01 Traum oder Nichts?
Sonnenlicht schien auf meine Wangen und weckte mich. Ich schlug die Augen auf und sah mich um. Die andere Hälfte des Bettes war bereits leer. Mein Mann war schon aufgestanden. Wahrscheinlich war er mit unserem ältesten Sohn auf der Jagd. Ich streckte mich noch ein wenig schläfrig auf der feinen Seidenbettwäsche aus und gähnte. Nachdem ich die wieder aufkeimende Müdigkeit bekämpft hatte, schwang ich die Beine über die Bettkante und stand auf. Ich zog die schweren Samtvorhänge auf und ließ das gleißende Sonnenlicht den Raum durchfluten.
Mein Kleiderschrank zog mich magisch an. Als ich ihn öffnete, fielen mir sofort meine wunderschönen Kleider ins Auge. Ich nahm mir ein hellblaues Seidenkleid heraus und zog es an. Dazu passende Schuhe und meine Aufmachung war perfekt. Ich setzte mich an meinen Spiegel und bürstete mein langes, goldblondes Haar. Als ich zufrieden mit mir war, verließ ich das Zimmer. Ein Diener kam mir entgegen, der vermutlich nur darauf gewartet hatte, in mein Schlafzimmer zu gehen und das Bett zu machen.
„Guten Morgen, Arlessa", begrüßte er mich und verbeugte sich vor mir. Ich nickte würdevoll zurück und schritt zur Küche. Schon von Weitem konnte ich den lauten Gesang der Köchin hören, die vergnügt durch die Küche tanzte und gleichzeitig das Essen zubereitete.
„Mutter, Mutter! Du bist wach!" Ein kleines Mädchen mit entzückenden blonden Locken und großen Augen kam auf mich zugelaufen. Ich nahm sie in meine Arme und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
„Felicienne, wo sind deine Brüder und dein Vater?", fragte ich sie.
„Vater ist mit Timotheus reiten und Dashiel ist in der Bibliothek", sagte meine Tochter strahlend.
„Leistest du mir beim Frühstück Gesellschaft?"
Felicienne nickte begeistert. Wie jeden Morgen aß ich nur einen Apfel und etwas Brot mit Käse. Zusammen mit meiner kleinen Tochter ging ich dann in die Bibliothek. Ich entdeckte meinen hübschen Sohn an einem der Tische sitzen, umgeben von einem Haufen Bücher, natürlich lesend.
„Dashiel, mein Schatz. Du kriegst noch einen steifen Nacken vom vielen Lesen", zog ich ihn auf. Ich setzte mich neben ihn. Die Bibliothek war reichlich gefüllt, aber wahrscheinlich hatte mein Zweitgeborener mit seinen neun Jahren schon die Hälfte der Bücher gelesen.
„Ach Mutter", erwiderte er und sah mich für ein Kind sehr ernst an. „Vom Lesen bekommt man doch keinen steifen Nacken. Zumindest nicht, solange man richtig sitzt. Und die richtige Sitzhaltung zum Lesen habe ich schon seit Langem entwickelt. Außerdem ist es allemal besser, als sein Leben mit so sinnlosen Beschäftigungen wie jagen, reiten oder Schwertkämpfen zu vergeuden. Davon kann man sich viel eher eine Verspannung holen. Oder Schlimmeres."
Ich musste kichern. Felicienne kicherte ebenfalls. Sie stubste ihren Bruder an.
„Komm, Dash, Mutter und ich wollen in den Garten gehen", flehte sie.
„Nein, lasst mich in Ruhe. Dieser Abschnitt hier ist sehr wichtig. Er beschreibt die Kultur in Tevinter."
„Dashy, bitte!", drängte Felicienne ihn und zog dabei an seinem Arm.
„Du kannst dein Buch auch mitnehmen. Ein bisschen frische Luft und Sonnenlicht wird dir nicht schaden", versuchte ich ihn zu überzeugen.
„Na gut", willigte er ein. Dashiel schlug sein Buch zu und nahm gleich noch eins mit und folgte mir und seiner entzückenden Schwester nach draußen in die Gärten.
Wir setzten uns in den Schatten einer ausladenden Weide und Dashiel schlug wie erwartet sofort seine Bücher auf. Felicienne ging Blumen pflücken und ich genoss die Sonne, ließ die Seele baumeln und nickte ein.
„Mutter, sieh mal, ich habe dir einen Strauß Blumen gepflückt", hörte ich Feliciennes süße Stimme sagen. Ich richtete mich auf und nahm den Strauß entgegen.
„Vielen Dank, mein Herz. Weißt du was? Du würdest sicher zauberhaft aussehen, mit Blumen im Haar." Sie strahlte mich an.
„Wirklich?" Ich nickte.
„Komm, setz dich vor mich." Sie tat wie ihr geheißen und ich begann die violetten Blüten in ihre blonden Locken einzuflechten. Der Vormittag verging wie im Fluge. Zum Mittagessen begaben wir uns in die große Halle des Anwesens des Arls. An der langen Tafel saßen meine Mutter, mein Bruder der zu Besuch gekommen war und die Schwester meines Mannes.
„Sei gegrüßt, Schwester", empfing mich mein Bruder.
„Schön, dass du hier bist, Eldred", erwiderte ich und umarmte ihn.
„Deine Tochter wird dir von Tag zu Tag ähnlicher, Elinor." Er lächelte Felicienne breit an.
„Hallo, Onkel", sagte sie schüchtern.
„Nun, setzt euch endlich zu uns und lasst uns essen", sagte meine Mutter und winkte uns zu ihr. Wir folgten ihrer Anweisung und kurz darauf brachten Elfendiener das Essen hinein. Mich ärgerte ein wenig, dass der Arl die Elfen noch nicht hatte gehen lassen, obwohl ich ihn darum gebeten hatte. Ich war gegen die Versklavung der Elfen.
Nach dem Essen bat Dashiel mich, mit ihm in die hauseigene Kapelle zu gehen.
„Wieso willst du dahin?", fragte ich ihn neugierig.
„Ich habe in diesem Buch gelesen, dass Andraste neben dem Erbauer auch einen sterblichen Ehemann hatte. Jetzt frage ich mich… Naja, das wirst du schon sehen", antwortete er trotzig. Zu dritt gingen wir in die Kapelle. Die Ehrwürdige Mutter Manon sprach gerade mit einer Wache, doch wir schienen sie nicht zu stören.
„Mutter Manon", rief Dashiel.
„Was ist denn, Dashiel?"
Seine Augen weiteten sich in Wissensgier, als er sie fragte: „Ist es wahr, dass Andraste noch einen sterblichen Ehemann neben dem Erbauer hatte?" Ich warf der Ehrwürdigen Mutter einen Blick zu, der heißen soll: Bitte die Version für Kinder!
„Ja, es stimmt."
„Aber ist es denn nicht Sünde, zwei Männer gleichzeitig zu lieben?", fragte er weiter. Die Ehrwürdige Mutter seufzte und ich grinste sie schadenfroh an.
„Manchmal kann man sich nicht aussuchen, in wen man sich verliebt. Und es kommt in sehr seltenen Fällen vor, dass man sich in zwei verschiedene Personen gleichzeitig verliebt. Doch dann sollte man so fair sein und sich für einen von beiden entscheiden, um den anderen nicht unnötig leiden zu lassen."
„Hat Andraste das auch getan? Hat sie sich entschieden?" Dashiels Neugier war grenzenlos.
„Nein, das hat sie nicht getan", sagte Manon seufzend.
„Sie war Maferaths Frau, aber sie war gleichzeitig die spirituelle Gefährtin des Erbauers. Aus Eifersucht, immer nur der zweite Mann neben dem Erbauer zu sein, betrog er sie und verkaufte sie an die Magister, um das Land zu bekommen, dass Andraste nach der ersten Verderbnis von dem geschwächten Tevinter-Imperium erobert hatte. In Minrathous hat man sie schließlich verbrannt." Dashiel schien für einen kurzen Moment sprachlos zu sein. Doch zu früh gefreut.
„Was sind Magister?"
Manon lächelte. „Das sind Magier, die über Tevinter herrschen."
„Mutter Manon?", fragte Felicienne.
„Ja, mein Schatz?"
„Sind diese Magier aus Tevinter nicht die ersten gewesen, die zur Dunklen Brut geworden sind?" Manon nickte.
„Genau. Und weißt du auch warum?"
Felicienne antwortete: „Ja, weil sie in die Goldene Stadt eingedrungen sind und durch ihren Stolz und ihre Anmaßung verderbt wurden."
Ich sah meine Tochter überrascht an.
„Woher weißt du das, meine Süße?", fragte ich sie.
„Dash hat mir aus seinen Büchern vorgelesen." Ich sah meinen Sohn vorwurfsvoll an.
„Dashiel, sie ist doch noch viel zu klein für so was."
Er zuckte mit den Schultern.
„Ich bin gar nicht zu klein", protestierte Felicienne.
„Ach wirklich?", sagte ich lachend. „Naja, dann werde ich dir eine besonders aufregende Geschichte erzählen." Felicienne strahlte mich freudig an. Ich lief in die Bibliothek. Meine Kinder folgten mir. Es dauerte nicht lange, bis ich mein Lieblingsbuch gefunden hatte. Zusammen setzten wir uns wieder in den Garten und ich las meiner fünfjährigen Tochter und ihrem vier Jahre älteren Bruder eine Geschichte über Dalish-Elfen vor.
Die Sonne näherte sich langsam dem Horizont. Irgendwann war der Garten in gleißendes Orange getaucht.
„Mutter!" Ich sah auf. Ein gutaussehender Junge mit rötlichem Haar, vielleicht 13 Jahre alt, rannte auf mich zu und fiel mir in die Arme.
„Mutter! Wir sind wieder da!" Überglücklich strich ich über Timotheus' Rücken. Er musste seinem Vater ähnlich sehen.
Dann hörte ich seine Stimme: „Elinor!"
