Hätte sie sich nicht in diesem Trancezustand befunden, hätte sie vermutlich gefroren.
Was genau sie sich gedacht hatte, als sie mit ihrem Auto mitten in der Nacht zum Waldrand gefahren war, um dann alleine und nur mit einem kurzen Rock, einem leichten Top und einer nicht gerade wärmespendenden Strickjacke bekleidet durch den Wald zu stolpern – daran konnte sich Lydia im Nachhinein nicht mehr erinnern.
Doch sie wusste, dass sie einen logischen Grund gehabt hatte. Den hatte sie immer, auch wenn dieser sich retrospektiv jedes Mal als unverständlich herausstellte.
Sie fühlte sich, als würde sie aus einer Hypnose erwachen – Als hätte der Hypnotiseur mit dem Finger geschnippt und sie vergessen lassen, wie sie noch 30 Sekunden davor in einer Fantasiesprache gesprochen hatte.
Nur dass es sich anstatt des Fingerschnippens um etwas weitaus weniger erfreuliches handelte.
Der leblose Körper vor ihren Füßen war der eines Jungen etwa in ihrem Alter.
Auf dem Rücken, den Kopf zur Seite gerollt, die Kleidung ein wenig schmutzig, lag er auf dem dreckigen Waldboden und für einen Sekundenbruchteil hoffte Lydia sogar, er war nur bewusstlos.
Nachdem die Banshee den ersten Schreck überwunden hatte, stellte sie etwas beruhigt fest, dass, erstens, zumindest kein Blut und keine grausame Wunde erkennbar waren und dass sie, zweitens, den Jungen vor ihr nicht kannte. Oder gekannt hatte.
Die blau-weiße Trainingsjacke, auf deren rechten Seite ein Logo mit den Buchstaben „PHS" abgedruckt war, verriet ihr, dass er der Privatschule von Beacon Hills, Penrose, angehörte, seine Statur, dass er Sportler war.
Sie atmete tief durch und verfluchte im Stillen ihre Fähigkeit, die sie immer wieder in solche Situationen brachte, anstatt sie in Kämpfen mit dem Bösen mit Krallen und Reißzähnen auszustatten wie ihre Freunde, dann kramte sie ihr Handy aus ihrer Jackentasche.
Immerhin hatte sie in ihrem Zustand daran gedacht.
Jordan Parrish, der auf dem Beifahrersitz des Polizeiwagens neben Sheriff Stilinski saß, konnte die roten Haare des Mädchens schon von Weitem sehen.
Fröstelnd stand sie am Straßenrand, neben dem der Wald anfing, trat von einem Bein aufs andere und rieb sich die Hände.
Sofort griff der junge Polizist nach der Decke auf dem Rücksitz, die dort in jedem Streifenwagen vorsichtshalber lag, und öffnete die Beifahrertür schon in der Sekunde, in der der Sheriff das Auto neben Lydia zum stehen brachte.
„Hey, alles in Ordnung?", fragte er besorgt und schlug die Tür hinter sich zu.
Vorsichtig legte er dem Mädchen die ausgebreitete Decke um die bebenden Schultern und wickelte sie fest ein.
Überrascht über so große Sorge blickte Lydia, die nun wie eine Mumie vor ihm stand, den Deputy an, der sofort von ihr abließ.
Sie lockerte die Decke ein wenig und lächelte ihn dankbar an.
„Lydia." Nun stand auch der Sheriff neben den beiden und bedachte das Mädchen ebenfalls mit einem sorgenvollen Blick, sodass sich tiefe Falten auf seiner Stirn bildeten.
Diese lächelte schwach und ohne etwas zu sagen nickte sie in Richtung des Waldes.
Parrish und Stilinski warfen sich einen vielsagenden Blick zu, dann folgten sie dem Mädchen, das mit der roten, wallenden Decke aussah, wie eine Legionärin die die Polizisten in den Krieg führte.
Schweigend gingen sie im Gänsemarsch etwa zehn Minuten lang durch die Dunkelheit, bis Lydia schließlich stehen blieb und sich umdrehte.
„Hier ist es.", sagte sie bedauernd und trat zur Seite.
Vorsichtig kniete sich der Sheriff vor die Leiche und betrachtete sie mitleidig, während Parrish neben ihm stehen blieb.
Immer wieder blickte er zwischen dem leblosen Körper und dem Rotschopf hin und her.
Es waren zwar einige Wochen vergangen, seit er von ihrer „Gabe" erfahren hatte, doch es faszinierte ihn noch immer. Es machte ihm Angst, doch es faszinierte ihn.
„Wahrscheinlich etwa 18 Jahre alt.", stellte Stilinski fest. „Kanntest du ihn?"
Lydia schüttelte den Kopf und der Sheriff fuhr mit seiner Begutachtung fort.
Parrish zwang sich, ihm dabei zuzusehen.
Alle sagten ihm, er würde sich an die Leichen gewöhnen, würde sie irgendwann neutral betrachten können, ohne Trauer, ohne Mitleid für ihre Angehörigen, nur mit Gleichgültigkeit.
Natürlich, er war in der Army gewesen. Trotzdem war dieser Zeitpunkt, an dem ihm die Menschen egal waren, an dem sich seine Gefühle nicht mehr mit seiner Arbeit vermischten, an dem Leichen für ihn zum Alltag gehörten, ohne noch tagelang an ihren Anblick und ihr Leid zurückblicken zu müssen, noch lange nicht gekommen.
„Ich kann nichts feststellen. Kein Blut, keine Wunden, keine sichtbaren Verletzungen.", erklärte der Sheriff dann seufzend. Die anderen beiden nickten betroffen.
„Rufen wir den Leichenwagen."
