1. Dunkelheit.

Als er aus tiefer Bewusstlosigkeit auftauchte, trieben seine Gedanken träge durcheinander. Er versuchte nach einem von ihnen zu greifen, doch er entglitt ihm rasch wieder. Es war eisig um ihn herum – und auch in ihm. Mühsam versuchte er sein Zittern zu unterdrücken. Was war mit ihm passiert? War er tot? Nein, sicher nicht, sonst wäre ihm wohl nicht so kalt.

Er wollte die Augen öffnen, doch seine Lider waren schwer wie Blei. Mit einem schwachen Seufzen gab er den Versuch auf und blieb einfach liegen, auf dem kalten staubigen Boden, müde, verwirrt und fröstelnd. Etwas Klebriges bedeckte seinen Hals, und seine linke Schulter schrie vor Schmerzen. Seine Gedanken glitten davon, fort von hier, und er folgte ihnen dankbar hinauf zu den Sternen, die kalt auf ihn herunter leuchteten.

Wie viel Zeit vergangen war, konnte er nicht einmal ahnen, als ein Luftzug auf seinem Gesicht ihn wieder in die Nähe des Wachseins lockte. Er schaffte es gerade so, die Augen einen winzigen Spalt zu öffnen, doch sein Blick verschwamm und offenbarte ihm nur eine vage Ahnung von leuchtendem Scharlachrot und Gold, das sich vor seinem Gesicht bewegte. Was war das – ein Gryffindor-Schal? War der Junge etwa hier geblieben, anstatt seiner Bestimmung zu folgen?

Er wollte die Hand heben und den Schal vor seinem Gesicht packen, wollte den Jungen zu sich herunter ziehen und ihm ordentlich die Leviten lesen. Doch sein Arm wog eine Tonne, er konnte ihn nicht einmal anheben. Die fruchtlose Anstrengung forderte ihren Tribut: seine Augen schlossen sich wieder, ohne dass er es hätte verhindern können, und hinter seinen Lidern tanzten langsam winzige silberne Punkte. Wie Sternenlicht, das sich in den Augen des Jungen spiegelte… in Lilys Augen.

Seine Gedanken verwischten sich und zogen ihn wieder einmal mit sich ins Dunkel hinab, in die Erinnerung daran, was geschehen war. Bilder tauchten aus der Finsternis um ihn herum auf: der Dunkle Lord, die Schlange, der Angriff… und dann der Junge. Der Junge, wie er neben ihm kniete; wie er ihm diese wichtigen Erinnerungen überließ, während das Leben aus ihm heraus rann. Er erinnerte sich an die grünen Augen, an das Gefühl, dass Lily ihn nicht allein hier liegen lassen würde, und daran, wie er in eine gnädige Ohnmacht hinübergeglitten war. Dann war da nur noch diese samtene Schwärze gewesen, bodenlose, schwerelose, empfindungslose Schwärze.

Er fühlte große Tropfen, die auf ihn herunterfielen. Regen? Oder Tränen? Weinte der Junge etwa um ihn? Oder um die verpasste Gelegenheit, den Dunklen Lord endgültig zu vernichten? War er hier geblieben, bei ihm, seiner Mutter wesentlich ähnlicher, als Severus je hätte glauben mögen? An seiner Seite geblieben, anstatt zu tun, was von ihm erwartet wurde? Dann war alles umsonst gewesen.

Ärger stieg in ihm hoch, Ärger über den Jungen, doch er hatte nicht die Kraft wütend zu werden. Es war alles verloren. Die einzige Chance war vertan. Wozu, bei Merlins Lesestein, hatte er dann dem Jungen sein Innerstes offenbart, ihm seinen Weg gezeigt?

Wieder fiel sachte etwas auf ihn herab, warme Tropfen, die seinen Hals hinab rannen, die dünne Spuren auf seiner kalten Haut zogen, irgendwie angenehm waren. Etwas flatterte davon – ein Umhang? Ging der Junge nun doch noch, um seine Prophezeiung zu erfüllen, weil er Snape für tot hielt? Sein Ärger verrann so rasch wie die Tropfen, und die hallenden Fragen in seinem Geist wichen angenehmer Ruhe. Er versank in der Finsternis.

Dumpfe, leise Stimmen drangen wie durch dicke Watte zu ihm durch. Er war sich ziemlich sicher, dass er sie kannte. Eine Frau, und da war der Junge… oder? Er gab sich Mühe zu verstehen, was sie sagten, doch es war nur undefinierbares Murmeln. Vielleicht bildete er sich das Ganze auch nur ein, wünschte sich verzweifelt ihre Gesellschaft herbei, irgendjemanden, um nicht allein in dieser Hütte zu sterben. Die grünen Augen – wenn sie über ihn wachten, würde er alles Leid der Welt klaglos ertragen. Doch genau diese stets geliebten Augen waren es, die auf keinen Fall bei ihm bleiben durften. Der Preis wäre viel zu hoch.

Dann spürte er eine warme Hand auf seiner Stirn, eine weitere umschloss sein Handgelenk, und ganz nahe bei sich hörte er eine leise Frauenstimme. Sie klang ruhig und entschlossen, und gleich darauf wurde sein Körper hochgehoben, während jemand ihn in eine Decke wickelte. Als er warm eingehüllt dahinschwebte, ließ sein Zittern etwas nach, und er begrüßte dankbar die wärmenden Sonnenstrahlen, die sein Gesicht trafen. Etwas zerrte plötzlich heftig und ruckartig an ihm, und wieder versank er in der Dunkelheit.