Prolog
2. Oktober 1707, Mittelmeer, Erde
Flandenbourgh
Die letzten Stunden zogen wie im Zeitraffer vor Daniels' Augen vorüber. Immer wieder fragte er sich, ob er anders hätte handeln können, sich anders hätte entscheiden können. So oft er die Alternativen auch durchspielte, kam er doch immer wieder zu dem Schluss, dass keine andere Lösung für sein Dilemma möglich gewesen wäre.
Schon in der Schule hatte er anhand hypothetischer Szenarien alle möglichen temporalen Paradoxa kennen gelernt und immer wieder wollte er schlauer sein als seine Lehrer. Oft hatte er Stunden damit zugebracht einen Ausweg oder ein Schlupfloch zu suchen um dem scheinbar unausweichlichen Schicksal doch noch zu entkommen. Insbesondere das so genannte Prädestinationsparadoxon hatte es ihm damals angetan. Ein Ereignis in der Vergangenheit führt zu einer Zeitreise aus der Zukunft und das Handeln des Zeitreisenden ist der schlussendliche Auslöser eben jenes Ereignisses. Wie konnte er ahnen, dass er einmal selbst einen entscheidenden Beitrag zu einem solchen Paradoxon liefern würde. Insgeheim fragte er sich, ob zukünftige Generationen von Schülern das "Enterprise-Paradoxon" behandeln würden. Vielleicht würde es dereinst einen ebenso ehrgeizigen Schüler geben, der eine alternative Lösung finden könnte. Doch ob es einen solchen Schüler geben würde, hing entscheidend davon ab, ob es ihm gelingen würde alle Beteiligten wieder in ihr eigenes Jahrhundert zurück zu befördern.
In seinem Fall war das auslösende Ereignis das Studium der Geschichte der H.M.S. Enterprise, eines Schiffes der britischen Marine, welches Anfang des 18. Jahrhunderts im spanischen Erbfolgekrieg im Einsatz war. In den Aufzeichnungen in der Zentralbibliothek der Föderation fanden sich leider nur recht spärliche Informationen über das erste Schiff mit dem berühmten Namen. Was Daniels jedoch bei seinen Recherchen fand, waren widersprüchliche Angaben zum Verbleib des Schiffes. Das eine Buch datierte den Untergang der Enterprise auf den 2. Oktober 1707 im Mittelmeer. Ein anderes Buch jedoch verortete den selbigen auf den 12. Oktober 1707 in der Nähe von England. Dieser Widerspruch hatte ihn dazu veranlasst 13 Jahrhunderte in die Vergangenheit zu reisen, wo ein neues Paradoxon darauf wartete von ihm gelöst zu werden.
An Bord der H.M.S. Enterprise zu gelangen war recht einfach gewesen. Da anscheinend der Stewart des Schiffes verschwunden war, nutzte Daniels geschickt seine Erfahrungen, welche er in dieser Position bereits auf einem anderen Schiff des selben Namens gesammelt hatte, um die Vakanz auszufüllen. Seine Position bot ihm die Möglichkeit alle Aktivitäten an Bord des Schiffes genau zu verfolgen ohne direkt darin involviert zu werden. Leider hielt sein Glück nur bis zum ersten Gefecht mit einer französischen Fregatte. Die Franzosen machten keinen Unterschied zwischen Soldaten und Zivilisten, als sie das Feuer auf alles eröffneten, was sich an Deck bewegte. Daniels behielt nur insofern Glück, als ihn lediglich eine Kugel an der Schulter traf. Die Operation mit den primitiven Instrumenten des 18. Jahrhunderts war schmerzhaft. Noch schmerzhafter war allerdings der Gedanke, dass ihn beim nächsten Gefecht eine Kugel ein paar Zentimeter tiefer treffen könnte und seine Familie in der 13 Jahrhunderte entfernten Zukunft durch solch ein primitives Projektil ihren Ehemann und Vater verlieren würden.
Um zu verhindern, dass es dazu kam, blieb Daniels nur die Möglichkeit, sich der Technologie der Zukunft zu bedienen. In seinem ehemaligen Quartier an Bord der S.S. Enterprise NX-01 befand sich ein Gerät, welches ihm dabei helfen konnte. Es war der experimentelle Prototyp eines Energy-Matter-Master Device (kurz EMMAD), welches der temporale Agent damals für seine Mission an Bord von Captain Archers Schiff erhalten hatte. Mit diesem Gerät war es möglich Energie und Materie nach Belieben zu manipulieren und zu kontrollieren. Alles was Daniels tun musste war einen temporalen Transponderlink zu dem Gerät im 22. Jahrhundert herzustellen um es zu sich zu holen. Leider kam das Gerät nicht wie geplant an. Stattdessen fing er wenige Tage später einen Notruf von Captain Archer auf, welcher sich in den Händen von Piraten befand.
Daniels ahnte schon, dass bei dem temporalen Transport des EMMAD etwas gehörig schief gegangen war und dass er indirekt für Archers missliche Lage verantwortlich war. Er wurde nun also vor die Entscheidung gestellt, was es zu retten galt: die Integrität der Zeitlinie, für die er sich sein ganzes Leben lang eingesetzt hatte, oder das Leben des Captains, für den er noch immer einen tiefen Respekt empfand. Erstaunlicherweise fiel ihm diese Entscheidung relativ leicht. Seine Erfahrungen an Bord beider Schiffe namens Enterprise hatten ihn gelehrt wie wichtig jedes Menschenleben und Loyalität seinen Kameraden gegenüber ist. Und so beschloss er alles in seiner Macht stehende zu tun um Captain Archer und seine Crew zu retten, selbst wenn es das Ende seiner Karriere bedeuten würde.
Als die H.M.S. Enterprise das Piratenschiff aufbrachte, hatte Daniels seine Vorbereitungen abgeschlossen. Auch ohne das EMMAD standen ihm Mittel und Werkzeuge zur Verfügung, welche sich für sein Vorhaben als nützlich erweisen würden. Seine Kollegen von der Abteilung für temporale Ermittlungen würden den Einsatz solcher Mittel nur in äußersten Notsituationen genehmigen. Doch nun, da Daniels bereits geistig mit seinem Dienst in dieser Abteilung abgeschlossen hatte, spürte er einen gewissen Nervenkitzel bei dem Gedanken diese Mittel zum Einsatz bringen zu können. Er fühlte sich fast wieder so wie bei seinem zwölften Geburtstag, als ihm sein Vater seinen ersten Bausatz für einen temporalen Kommunikator geschenkt hatte.
Die erste Salve aus den Kanonen der Enterprise war auch der Startschuss für Daniels. Mit seinem tragbaren Handscanner hatte er Archer und seine Kameraden bereits auf dem Piratenschiff ausgemacht. Die vier Mitglieder des Außenteams der S.S. Enterprise befanden sich in dem Aufbau am Heck des Schiffes. Sie schienen alle unversehrt zu sein. Das ließ zumindest einen kleinen Stein von Daniels' Herzen fallen. Wie groß war aber die Lawine, die sich gleich darauf löste, als er seinen Scanner auf den Bug des Schiffes richtete. Dort befand sich ein kleines Beiboot, welches nicht so aussah, als wäre es von den erfahren Schiffbauern aus diesem Jahrhundert gebaut worden. Diese Hypothese bestätigte sich insbesondere durch die Anwesenheit denobulanischer Flankwürmer in dem Holz des Bootes. Doch die Würmer waren es nicht, was Daniels Begeisterung auslösten. Im Boden des Bootes befanden sich eine Hand voll technischer Geräte: zwei Tricorder, zwei Kommunikatoren und ein Gerät, welches weder in dieses Jahrhundert noch in das der anderen Geräte gehörte. Es war das EMMAD.
Sofort fingen Daniels Gedanken mit Lichtgeschwindigkeit zu arbeiten an. Um ihn herum begann bereits das hektische Treiben des Gefechtes. Doch er stand in diesem aufgewühlten Ozean wie ein Fels der Ruhe. Er wusste genau, was er zu tun hatte.
Während die beiden Schiffe Salven von Kanonenkugeln austauschten, nutzte Daniels die ihm zur Verfügung stehenden Werkzeuge um den Verlauf des Gefechts zu beeinflussen. Aus seinem Phaser und einigen Utensilien aus der Kombüse der H.M.S. Enterprise hatte er einen portablen Traktorstrahl-Emitter gebastelt, mit welchem er die Flugbahn der Kugeln beeinflussen konnte. Mittlerweile hatten sich die beiden Schiffe so weit angenähert, dass die ersten Projektile ihr Ziel fanden. Ein solches schlug nur wenige Meter neben Daniels in die Seite des Schiffes ein. Schnell beendete er die Kalibrierungen seines Traktorstrahls. Gerade noch rechtzeitig, denn das nächste Projektil flog direkt auf ihn zu.
Daniels aktivierte den Traktorstrahl. Ein schmaler blauer Strahl ging von dem kleinen Gerät in seiner Hand aus und fing die Kugel knapp vor dem Einschlag ab. Jetzt musste er sie nur noch irgendwo hin lenken, wo sie keinen so großen Schaden anrichten konnte. In diesem Moment rempelte ihn einer der britischen Soldaten an. Der Traktorstrahl samt Kanonenkugel schoss nach oben und schlug in den oberen Teil des Hauptmastes ein. Dieser knickte an der Stelle des Einschlags ab und stürzte direkt auf Daniels herab. Schnell richtete er seinen Traktorstrahl nach oben um das Mast-Bruchstück in seinem Fall zu bremsen. Diesmal wollte er kein Risiko eingehen und beschloss kurzerhand seinen Fang dem Meer zu übergeben.
Nachdem der Mast mit einem lauten Platschen ins Wasser gefallen war, stellte Daniels fest, dass der Soldat, der ihn zuvor angerempelt hatte, nur einer von zwanzig Männern war, die nun mit ihren Musketen an der Reling standen und das Feuer auf die Piraten eröffneten. Sofort schossen die Bilder seiner eigenen Erfahrungen mit einer Gewehrkugel vor seinem geistigen Auge vorbei. Er musste verhindern, dass Archer und seine Crew das gleiche oder ein noch schlimmeres Schicksal erleiden mussten. Ein schneller Blick auf seinen Handscanner zeigte ihm die Position der vier Mitglieder des Außenteams. Sie hatten sich mittlerweile bis zur Mitte des Schiffes vorangekämpft, waren jedoch durch den ebenfalls herabgestürzten Hauptmast des Piratenschiffes voneinander getrennt. Offenbar versuchten die vier ihr Boot zu erreichen. Dabei wurden sie immer wieder von Piraten und den heransausenden Kugeln der Briten behindert. Also war es auch für Daniels an der Zeit härtere Geschütze aufzufahren.
Er griff in eine Tasche seiner Weste und zog eine kleine Büchse hervor. Von außen war es nur eine Dose mit Schnupftabak, doch im Inneren schlummerte ein weitaus stärkeres "Kraut". Mit aller Kraft warf er die Dose an Bord des Piratenschiffes. Daniels kontrollierte die Position seiner Wurfsendung. Das Außenteam war außerhalb der Reichweite. Darauf hatte er gewartet. Ein Druck auf den entsprechenden Knopf auf seinem Handscanner löste die selbst gebastelte temporale Betäubungsgranate aus. Alle Piraten im Umkreis von fünf Metern froren in ihren Bewegungen ein. Das ergab so manches obskures Bild. Ein Pirat wollte sich gerade auf das Außenteam stürzen und stand nun einer Statue gleich mit erhobenen Säbel in der Zeit eingefroren. Ein anderer Pirat war von einer Gewehrkugel aus den Musketen der Briten getroffen worden und schwebte nun im Fallen begriffen mitten in der Luft. Doch das war erst die eine Hälfte. Daniels warf eine zweite Granate in Richtung der feuernden Soldaten. Auch diese froren sofort in der Zeit ein, ebenso wie die Kugeln, die gerade dabei waren den Lauf ihrer Gewehre zu verlassen.
Derweil waren die Männer beider Seiten, welche noch in der Lage waren sich zu bewegen, dabei Enterhaken auf das jeweils andere Schiff zu werfen. Der Kampf Mann gegen Mann hatte begonnen. Doch auch darauf war Daniels vorbereitet. Da er seinen Phaser nicht mehr als solchen benutzen konnte, hatte er sich eine neue, nicht ganz so fortschrittliche, wenngleich effektive Waffe gebastelt. Heimlich hatte er aus der Waffenkammer einen alten rostigen Säbel mitgehen lassen. Er mochte zwar nicht mehr scharf sein, doch konnte er noch immer elektrischen Strom leiten. Dies machte sich Daniels zunutze um mit ihm, angeschlossen an die Energiezelle seines Phasers, kleine Energieblitze auf seine herannahenden Gegner zu schleudern. Zunächst versuchte er es mit einer niedrigen Leistung. Ein Pirat kam gerade auf ihn zugestürmt. Daniels schwang seinen Säbel, doch nichts passierte. Der Pirat kam immer näher. Jetzt musste er sich schnell etwas einfallen lassen. So gut es ihm möglich war, versuchte Daniels die Angriffe des Korsaren zu parieren, während er gleichzeitig die Leistung der Energiezelle erhöhte. Es dauerte nicht lange, da stoben die ersten Funken zwischen den beiden Säbeln. Noch ein wenig mehr. Ein blauer Blitz zuckte über den Säbel des Piraten und durch dessen Arm. Die unkontrollierte Muskelkontraktion sorgte dafür, dass der Säbel seines Kontrahenten zu Boden fiel. Daniels drehte die Leistung seines Blitzsäbels noch ein wenig höher und schickte den Piraten mit einem gut gezielten elektrischen Schlag in das Land der Träume.
Nun war es aber an der Zeit das Außenteam der Enterprise aktiv zu unterstützen. Daniels ergriff den Enterhaken, den der Pirat, welcher nun betäubt am Boden lag, benutzt hatte um an Bord der H.M.S. Enterprise zu gelangen. So etwas hatte er zuvor noch nie gemacht. Wenn seine - nun ehemaligen - Kollegen von der Abteilung für temporale Ermittlungen mal wieder einen Ausflug zum Low-Gravity-Klettern machten, hatte sich Daniels stets erfolgreich gedrückt. Doch konnte er seine mangelnde Erfahrung durch die Nutzung technischer Hilfsmittel gut kompensieren. Er nutzte einfach seinen portablen Traktorstrahl um den Enterhaken an eine günstige Position am Mast des Piratenschiffes zu befördern und er nutzte ihn ebenfalls um sich den nötigen Schwung zu verschaffen um das andere Schiff zu entern.
Sogleich wurde er von drei wilden Korsaren begrüßt. Daniels ließ seinen Säbel durch die Luft schneiden und sandte seinem Begrüßungskomitee eine Salve elektrischer Blitze entgegen. Die drei Piraten fielen auf der Stelle zu Boden und rührten sich nicht mehr. Mit einem triumphierenden Lächeln schritt Daniels über die danieder liegenden Körper seiner Kontrahenten hinweg. Mit einem schnellen Blick nach links und rechts stellte er sicher, dass ihm kein Angriff mehr drohte. So wie es aussah, waren die Korsaren und die Briten gerade mit sich selbst beschäftigt. Daniels hatte das Gefühl inmitten eines tosenden Sturms zu stehen. Doch er war so ruhig und fokussiert wie noch nie zuvor. Er hatte die volle Kontrolle über sich selbst und über die Ereignisse, die um ihn herum geschahen.
Er richtete nun seinen Fokus auf das Außenteam, welches sich auf der Steuerbordseite des Schiffes befand und nun wieder komplett versammelt war. Mit bedächtigen aber doch sicheren Schritten ging er auf Captain Archer und seine Kameraden zu. Lieutenant Malcolm Reed bemerkte ihn als erster. Der Brite lag schwer verwundet auf dem Deck umringt von den anderen. Offenbar war er in einen Kampf mit einem der Piraten verwickelt gewesen, welcher nun reglos neben ihm lag. Auch Ensign Hoshi Sato schien verletzt zu sein. Sie kniete neben Reed, seinen Kopf auf ihrem Schoß haltend. Ihr linkes Bein stand in einem unnatürlichen Winkel ab, woraus Daniels schloss, dass es gebrochen war. Captain Jonathan Archer hatte indes nur leichte Verletzungen davon getragen, während Commander T'Pol gänzlich unverletzt schien. Die Verletzungen des Außenteams beunruhigten Daniels jedoch in keinster Weise, denn er wusste genau, wie er ihnen helfen konnte.
Nun bemerkten auch die anderen Mitglieder des Außenteams seine Anwesenheit. Neben Ensign Satos erschrockenen Schnappen nach Luft, brachte nur Captain Archer etwas heraus: "Daniels".
