Es war eine angenehm warme Nacht als du durch die schwach beleuchteten Straßen von London gingst. Die Pflastersteine reflektierten das schwache Licht der Laternen jedoch, weil es vor kurzem noch geregnet hatte. Aber die Wolken waren weiter gezogen, und nun konnte man den angenehmen Geruch nach einem Regenfall genießen.
Ein Lied leise summend gingst du also gut gelaunt nach Hause. Du warst bis jetzt bei Miss Nightingale, hast ihr geholfen ein paar kranke Kinder zu pflegen. Und da es schon spät war, haben dich die Kleinen auch noch geboten, dass du ihnen eine Gute-Nacht-Geschichte erzählst, bevor du gehst. Natürlich hast du das auch getan, weil du besonders gut darin warst, dir spannende Erzählungen auszudenken.
Seit neuestem handelten deine Geschichten meistens von einem mysteriösen Mann, von dem dir zuerst die Kinder erzählten. Er würde in London für Gerechtigkeit sorgen, wenn auch nicht immer auf die eleganteste Art und Weise. Zuerst dachtest du, sie würden sich das nur ausdenken, aber dann hörtest du immer öfter Gemunkel von solch einem Mann. Es erzählt sich, dass er der Anführer der Rooks sein soll. Also nichts anderes als ein Verbrecher, dachtest du zuerst. Aber die Gerüchte gingen viel weiter: Er und seine Gang befreiten Kinder von den Fängen der Blighters in den Fabriken, wo sie arbeiten mussten. Auch Miss Nightingale hatte anscheinend schon das Vergnügen, diesen Mann kennen zu lernen. Wenn du sie nach ihm fragtest, lächelte sie jedoch nur und verblieb stumm.
So wurdest auch du neugierig, und rätseltest, welch ein Mann er wohl wäre, wie er aussah, wie er redete, woher er kam, warum er tat was er tat… Aber selbst hattest du ihn noch nie gesehen. Du dachtest noch darüber nach, als du in eine dunklere Gasse abbogst, aber du wurdest schnell aus deinen Gedanken gerissen, als du Zeugin davon wurdest, wie sich zwei Blighters an einen anscheinend bereits verwundeten Mann machten. Dieser lag nämlich, halb an die Mauer eines Hauses gelehnt, da, während die beiden in rotem Gewand ihn traten.
Deine erste Reaktion war es, dich umzudrehen, und von dieser Szene wegzulaufen, doch du bliebst nach einigen wenigen Schritten stehen, und kauertest dich hinter ein paar Kisten hin, so dass sie dich nicht sahen. Würdest du es mit deinem Gewissen vereinbaren können, wenn du nichts unternehmen würdest, wenn vor deinen Augen jemand getötet werden würde? Dann auch noch diese verdammten Blighters, die in der ganzen Stadt die Leute wie Dreck behandelten. Polizei war hier aber, vor allem um diese Zeit, auch kaum noch unterwegs. Und bis du einen Polizisten gefunden hättest, wäre es vermutlich schon zu spät für den Mann.
Du schlosst deine Augen für einen Moment, schlucktest einmal schwer, atmetest ein paar Mal tief ein und aus, und sammeltest so deinen ganzen Mut zusammen. Auf die Wand gelehnt, nicht weit vor dir, lehnten ein paar Holzbretter. Schnell, aber immer noch geduckt gingst du darauf zu, nahmst dir eines, und schlichst nun wieder auf die Blighters zu. Sie hatten dich noch nicht bemerkt, weil sie zu beschäftigt damit waren, dem armen Kerl verschiedene Flüche zuzurufen, zu lachen und ihn zu bespucken.
Dein Herz pochte so laut, dass es in deinen Ohren widerhallte. Du warst immer noch geduckt, aber warst jetzt genau hinter einem der beiden. Du murmeltest dir selbst noch einmal Mut zu, mit einem Ruck standst du auch schon aufrecht, holtest mit dem Brett aus, und warfst es dem Typen mit voller Kraft gegen den Hinterkopf, wobei auch sein Hut gleich auf den Boden fiel. Der Mann kam ebenfalls aus dem Gleichgewicht und kippte nach vor, konnte sich jedoch noch fangen, und drehte sich sofort nach dir um – genauso wie der andere. Mit großen Augen sahst du die beiden an, erst jetzt realisiertest du, was du getan hattest. „Es.. Es tut mir leid!" stottertest du herum, als du langsam rückwärts gingst.
„Schlampe, wer glaubst du, dass du bist?!" sagte der, der das Brett gegen den Kopf bekam, und du sahst, wie von seinem Nacken über den Hals Blut hinunterlief und sich in seine sowieso schon rote Jacke sog.
„Es war ein… Versehen!" sagtest du, und spürtest nun die kalte Mauer, direkt gegenüber von dem Verwundeten, auf deinem Rücken. So muss es ihm vermutlich auch ergangen sein, bevor sie ihn so hergerichtet hatten. Du blicktest nur kurz zu ihm, er sah auch dich, mit dem einem Aug, dass er noch halbwegs öffnen konnte an.
Du machtest dich darauf gefasst, nun einen sehr langen, schmerzhaften Tod vor dir zu haben. Deine Augen hatten sich schon automatisch geschlossen, wolltest das alles nicht sehen. Doch bevor dich noch die Hand erreichte, die dich am Hals packen wollte, fielen beide zu Boden. So hörte es sich nämlich an, woraufhin du blitzartig deine Augen wieder öffnetest und es sahst. Und über den beiden Blighters kniete ein weiterer Mann. Das erste was dir auffiel war die Kapuze über seinem Kopf, so dass du sein Gesicht nicht wirklich sehen konntest, doch das nächste was du bemerktest waren die beiden Klingen, die anscheinend an seinen Handgelenken befestigt waren. Und diese Klingen steckten tief in den Nacken der nun toten Männer. Er zog sie heraus, worauf hin die blutbeschmierten Klingen aus dir unerklärlicherweise sofort verschwanden. Du warst zu überrascht, zu ängstlich, um auch nur einen Ton von dir zu geben.
Er stand dann vor dir, und du sahst nun seinen Mund, welcher in ein halbes Grinsen verzogen war.
„Wie kann man aus Versehen jemandem ein Brett gegen den Schädel schlagen?" fragte er dann mit einer amüsierten Stimme. Dabei nahm er dann auch seine Kapuze ab, und sah dich dabei an.
Mit einem Schlag wurde dir bewusst, wer hier vor dir stand. Kapuze, diese Klingen, tötet Blighters – es war dieser mysteriöse Mann! Du versuchtest gerade abzuwägen, was du sagen solltest. Schließlich warst du dir nicht sicher, ob er dir nun nicht auch was antun wollte. Vielleicht weil du ihm bei einem Mord gesehen hattest? Während deine Augen zu Boden sanken, weil du seinem Blick nicht standhalten konntest, und nicht wolltest, bewegte sich aber nicht unweit von dir etwas.
„…Boss…" hörtest du den Verwundeten murmeln, den du eigentlich vor dem Tod bewahren wolltest. Boss… Boss.. Der Mann war also tatsächlich der Anführer der Rooks?
Da drehte sich aber auch dein vermeintlicher Retter um, zu dem Verwundeten, und ging auf ihn zu. Zögerlich folgtest du ihm, wolltest sicher gehen, dass er an seinen Wunden nicht gleich erlag. Sonst wäre das alles hier komplett unnötig gewesen. Aber es stellte sich heraus, dass er wohl mit dem Leben noch einmal davon kam.
„Die Kleine hat Mumm…." Sprach er, etwas unverständlich, als er sich mühsam etwas aufrechter hinsetzte. „Dachte es wäre aus mit mir, da kam sie mit dem Brett angeschlichen." Sagte er, nachdem er etwas Blut neben sich auf den Boden gespuckt hatte.
„Ich hab's gesehen", lachte der andere nun, und klopfte dem Rook aufbauend auf die Schulter, woraufhin dieser schmerzverzerrt aufseufzte.
„Jacob Frye, mit wem hab ich das Vergnügen?" sagte der Fremde nun zu dir gewandt, und streckte dir eine Hand entgegen. Du sahst ihn misstrauisch an. Er lies die Hand wieder fallen.
„Sie haben gesehen, wie ich versuchte diesen Mann hier-„
„Tom" korrigierte dich der arme Rook.
Du blicktest ihn kurz ungläubig an, bevor du Jacob wieder ansahst. „…wie ich versuchte, Tomhier zu retten, und Sie haben nicht früher eingegriffen?" fragtest du ihn ungläubig.
„Naja, es war ganz unterhaltsam anzuschauen, wie du dich angeschlichen hast", sagte er, und verzichtete sogleich aufs Siezen. „Und ich wollte wissen, ob du genug Kraft hast, den Kerl umzunieten. Schade eigentlich, ich war ein bisschen enttäuscht, dass er dann noch stand. Ich glaube du hättest den Schlag etwas anders ansetzen sollen. Von oben nach unten zum Beispiel-„ er mimte nach, wie er es getan hätte. Du fandst das Ganze äußerst unfassbar.
„Ich bin es auch nicht gewohnt, spätnachts in London herumzulaufen und Leute zu töten!" sagtest du schließlich und dabei zog er eine Braue überrascht hoch.
„Ach und tagsüber schon?" fragte nun der Rook, lallend und lachte danach angestrengt, was schnell in ein Husten überging.
„Ich hab wohl einen nicht ganz so guten Ruf, hmm?" lachte nun auch Jacob leise, und schüttelte dann aber den Kopf. „Wie dem auch sei, bin überrascht, dass 'ne junge Frau wie du die Courage dazu hattest. Hat zwar mit dem Beschützen noch nicht ganz geklappt, aber der Wille zählt, nicht wahr?"
Du wolltest am liebsten einfach nichts darauf sagen, dich umdrehen und gehen, und einfach so tun, als wäre das alles nicht passiert, aber da war ja auch noch Tom. Der verwundete Tom, der wohl schnellstmöglich Medizin und weiteres benötigte.
Jacob folgte deinem Blick, und sah ebenfalls zu Tom. Er hob ihn vorsichtig hoch, legte seinen Arm um seine Schultern und stützte ihn somit. Tom jedoch schien das noch nicht ganz zu reichen, denn er sackte komplett in sich zusammen. Du eiltest an seine andere Seite und versuchtest ihn ebenfalls etwas zu stützen, soviel es dir deine Größe und deine Kraft eben zuließen. Dabei bemerktest du jetzt auch den starken Geruch von Bier, den Tom ausströmte.
„Langsam frage ich mich, ob Tom den Kampf mit den Blighters nicht herausgefordert hat, und ich einen betrunkenen Idioten retten wollte, der es nicht anders verdient hätte, als von ihnen zu Tode getreten zu werden." Sagtest du, nicht völlig ernst gemeint, aber dennoch etwas verärgert darüber, dass du dich überhaupt eingemischt hattest.
Jacob sah dich jedoch verwundert an, obwohl du dich beschwertest, halfst du ihm und Tom. Deine Art war in der Sache wohl ähnlich wie Evies.
„Bringen wir ihn zu Miss Nightingale." schlug er schließlich vor, woraufhin du nichts mehr sagtest. Jetzt wusstest du auch, warum Miss Nightingale diesen Mann schon getroffen hatte, denn das war bestimmt nicht das erste Mal dass er mitten in der Nacht mit einem am Rande des Todes stehenden Mann zu ihr kommen war. Und das war bestimmt auch nicht das letzte Mal, dass er das tat. Das einzige, was Miss Nightingale wundern würde, war vermutlich, was du mit der ganzen Sache zu tun hattest.
Es würde mich freuen, wenn euch das erste Kapitel gefallen hat!
