Zwischen grauen Schatten
von Estella Carn
Kapitel 1
Seit einigen Minuten stochere ich nur noch in meinem faden Mittagessen herum. Mein Bruder Caleb sitzt mir gegenüber und ist in einem Gespräch mit Susan Black vertieft. Ihr Bruder Robert sitzt neben mir und schweigt beharrlich.
Gelangweilt lasse meinen Blick durch die überfüllte Schulkantine schweifen. Ich beobachte fröhliche Amité, strebsame Ken, diskussionsfreudige Candor, gesellige Ferox und introvertierte Altruan. Ansammlungen von gelb oder rot, blau, schwarz-weiß, schwarz und grau gekleideten Anwärtern aller fünf Fraktionen, die sich interessanterweise nie untereinander vermischen.
Auch Caleb, Susan, Robert und ich sind im einheitlichen Grau der Altruan gekleidet. Wir sind zusammen aufgewachsen. Unsere Familien sind seit Jahren Nachbarn und unsere Eltern eng befreundet. Als wir noch jünger waren, habe ich sogar gedacht, Robert und ich würden einmal heiraten, genauso wie Susan und Caleb. Unwillkürlich schüttele ich jetzt bei diesem Gedanken den Kopf.
Ich lege die Gabel beiseite und schiebe meinen Teller ein Stück von mir. Ich lehne mich zurück und mein Blick wandert wieder suchend durch den riesigen Essenssaal.
Dann entdecke ich ihn endlich: Tobias Eaton. Groß, schlank, braune Haare. Mit gesenktem Kopf trägt er sein Tablett von der Essensausgabe zu seinem angestammten Platz.
Ich habe einige Zeit gebraucht, dahinterzukommen, dass er tatsächlich Marcus Eatons Sohn ist. Marcus ist einer der Anführer unserer Fraktion und bei allen Altruan bekannt und beliebt. Von Tobias hingegen scheint kaum jemand Notiz zu nehmen. Er sitzt immer allein an dem kleinen Tisch in der hintersten Ecke der Kantine. Nie sehe ich ihn sich mit anderen unterhalten.
Tobias ist eigentlich ziemlich gutaussehend. Er ist mindestens 1,80 m groß und obwohl er schlank ist, ist er nicht zu schlaksig wie die meisten Jungs seiner Größe. Seine Bewegungen sind kontrolliert und geschmeidig. Die Proportionen seines Gesichts passen perfekt zueinander und er hat wunderschöne volle Lippen. Ich wundere mich, dass das offensichtlich noch kein anderes Mädchen bemerkt hat.
Aber wahrscheinlich wäre er auch mir nicht aufgefallen, wenn sich an unserem Tisch nicht seit Tagen das immer Gleiche abspielen würde: Susan und Caleb unterhalten sich angeregt, Robert dagegen spricht kein einziges Wort und starrt finster vor sich hin. Zwangsläufig habe ich also begonnen, meine Mitschüler zu beobachten. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich angefangen, die Jungs in meinem Alter zu beachten.
Ich bin 15 Jahre alt. Tobias ist, soweit ich weiß, etwas älter als ich. Ich kann mir eigentlich nicht erklären, warum gerade er mich anspricht. Er lächelt nie und wirkt stets kühl, fast schon abweisend. Er scheint sich nicht in unsere Gemeinschaft integrieren zu wollen.
Da mein Vater eng mit Marcus zusammenarbeitet und auch eine Art Freund von ihm ist, waren meine Eltern, Caleb und ich vor einigen Jahren auf der Trauerfeier für Tobias Mutter Evelyn. Doch ich kann mich nicht erinnern, Tobias damals gesehen zu haben. Und ich kann mich auch nicht erinnern, dass er jemals dabei gewesen ist, wenn meine Eltern ihn und Marcus zum Abendessen eingeladen haben. Tobias ist mir ein Rätsel und vielleicht macht ihn das auch so interessant.
Ich wende meinen Blick von Tobias ab und beobachte stattdessen Caleb und Susan. Plötzlich wird mir bewusst, dass die Beiden für Altruan ungewöhnlich nah beieinander sitzen. Unsere Fraktion vermeidet nach Möglichkeit jegliche Art von Körperkontakt, selbst zur Begrüßung geben wir uns nicht die Hand. Gerade lädt Caleb Susan für später noch zu uns nach Hause ein. Sie nimmt die Einladung meines Bruders an und strahlt über das ganze Gesicht. Schlagartig wird mir klar, dass das was die beiden da tun, die Art der Altruan zu flirten ist.
Überrascht sehe ich zu Robert, der seinen Stuhl zurückschiebt, eine Entschuldigung murmelt und hastig den Tisch verlässt. Caleb, Susan und ich tauschen verwirrte Blicke aus und ich frage mich, ob Robert eifersüchtig auf die beiden ist.
Im selben Augenblick bemerke ich, wie Tobias sein Tablett wegräumt und zum Ausgang geht. Auch ich erhebe mich, um zu gehen. Als ich mein Tablett nehmen will, hält mich Caleb zurück und sagt: "Lass ruhig, ich mache das dann schon für dich. Geh ihm nach."
Ich erröte, weil ich einen Augenblick lang glaube, dass es meinem Bruder aufgefallen ist, dass ich Tobias beobachtet habe. Doch dann sieht Caleb in Roberts Richtung, der gerade die Kantine verlässt. Ich nicke nur und lasse ihn in dem Glauben, ich würde Robert nacheilen.
Am Ausgang sehe ich mich noch einmal um, doch Susan und Caleb sind schon wieder so vertieft in ihrem Gespräch, dass sie es gar nicht bemerken, wie ich nicht in die Richtung gehe, die Robert eingeschlagen hat, sondern in die andere Richtung, um Tobias zu folgen.
Auf dem Schulflur wimmelt es nur so von Leuten und ich kann Tobias nirgendwo entdecken. Ich gehe den Flur hinunter, aber muss feststellen, dass es aussichtslos ist. Ich kann ihn nicht finden. Ich drehe mich um und gehe wieder in die andere Richtung, um in meine Klasse zu gelangen.
Ich bin enttäuscht, obwohl ich nicht weiß, warum ich ihm eigentlich gefolgt bin. Ich bin mir sicher, dass ich nicht den Mut gehabt hätte, ihn anzusprechen. Und überhaupt, habe ich eigentlich auch keinen plausiblen Grund ihn anzusprechen.
Ich seufze leise und beschleunige meinen Schritt, weil mir die ganze Situation nun doch furchtbar unangenehm ist. Was habe ich mir bloß dabei gedacht, ihm nachzulaufen?
Mechanisch weiche ich einigen Mitschülern aus, doch plötzlich öffnet sich eine Tür und ich stoße heftig mit einer Person zusammen. Bücher und Hefte fallen zu Boden.
"Oh mein Gott, das tut mir leid," entschuldige ich mich hastig. Es ist ein Junge von den Altruan, der wie ich in grau gekleidet ist.
"Schon gut," murmelt er und beginnt seine überall auf dem Fußboden verteilten Sachen einsammeln. Ich beginne ihm zu helfen und hebe gerade zwei seiner Bücher auf, als er sich streckt, um an eines seiner Hefte zu gelangen und dabei vor Schmerzen leise aufstöhnt.
"Geht es dir gut? Habe ich dir weh getan?" frage ich ihn aufgebracht und sehe ihn das erste Mal direkt an. Er blickt auf und ich erstarre förmlich; zum einen, weil er die schönsten blauen Augen hat, die ich je gesehen habe und zum anderen, weil ich erst jetzt bemerke, dass ich mit Tobias zusammengestoßen bin.
Er schnaubt verächtlich und sieht weg. "Nein," sagt er, als er die restlichen Hefte aufsammelt. "DU hast mir nicht weh getan."
Dann erhebt er sich und geht.
Ich sehe ihm verwirrt nach, als mir auffällt, dass ich noch immer zwei seiner Bücher in den Händen halte.
"Deine Bü...," beginne ich ihm nachzurufen, doch er ist schon wieder in der Menge verschwunden.
