1. Sonnenuntergang

Der Tag neigt sich langsam dem Ende zu. Es fängt schon leicht an zu dämmern, als ich erschöpft meine Feder senke. Ich muß meine Arme ausstrecken, um die Müdigkeit aus meinen alten Gliedern zu vertreiben.

Etwas zupft mich an meinem Umhang, erstaunt sehe ich hinab: „Oh Dobby, ich habe gar nicht gehört, dass Du reingekommen bist.". „Harry Potter, Sir, Sie haben seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, das ist nicht gut. Soll ich Winky Bescheid geben?"piepst der Hauself besorgt, wobei er mich mit großen treuen Augen erwartungsvoll ansieht. Ich muß ihn unwillkürlich anlächeln. Als ich damals Hogwarts verließ, wollte Dobby unbedingt in meine Dienste treten und natürlich konnte ich Winky damals nicht dort zurücklassen. Beide wurden selbstverständlich für Ihre Dienste bezahlt, Hermione hätte mir sonst auch bestimmt den Kopf abgerissen. „Nein danke Dobby, und sage bitte auch Winky Bescheid, dass ich heute nichts mehr brauche."„Gut, aber ich werde auf alle Fälle noch Licht machen, die kleine Stehlampe in der Ecke?" erwidert der Hauself eifrig. Auf mein bejahendes Nicken hin zündet er die Lampe an, welche den Raum sofort mit seinem sanften Licht erhellt, bevor er mit tapsigen Schritten das Zimmer verlässt.

Die Einsamkeit legt sich wie ein Teppich über mich und ich kann mich nicht dagegen wehren, die Melancholie nimmt mich unweigerlich gefangen. Ich kann ein Seufzen nicht unterdrücken, als mein Blick aus dem Fenster fällt. Erst jetzt merke ich, dass sich die Sonne blutrot auf ihre Reise macht, um den Himmel zu verlassen. Suchend huscht mein Blick über den dämmernden Himmel, erst als ich endlich den schwach erleuchtenden Mond gefunden habe, überkommt mich wieder eine große Ruhe.

Mein Gesicht spiegelt sich durch den schwachen Schein der Lampe in der Fensterscheibe. Ich erkenne mich, einen alten Mann, dessen Haare schon ergraut sind. Man sieht mir an, dass ich schon manche Schlacht geschlagen habe. Nur meine Augen funkeln mich an, an ihnen scheint das Alter einfach so vorübergegangen zu sein.

„Oh süßer Vogel Jugend"dieser Satz kommt laut über meine Lippen, als ich mich in meinen Lieblingssessel setze und zurücklehne. Von meiner neuen Sitzposition ist die Sonne gut zu sehen, welche sich auf ihren Abschied vorbereitet und meine Gedanken führen mich unweigerlich zurück zu meinen jungen Tagen. Zurück zu dem Sommer, welcher der traurigste in meinem Leben war und der doch noch so viele Wunder für mich bergen sollte.

* * * *

Schaukelnd und ratternd machte sich der Zug auf die Reise. Er brachte ihn zu seinem sechsten Schuljahr in Hogwarts. Diesmal spürte Harry jedoch nicht die freudige Erregung, welche ihn sonst immer überkommen hatte, wenn er wieder auf der Fahrt zu seiner Schule war.

Die tiefe Traurigkeit und Verzweiflung, die seit dem Tod seines Paten von ihm Besitz ergriffen hatten, waren noch lange nicht von seinem Herz gewichen. Nein, geweint hatte er während den ganzen Ferien kein einziges Mal. Er hatte keine Tränen mehr, welch ihm vielleicht Linderung verschaffen würden.

Seine Verwandten waren ihm gegenüber dieses mal nicht so ablehnend, wie sonst gewesen. Vielleicht hatten sie gespürt, dass er sich verändert hatte. Aber eher hing es wohl damit zusammen, dass sie dank Harry nun wirklich einen der schönsten Gärten in Little Whinging besaßen. Wie ein Besessener hatte er die ganzen Ferien über den Garten bearbeitet. Er hatte ihn umgegraben und alle möglichen Dinge von einem Ende zum anderen Ende des Gartens geschleift. Er hatte bis zur Erschöpfung gearbeitet, gespürt wie die sengende Sonne auf seiner gebräunten Haut brannte und wie ihm der Schweiß an seinem Körper entlangronn.

Abends hatte er gehofft ein paar Stunden Ruhe zu finden, seine Schuldgefühle zu vergessen, aber meist konnte er ihnen nicht entgehen. Sirius war tot und er konnte es betrachten wie er wollte, in seinem Kopf hallten immer wieder die gleichen Worte nach: „Du bist schuld, Du bist schuld."Er konnte die Stimme seines Gewissens einfach nicht zum Schweigen bringen.

Auch als er die Eule von den Weasleys erhalten hatte, konnte deren Nachricht keinerlei Gefühle in ihm hervorrufen. Sie hatten ihr Bedauern zum Ausdruck gebracht, dass Harry sie nicht besuchen könne. Aber Dumbledore hatte angewiesen, dass Harry besser bei den Dursleys bleiben solle, dort sei es einfach sicherer für ihn gewesen.

Sein Kopf lehnte an der kühlenden Scheibe des Zuges, während er aus dem Fenster die Bäume betrachtete, die schemenhaft an ihm vorbeihuschten. „Harry?", hörte er die vorsichtige Stimme von Hermione, welche ihn besorgt beobachtete. „Hörst Du uns überhaupt zu?"„Sorry, ich war grad woanders", ja wo eigentlich, das wusste er selbst nicht einmal so genau. Tiefe Gleichgültigkeit stand in seinen Augen. ‚Würde heute die Welt untergehen, wäre mir das auch egal‚, dachte Harry so vor sich hin.

Auch das muntere Treiben der Schule ging diesmal an ihm vorbei. Selbst die bevorstehende Begegnung mit seinem Lieblingsfeind und seiner Leibgarde ließen Harry diesmal kalt und er strafte sie mit gleichgültiger Ignoranz.

Es war das Frühstück des zweiten Schultages, als die Posteulen wie immer in die große Halle schwebten. Hermione erwartete natürlich ihren Tagespropheten, welchen sie begierig aufschlug. Ron war gerade in einer hitzigen Diskussion mit Dean über Fußball verstrickt. Diesem Sport kann er einfach immer noch nichts abgewinnen, 22 Männer kämpfen um einen Ball, das war einfach zu lächerlich für Ron.

Harry sah verblüfft auf als eine Eule sich auf seinen Teller setzte. Noch nie hatte er solch eine Eule gesehen, diese war eindeutig keine Schuleule. Ihre Federn trugen die schönsten Brauntöne die Harry jemals gesehen hatte und ihr Gefieder schimmerte an ihren Spitzen in einem tiefen Schwarz.

Verwirrt schaute Harry auf, wer sollte ihm einen Brief schreiben? Als er seinen Blick durch die große Halle schweifen ließ, obwohl er genau wusste, dass er hier keine Antwort finden konnte, traf sein Blick auf stahlgraue Augen. Diesen Blick konnte er nicht ignorieren. Malfoy sah ihn mit aufgerissen, schreckensgeweiteten Augen an, sein Mund stand halb offen und er schien jegliche Beherrschung über sein Gesicht verloren zu haben.

Noch nie hatte Harry solch einen menschlichen, eigentlich panischen Gesichtsaudruck bei ihm gesehen. Erst als die Eule ungeduldig auf seine Hand pickte, fiel ihm auf, dass er die Eule noch nicht von seinem Brief befreit hatte. Sofort, nachdem er mit bebenden Fingern den Brief von ihrem Bein löste, erhob sich dieser seltsame Vogel und flog geräuschlos davon.

Ungeduldig nestelte er an dem Brief um ihn zu öffnen, während Hermione Ron mit irgend einer lustigen Nachricht aus dem Tagespropheten unterhielt.

Mein lieber Harry,

ich bin mir sicher dass Dir der Tod von Sirius sehr zu schaffen macht.
Wenn Du nähere Informationen über den Bogen bekommen möchtest und wissen willst, ob es für Deinen Paten vielleicht doch eine Rettung gibt,
dann
komm heute Abend 21 Uhr nach Hogsmeade. Ich werde vor der
Heulenden Hütte auf Dich warten.
Sei pünktlich, ich warte nicht.
Zu niemandem ein Wort

Keuchend sah Harry auf, der Brief trug keine Unterschrift. Von wem war diese wunderschöne Eule, wer hatte ihm diesen Brief geschrieben? Freund oder Feind? Dann fiel sein atemloser Blick auf Malfoy. Dessen Gesichtszüge wirkten wieder beherrscht, jedoch schien jegliches Blut aus seinem eh schon blassen Gesicht gewichen zu sein.

Er spürte wie ihn der Slytherin mit Röntgenaugen beobachtete, jede seiner Regungen mitverfolgte. Als Harry ihm direkt in die Augen sah, senkte er seine nicht, sondern sah Harry unverwandt in die Augen, bis dieser seine schnell wieder auf den Brief lenkte.

Es erschien ihm fast wie ein Wunder, dass Ron und Hermione immer noch so in den Tagespropheten vertieft waren und er versteckte hastig seinen Brief unter seinem Umhang. Seine Gedanken rasten, sein ganzer Körper vibrierte in neuer Erwartung. Er konnte Sirius vielleicht helfen, er konnte ihn unter Umständen retten.

Aber von wem war dieser Brief? Freund oder Feind? Was, wenn es eine Falle wäre, und dazu noch eine ganz simple? Schicken wir Harry Potter einen Brief, mal sehen ob der Junge darauf anspringt!

Vielleicht wusste der Unbekannte wirklich eine Lösung, etwas woran niemand gedachte hatte. Auch Dumbledore war nicht unfehlbar und konnte nicht alles wissen. Es bestand die Möglichkeit für ihn an wichtige Informationen zu kommen. Dieser kleine Funke Hoffnung gab ihm neue Lebenskraft und beherzt fasst er seinen Plan.