Prolog:

Der Schleier fällt ...

...

Elisabeth, Elisabeth ...
Selbst hier bist du von uns getrennt!
Ein Rätsel, das kein Geist errät -
ein Zeichen, das kein Mensch erkennt ...

"Die Welt sucht vergebens den Sinn deines Lebens - du gehörst nur mir ..."

Es ist wie ein Traum, der real wird. All die Ewigkeit, die er allein verbracht hat, und nun diese Nähe ...

Als ihre Lippen die seinen berühren, besiegelt sie endgültig ihre seelische Verbundenheit. Elisabeth, seine Elisabeth!

Seit er sie zum ersten Mal sah, hatte sie Gefühle in ihm erweckt, die er längst vergessen hatte. Gefühle, die so wunderbar waren, daß es schmerzte. Obgleich er schon einmal geliebt hatte, erst von diesem Augenblick an wußte er, was Liebe wirklich bedeutete. Er mußte Elisabeth treffen, um zu erkennen, welches Moralverbrechen er an seiner ersten Geliebten begangen hatte; damals, als die Menschen noch seinen wahren Namen kannten ...

Thanatos, Sohn der Nyx und des Erebos.

Nahezu jeder kannte die alten Götter beim Namen, so wie sie sich alle gegenseitig kannten. So auch Brigid, die sich in keinster Weise daran störte, daß Thanatos als unbeständig und starrsinnig galt, im Gegensatz zu seinem Zwillingsbruder Hypnos. Während dieser sich eher mit der Natur verbunden fühlte, fand Thanatos sich nur dort aufgehoben, wo Menschen und Trubel um ihn herum waren. Besonders der Götter- und Totenkult der Menschen hatte es ihm angetan: So konnte man ihn bei derartigen Festen des öfteren auf der Erde antreffen, wo er sich über die Leichtgläubikeit der Feiernden amüsierte, aber auch mit der Zeit verstand, wie wichtig diese Rituale den Gläubigen waren.
Schon früh entdeckte er die Macht des Charmes. Mit ihm konnte er Freunde wie Fremde für die unmöglichsten Streiche gewinnen. Doch ihm wurde schnell klar, daß alle Lebewesen verletzbar waren, wann immer sich seine Freundschaft als Spielerei herausstellte. Und er merkte, daß er mitfühlte - jede Erfahrung, ob sie noch so schlimm war, hatte er tief in sich aufgenommen. Obgleich er sich immer wieder bemühte, die Empfindungen ruhen zu lassen, war er nicht umhin gekommen, auf Kosten anderer mit ihnen zu experimentieren. So hatte er herausgefunden, daß jedes Lebewesen auf dieselbe Empfindung anders reagierte, ja jede Empfindung anders wahr nahm.

Den Höhepunkt all seiner Erfahrungen hatte er allerdings in seiner ersten großen Liebe Brigid gemacht - und zwar als er sie ziemlich schnell wieder verließ. Ihr Vater Dagda war über die Enttäuschung und den Kummer seiner Tochter so erbost gewesen, daß er Thanatos zur Rede gestellt und ihm vorgeworfen hatte, ein Tunichtgut zu sein. Auch seine Eltern schüttelten den Kopf über ihn, weil sie es langsam an der Zeit fanden, daß Thanatos ebenso wie sein Zwillingsbruder ein sinnvolles Leben führte.

Verletzt in seinem Stolz, hatte er damals den Altgöttern die Stirn geboten und ungeniert von ihnen eine Antwort darauf verlangt, was für eine Aufgabe ihm mit seinen Gefühlskenntnissen und seinem Charisma denn läge. Die Antwort war eine Lehre fürs Leben gewesen - Dagda hatte ihn zu seinem Nachfolger, zum Totengott auserwählt ...

Eine Arbeit, die im Laufe der Jahrtausende zu seiner Identität geworden war. Ein Dasein, das ihm so vielseitige Namen wie Gesichter gab - doch die meisten nannten ihn einfach nur Tod. Bis auf Elisabeth.

"Schwarzer Prinz", so hatte sie ihn genannt, mit so viel Liebe in der Stimme, daß es ihm durch Mark und Bein gegangen war. Ihre Worte trafen ihn im tiefsten Inneren, ihr ganzes Wesen hatte ihn von Anfang an fasziniert ...

Und nun ist sein Traum endlich wahr geworden! Noch während er den Kuß behutsam intensiviert, spürt er, wie sie in seinen Armen zusammensackt. Er hat ihre Seele freigesetzt ...

Zärtlich fängt er ihren graziösen Körper auf, ein Abbild dessen, was sich hinter der nun leblosen Hülle verbirgt. Dann, ohne zu zögern, beugt der Tod sich vor, übergibt seine Geliebte den Todesengeln. Seine Helfer wissen, daß sie etwas Besonderes ist.

Elisabeth. Seine Elisabeth, für die nur ein ganz besonderer Ort in Betracht kommt - eine bessere Wirklichkeit.

Das Paradies ...