschütterten Jüngling, der zurück ins Lager apparierte. Genauso wenig wie der Drache damals Mitleid hatte, als er im Kampf mit einem Artgenossen aus Versehen den jungen Auror Fabian mit seinem Schwanz gestreift hatte. Das Andenken aus seinem Praktikum im Drachenreservat trug er noch heute auf seinem Leib und das war schon bald zwanzig Jahre her.
