„Temperance, hör auf, mich zu suchen..." tönte der Anrufbeantworter zum 50igsten Mal. Sie konnte einfach nicht aufhören sich das Band anzuhören. Russ war schon längst eingeschlafen und Booth war kurz nach Mitternacht gegangen. Temperance hatte sich kurz nach Russ ebenfalls ins Bett gelegt, doch sobald sie die Augen schloss, sah sie alles wieder. Die Überreste ihrer Mutter, die Mordwaffe, mit der ihrer Mutter das Leben genommen wurde und McWicker, der sie anwiderte. „Mein Vater ist am Leben." Dachte sie. Innerhalb einer Woche hatte sie herausgefunden, was mit ihrer Mutter passiert war und erfahren, dass ihr Vater wider Erwarten noch lebt. Doch war sie erleichtert ?

Einerseits war sie froh, dass er noch am Leben ist, aber warum hat er sich nicht früher bei ihr gemeldet, sondern erst jetzt, als sie nachzuforschen begonnen hatte? Warum hatte er sie nie aus dem Pflegeheim geholt indem sie die letzten Jahre ihrer Jugendzeit verbracht hatte ?

„ Wer ist mein Vater überhaupt ?" fragte sie sich selbst. „ Ich dachte mein Leben lang er wäre ein Lehrer gewesen, aber er war ein Bankräuber. Er hat unsere Namen geändert als Russ 7 Jahre alt und ich zu klein war um etwas zu bemerken." Die Tatsache, dass Russ ihr all das so lange verschwiegen hatte, war ein Schock für sie gewesen. Er, dem sie früher immer vertraut hatte, der als einziger noch von ihrer Familie übrig geblieben zu sein schien, hatte sie wieder einmal enttäuscht. Sie fühlte sich hintergangen. Genauso wie damals, als er kurz nach Weihnachten einfach weggefahren war und sie allein zurückgelassen hatte. Temperance hatte jahrelang jeden Kontaktversuch ihres Bruders abgeblockt. Zu tief saß der Schmerz, den er ihr damals zugefügt hatte. Sie hatte gelernt, jede Beziehung, die sie verletzen könnte, aus dem Weg zu gehen, aber im nachhinein tat es ihr leid, dass sie Russ nie eine 2. Chance gegeben hatte.

„Doch was jetzt? ...Ich kann nicht einfach aufhören nach Dad zu suchen. Nicht bevor ich weiß, was vor 15 Jahren passiert ist und warum er nie zu mir und Russ zurückkam. Booth würde mir bestimmt bei der Suche helfen, doch Russ...?Ihm scheint es weniger auszumachen, nicht zu wissen, warum unsere Eltern untergetaucht sind...er hat, wenn ich genau darüber nachdenke, gar nichts zu einer Weiterführung der Suche gesagt. Ob er doch noch etwas vor mir geheim hält? ..."

Ein Tapsen auf dem Boden unterbrach Temperance' Gedanken. Kurz darauf erschien Russ' Gesicht im Türrahmen.

„ Kannst du nicht schlafen?" fragte er noch etwas verschlafen. Dann fiel sein Blick auf den blinkenden Anrufbeantworter. „Du hast es dir schon wieder angehört." Sagte er fast schon vorwurfsvoll.

Temperance stellte die Teetasse, die sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte auf den Küchentresen. „ Ja, habe ich."

Russ zog einen Stuhl heran uns setzte sich ihr gegenüber hin. „Tempe, du musst damit aufhören...bitte..." er griff nach ihrer Hand „ er hat uns bestimmt nicht ohne Grund gebeten mit den Nachforschungen aufzuhören. Ich will nicht dass dir was passiert. Man hat Mom ermordet, Dad hat sich nie wieder bei uns gemeldet. Es muss einen Grund dafür geben, Tempe. Es ist einfach zu gefährlich."

Sie schloss die Augen." Ich weiß,...ich hätte nur gerne Gewissheit...ich will wissen, was passiert ist. Wer unsere Eltern waren,..was.." „ NEIN!" Unterbrach Russ sie. „Nein, wir werden nicht weitermachen! Versprich es mir! Wir werden Dad's Anweisung folgen!"

Temperance erschrak über die Heftigkeit in seiner Stimme. Und plötzlich war sie wieder die kleine Schwester, die auf ihren großen Bruder hören muss. Sie nickte. „Ok" sie flüsterte schon fast. Russ schien sich wieder zu entspannen. „Gut." Er sah sie wieder mit einem sanfteren Blick an.

„Ich glaube ich gehe dann mal besser ins Bett." Sagte Temperance nach einer Weile und stand auf. „ Gute Nacht" antwortete Russ, dessen Stimme nun nichts mehr mit dem vorherigen Ausbruch zu tun zu haben schien.

Als Temperance die Tür zu ihrem Schlafzimmer schloss, lehnte sie einen Moment gegen die Tür. Zum 2. Mal in dieser Woche hatte ihr Bruder sie überrumpelt. Sie dermaßen erstaunt, dass sie gar nichts mehr verstand. Dieser strenge wütende Blick in seinen Augen hatte sie eingeschüchtert. Genauso wie früher als sie noch 15 Jahre alt war.

„ Es ist spät, wahrscheinlich sind wir alle einfach übermüdet." Sagte sie zu sich selbst, als sie ins Bett sank. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte 3.48 Uhr. Zwei Minuten später war Temperance Brennan bereits eingeschlafen.

Russ dagegen schlief nicht...um halb 5, als er sich sicher war, dass seine Schwester endlich schlief, zog er sein Handy aus der Tasche. Er wählte und schon nach einem Mal klingeln, wurde am anderen Ende abgehoben.

„Was gibt's?" tönte eine tiefe Männerstimme.

„Ich hab ein paar Probleme hier. Es kann sein, dass ich länger brauche als erwartet." Sagte Russ.

„Probleme? Du wirst erst dann richtige Probleme haben, wenn du mir die Lieferung nicht pünktlich bringst. Verstanden! Es ist mir egal, was bei dir gerade los ist. Sei pünktlich. Was sonst passiert, willst du lieber gar nicht wissen, klar!" Brüllte der Mann am anderen Ende.

Russ wollte sich nicht von ihm einschüchtern lassen, aber seine Knie wurden weich. „ In Ordnung." Antwortete er mit zitternder Stimme.

Am anderen Ende war es einen Moment ruhig. Dann sprach der Mann wieder mit etwas ruhigerer Stimme „Gut". Dann legte er auf.

Russ stand mit zitternden Beinen in dem Wohnzimmer seiner Schwester. Er konnte immer noch nicht glauben, wie er da reingezogen werden konnte...