AN: Ich besitze keine Rechte an der „Die Tribute von Panem"-Reihe. Würde sie mir gehören hätt' ich ein Haus...ein Äffchen und ein Pferd...


Geister der Vergangenheit

Der Schulausflug den wir jedes Jahr kurz vor den Ferien machen ist immer ein großer Erfolg. Alle sind aufgeregt weil der Sommer bald da ist und das Versprechen von Freiheit und Abenteuer in der Luft liegt. Ganz zu schweigen von der Aussicht einen ganzen Monat ohne Mr. Hamilton verbringen zu können, diesem Spießer von einem Geschichtslehrer!

Die jüngeren Schüler bleiben meistens im Kapitol und sehen sich irgendwelche wichtigen Regierungsgebäude an, Museen oder ähnliches langweiliges Zeug das zur Bildung beitragen soll. Der Vormittag wird damit zugebracht Aufmerksamkeit zu heucheln und sich verstohlen kleine Zettelchen zuzustecken während eine ältliche Frau begeistert auf völlig identische Gänge und Türen zeigt und darauf aufmerksam macht dass sich die Gruppe gerade „ im Zentrum der Macht" befindet, dem Ort an dem „alle wichtigen Entscheidungen" getroffen werden.

Der gute Teil kommt erst danach, wenn man in einen Park gehen darf um Fangen zu spielen oder die neueste Sorte Eis probiert.

Sobald die Lehrer davon überzeugt sind dass man es fertigbringt nicht einfach spurlos zu verschwinden, geht es ab nach Distrikt 4! Dort tut keiner mehr so als ob, selbst die Lehrer sitzen ungeniert den ganzen Tag lang in der Sonne und ziehen über ihre Kollegen her. Den Schwimmkurs müssen alle einmal mitmachen aber manche besuchen ihn freiwillig auch dreimal, meistens wenn die Schwimmlehrerin hübsch ist.

Meine Klasse konnte es darum kaum abwarten endlich auch wieder fahren zu dürfen, aber unser Klassenlehrer verkündete aus heiterem Himmel dass es diesmal nicht nach Distrikt 4 gehen würde sondern mitten in die Pampa. Zusammen mit Mr. Hamilton.

Ganz toll, damit nahm der Spaß offiziell seinen Hut und marschierte zur Tür hinaus.

Wir erfuhren dass für die höheren Jahrgänge ein Ausflug zu einer Gedenkstätte für die Hungerspiele üblich war, einer ehemaligen Arena, und deshalb in diesem Jahr auch Mr. Hamilton zu den Beigleitpersonen zählte.

Es war klar dass er dabei sein wollen würde, schließlich war er geradezu besessen davon uns die ganze Hungerspiel-Sache nä , es war schlimm und es waren grausame Zeiten aber die waren nun mal auch lange vorbei oder? Kein Grund siebzig Jahre später noch derart darauf herumzureiten. Die Parallelklasse hatte zum Beispiel, mal abgesehen vom allgemeinen Kram, nur die Geburts- und Sterbedaten der Präsidenten vor der Zweiten Revolution lernen müssen, außerdem nur die Namen der Sieger. Wir hingegen mussten auch noch die Eckdaten der politischen Laufbahnen UND die Namen aller Tribute plus Distrikt wissen! Denkt der Mann wir hätten keine anderen Sorgen?

Jedenfalls stehen wir jetzt zusammen mit ein paar anderen Klassen auf dem Platz vor dem Eingang zur Gedenkstätte und eine Lehrerin die ich nicht kenne tritt vor und beginnt in ernstem Tonfall zu sprechen.

„Ich weiß viele von euch hatten erwartet dieses Jahr wieder ans Meer zu fahren aber wir denken

dass ihr nun, anders als die jüngeren Kinder, reif genug seid um mit den Bildern die ihr gleich sehen

werdet umzugehen. Es wird eine Führung geben und ihr dürft Fragen stellen. Im Anschluss werden wir

uns einen Zusammenschnitt der 74. Hungerspiele ansehen, danach könnt ihr wieder Fragen stellen.

Sollte jemand während der Vorführung den Raum verlassen wollen darf er das natürlich, aber wartet bitte vor

der Tür bis die anderen herauskommen und wandert nicht im Gebäude herum."

Wie um ihren Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen wirft sie uns allen einen strengen Blick zu und macht ein mürrisches Gesicht. Doch das ist gar nicht nötig. Spätestens seit der Ankündigung das wir uns ein Video der Hungerspiele ansehen werden ist es mucksmäuschenstill und eine unruhige Anspannung legt sich über die Gruppe. Einige Mädchen blicken überrascht zu ihren Freundinnen, manchen Schülern ist anzusehen dass sie nicht ganz wissen wie sie die Sache aufnehmen sollen und wieder andere wirken geradezu begeistert.

Von hinten flüstert Maggie mir etwas zu.

„Was sagst du, wir sollen uns die Hungerspiele ansehen?"

Ich drehe meinen Kopf in ihre Richtung. Sie ist wirklich nervös darum tue ich ganz unbeeindruckt obwohl ich selbst nicht so genau weiß was ich davon halten soll.

„Na ja, also wenn die das jedes Jahr machen kann' s denke ich nicht so schlimm sein. Ist nur ein

Zusammenschnitt Mag."

Aus dem Augenwinkel sehe ich wie sie die Stirn leicht runzelt, sie kauft mir die Sache nicht ganz ab.

„Ich weiß nicht Cass...wahrscheinlich hast du ja Recht. Es ist nur..."

„Schon klar. Wir können zusammen gehen wenn du magst."

„Danke", sagt sie und schenkt mir ein kleines Lächeln.

Maggie muss nicht aussprechen was wahrscheinlich der Großteil unserer Freunde gerade denkt. Es ist eine Sache zu wissen was bei den Spielen damals passiert ist aber nochmal eine ganz andere es mitanzusehen.

Offensichtlich hat es rundum noch mehr Gemurmel gegeben denn die grimmige Frau ergreift wieder das Wort.

„Eines noch zum Schluss: Ich will nicht mitbekommen dass sich irgendjemand von euch in einer

Weise benimmt für die ich mich schämen müsste und es an gebührendem Respekt mangeln lässt.

Ich hoffe ich habe mich klar genug ausgedrückt."

Sie dreht sich ich um und tritt zusammen mit den anderen Erwachsenen durch das Eingangstor. In der Halle erwartet uns schon ein junger Mann mit leuchtend rotem Haar und Namensschild.

„Hallo Kinder! Wenn ich mich kurz vorstellen darf, mein Name ist Rufus O'reilly und ich werde euch heute durch das Gebäude führen.

Ich komme eigentlich aus Distrikt 4 aber studiere derzeit Geschichte im Kapitol.

Es gibt verschiedene Stationen die ich euch zeigen will darum legen wir auch gleich los.

Nachdem ich zu jedem Raum ein paar Worte gesagt habe dürft ihr euch selbst ein

bisschen umsehen und mich gern alles fragen was euch so einfällt. Wir beginnen im Dachgeschoss

mit dem Ursprung der Spiele und werden ihre Entwicklung über die Jahre hinweg verfolgen bis hin

zur Zweiten Revolution. Ein kleiner Teil wird sich dabei immer auch mit den politischen und

sozialen Umständen der jeweiligen Zeit beschäftigen. Außerdem haben wir einige erhaltene

Dokumente aus den Distrikten und dem Kapitol die während der Ära der Spiele verfasst wurden

wie zum Beispiel Briefe oder Tagebücher. Gut, alle bereit? Also dann auf geht' s!"

Der Beginn der Führung ist genau so öde wie ich mir den Ausflug vorgestellt hatte, nichts Neues dabei, alles schon mal gehört. Es geht um das Tessera-System und die Ernte-Richtlinien, die Fakten werden sehr nüchtern und sachlich erklärt und fasst vergesse ich wieso ich kurz vorher noch aufgeregt war.

Später sind da Fotos von den verwendeten Waffen, Konstruktionspläne verschiedener Arenen, Videos der Tribute ohne Ton entweder vom Einzug oder sonst wo und ein paar Hologramme. Alles ist insofern harmlos, als das Gezeigte keinerlei Gewalt darstellt aber trotzdem bekomme ich ein mulmiges Gefühl.

Mir fällt ein Bildschirm ins Auge auf dem ein Tribut beim Interview zu sehen ist, der Junge kann nicht älter als zwölf Jahre sein. Der Kleine hat dieselbe Angewohnheit wie meine jüngere Schwester wenn sie nervös wird, er zupft an seinem Hemdärmel und kaut auf der Lippe. Ich kann den Namen unter dem Bildschirm nicht entziffern denn ich stehe zu weit weg, nur die größere Überschrift „59. Hungerspiele, Distrikt 11" ist für mich lesbar. Verdammt, ich müsste das eigentlich wissen, 59. Spiele, 59. Spiele...aber ich kann mich einfach nicht erinnern.

Dann löse ich meinen Blick von dem Kind und richte ihn stattdessen auf die lächerlich aufgeputzte, breit grinsende Figur ihm gegenüber. Mir ist schon klar dass die ganze Sache früher als Riesenshow aufgezogen wurde aber muss man denn so übertrieben dämlich grinsen? Immerhin wusste der Clown doch dass der Kleine nicht die geringste Chance haben wird.

Um ehrlich zu sein, ich habe nie großartig über die Moderatoren der Spiele nachgedacht oder andere 'nebensächliche' Beteiligte wie die Trainer. Im Unterricht geht es bezüglich des Alten Kapitol hauptsächlich um Politiker, die Spielmacher, um die Köpfe der Unterdrückung und Ausbeutung eben.

Im Moment aber, mit diesem Lackaffen vor Augen, spüre ich wie sich der Zorn in mir breitmacht und ich beschließe dass ich sie verabscheue, jeden einzelnen von ihnen!

Je weiter wir in der Zeit vorrücken desto mehr grausige Details werden uns schließlich geliefert, wohl um uns auf den Film vorzubereiten. Fragen stellt nach den kurzen Vorträgen eigentlich keiner mehr, man hört oft Gemurmel oder es herrscht überhaupt Schweigen während wir uns umsehen.

Gerade als ich Ausschau nach Maggie halten will damit wir weitergehen können kommt sie auf mich zu, sie sieht niedergeschlagen aus. Wir betreten gemeinsam den nächsten Raum und hören Rufus aufmerksam zu.

Ein kleiner Teil des Raumes ist den Avox gewidmet die im Alten Kapitol quasi als Sklaven dienen mussten, natürlich auch während der Spiele. Oft handelte es sich dabei um glücklose politische Gegner oder deren Familienangehörige aber auch einfache Leute von der Straße, die als Aufrührer betrachtet wurden, konnten leicht zum Avox werden. Wirkliche Verbrecher waren nur die Wenigsten.

Auf einer gläsernen Tafel steht etwas über die geheimen Zeichensprachen die manche Avox entwickelten um miteinander reden zu können. Nach der Revolution einigte man sich schließlich auf eine Standardversion die offiziell anerkannt wurde aber heutzutage beherrscht sie kaum noch jemand.

Es gibt Fotos von ausgepeitschten Kapitolsklaven und verstümmelten Zungen. Die Fotos von den Zungen sind mit der Bemerkung versehen dass wohl mancher kranke Abschaum der sich damals Arzt schimpfte die abgetrennten Körperteile gesammelt haben soll wie Trophäen.

„Das ist schon was anderes nicht?", fragt Maggie neben mir mit einem gequälten Gesichtsausdruck.

„Als davon in Büchern zu lesen und dann Namen auswendig zu lernen? Das kannst du laut sagen", antworte ich und deute mit dem Kopf auf ein Foto an der Wand.

Es zeigt ein Mädchen mit starren Gesichtszügen aus dessen Körper alles Leben gewichen ist. Am Hals klafft eine blutige Wunde wie von einem Tier gerissen, nur dass dafür kein Tier verantwortlich ist sondern ein anderes Mädchen das mit blutverschmierten Lippen über ihr kauert.

Maggie schaut in die Richtung in die ich gedeutet habe und nickt mir stumm zu.

Geköpfte Tribute, erhängte Tribute, ein Tribut der eine Hand hält. Um sie zu essen.

Solche Bilder habe ich noch nie zuvor gesehen, weder in der Schule noch sonst wo. Ich finde es ist so ähnlich wie mit dem Konstruktionsplan einer Arena. Wir kannten bisher nur das Grundgerüst, eine schematische Darstellung aber das heißt noch lange nicht das man weiß wie die Realität ausgesehen hat.

Als unsere Gruppe schließlich den Raum über die Zweite Revolution verlässt und sich im nächsten vollzählig zusammenfindet, fängt Rufus wieder zu sprechen an.

„So Kinder, wie ihr sicher schon mitbekommen habt sind in diesem Raum nur Fotos und es ist der

letzte bevor wir uns den Zusammenschnitt der 74. Spiele ansehen werden. Jedes der 1800 Fotos

zeigt einen Menschen der an den Hungerspielen teilnehmen musste, unter den Fotos seht ihr kleine

Tafeln mit dem Namen, dem Alter, dem Distrikt und an welchem Spiel derjenige teilgenommen hat.

Wenn ihr mit dem Finger über die Tafeln streicht erscheint ein zusätzlicher Text. Da manche Bilder

sehr hoch hängen könnt ihr euch die zusätzlichen Informationen auch hier", er deutet auf einen in

eine Konsole eingelassenen Bildschirm neben ihm, „ genauer ansehen. Es ist außerdem möglich

sich nur auf einen bestimmten Distrikt oder ein bestimmtes Jahr zu konzentrieren, die Menüführung

ist sehr einfach keine Sorge."

Er tritt von der Konsole zurück damit wir sie benutzen können und beginnt im Raum umher zu schlendern. Die anderen tun es ihm gleich und die Gruppe beginnt sich zu verteilen. Ich glaube Maggie hat ein bestimmtes Bild erkannt, denn sie geht sofort zielstrebig darauf zu. Da noch niemand ein besonderes Interesse an der Konsole zeigt gehe ich hin und schaue auf den Bildschirm. Es gibt ein „Suchen" Feld über das man zu den Informationen gelangt aber das nützt mir nichts. Stattdessen tippe ich auf „Chronologische Auflistung" und dann auf „59". Die Bilder der Tribute aus diesem Jahr erscheinen auf dem Bildschirm und da sehe ich ihn, den Jungen vom Interview.

„Raymond Cane, männlicher Tribut aus Distrikt 11 bei den 59. Hungerspielen.

Zum Zeitpunkt der Ernte 12 Jahre alt.

Starb am ersten Tag an Genickbruch verursacht durch Carinus Frange, Tribut aus Distrikt 2.

Aufgrund des frühen Todes keine weiteren biografischen Details bekannt."

Raymond Cane, natürlich. Raymond Cane und Cloudia Orcard, die Tribute aus Distrikt 11 bei den 59. Hungerspielen. Der Sieger war Carinus Frange.

Ich drehe mich um und tue so als ob ich mir die Fotos anschauen würde, muss an Raymond Cane denken und daran dass wir gleich eine echte Aufzeichnung der Hungerspiele sehen werden, da streift mein Blick einen Namen an der Wand.

Katniss Everdeen.

Ihr Bild hängt in der Mitte sodass man es gut erreichen kann, neben ihrem befindet sich das von Peeta Mellark. Die letzten Tribute aus Distrikt 12, die Sieger der 74. Spiele.

Ein blondes Mädchen berührt die Plakette unter Katniss' Bild und der Text beginnt sich zu bewegen.

„ Errang zusammen mit Peeta Mellark den einzigen Doppelsieg in der Geschichte der Spiele, Tribut beim dritten Jubeljubiläum (75.).

Wurde von Rebellen aus der Arena befreit und in weiterer Folge zur Symbolfigur der Zweiten Revolution, dem 'Spotttölpel'.

Beim letzten Brandbombenangriff des Alten Kapitol schwer verletzt, Schwester Primrose Everdeen stirbt.

Tötet die erste Präsidentin Coin* bei der Hinrichtung des ehemaligen Präsidenten Snow.

Im darauffolgenden Prozess für unzurechnungsfähig erklärt und nach Distrikt 12 verbannt.

Spätere Ehe mit Peeta Mellark.

*Heute ist bekannt dass Präsidentin Coin die Fortsetzung der Hungerspiele plante, die Tribute sollten aus dem Kapitol statt den Distrikten stammen. Neben dem emotionalen Trauma, verursacht durch den Tod der Schwester heute oft als mögliches Motiv genannt."

„OK Leute, wenn ihr mir dann bitte in den Vorführraum folgen würdet, einfach geradeaus."

Maggie wartet auf dem Gang auf mich und wir betreten den spärlich beleuchteten Raum. Als alle Sitze belegt sind werden wir noch einmal auf den Ausgang aufmerksam gemacht. Ich versuche ruhig sitzen zu bleiben und nicht auf meinem Sessel herumzurutschen, Maggie soll nicht denken das ich feige bin.

Die Lehrer unterhalten sich noch kurz mit Rufus und setzen sich dann ganz nach hinten, das Licht geht aus und die Spiele beginnen.

Der Zusammenschnitt dauert schon ungefähr zwei Stunden, bis jetzt sind alle sitzen geblieben obwohl viele Mädchen weinen. Erst die Mutationen die sich den Jungen aus Distrikt 2 schnappen bringen ein paar dazu sich hinauszuschleichen. Es gibt einen deutlichen Schnitt und Katniss beendet das Leiden von Cato mit einem Pfeil. Ich will gar nicht wissen wie viel Zeit tatsächlich zwischen dem Angriff und dem Pfeil vergangen ist.

Schließlich wird die Regeländerung zurückgenommen. Als Peeta Katniss auffordert zu schießen und dann den Verband vom Bein reißt, muss ich mich wiedermal zusammenreißen um nicht zu heulen. Maggie neben mir verliert den Kampf gegen die Tränen, sie legt ihre kalte Hand auf meine und hält sie im Dunkeln fest ohne mich anzusehen.

Dann kommt der Moment in dem Katniss die Beeren hervorholt.

Nachtschatten nach denen die Giftpillen der Rebellen benannt worden waren. Bis die Todesstrafe vor achtunddreißig Jahren durch Präsident Odair abgeschafft wurde war 'Tod durch Nachtschatten' eine übliche Methode das Urteil zu vollstrecken.

Bevor sie das Gift schlucken können dröhnen die Fanfaren und eine schrille Stimme verkündet den Sieg beider Tribute aus Distrikt 12. Ich kann mir den Menschen zu dieser Stimme nur zu gut vorstellen mit seiner peinlichen Frisur, der affigen Montur und einem Grinsen im Gesicht.

Das Licht wird wieder eingeschaltet und Maggie nimmt schnell ihre Hand von meiner. Immer noch laufen ihr Tränen über das Gesicht darum krame ich ein Taschentuch hervor und reiche es ihr. Wir reihen uns in den Strom der Leute ein, an der frischen Luft atme ich erst einmal tief durch und sage dann, um sie ein bisschen aufzumuntern: „Eins sag' ich dir Mag, heute werd' ich bei meiner kleinen Schwester schlafen."

Sie verstaut das Taschentuch und nickt zustimmend. „Ja ich auch."

Die Erwachsenen kommen nach draußen und ein Lehrer ergreift das Wort: „So Kinder jetzt

gleich könnt ihr Rufus zum letzten Mal eure Fragen stellen, dann bekommt ihr Lunchpakete die ihr

auf dem Rückweg essen könnt. Vorher möchte ich aber noch gerne wissen ob jemand vielleicht

etwas sagen möchte? Vielleicht was er am schlimmsten fand oder noch gar nicht wusste?"

Das blonde Mädchen von vorhin hebt die Hand. Während sie zu sprechen beginnt ist ihr Blick gesenkt.

„Also ich..." Sie schaut auf und bemerkt dass alle sie anstarren, sie wird ganz rot und stolpert über ihre Worte.

„Ich...was ich sagen... wollte, ist...ist..." Sie kaut auf ihrer Unterlippe, ihre Schultern heben sich beim Einatmen. Doch sie reißt sich zusammen, schließt kurz die Augen und reckt das Kinn vor.

„Ich fand die Mutationen ganz schrecklich und ich habe nicht gewusst das man das auch mit uns machen wollte!"

Moment mal!? Was?

Uns? Wie...uns?

Meint sie etwa was auf der Tafel stand, über Coin?

Ich bin kurz davor zu protestieren aber Rufus sagt gerade etwas dazu und eigentlich will ich auch nicht vor allen auf das schüchterne Mädchen losgehen.

Aber ernsthaft, zum einen ist das jetzt wirklich kein Geheimnis und zum anderen meinte die doch damit nicht 'uns'. Sie meinte Kapitolkinder.

Gut... Kinder aus dem Alten Kapitol eben. Kinder von Verbrechern! Natürlich wäre das deshalb nicht weniger falsch gewesen aber trotzdem...Uns! Wir gehören doch nicht zum Alten Kapitol! Zum Alten Kapitol gehören Präsident Ulyss oder Snow und die ganzen Spielmacher.

Während Rufus jetzt mit Fragen bombardiert wird lege ich mir Argumente zurecht und führe eine imaginäre Diskussion mit mir selbst. Ich verfolge den Gedanken weiter und versuche die Liste zu vervollständigen. Seit heute gehören die verfluchten Moderatoren und Kommentatoren und all das Brimborium drumherum definitiv auch auf die Liste, für mich zumindest. Eigentlich auch die Sponsoren und ganz sicher die miesen Kerle die den Nerv hatten darauf zu wetten welches Kind zuerst von einem anderen getötet wird. Hmm...auch die Idioten die man auf den tonlosen Videos sehen konnte, die den Streitwägen zujubeln und...

Mir wird plötzlich kalt und schlecht zur selben Zeit.

Für mich sind oder besser gesagt waren 'die Bösen', das Alte Kapitol eigentlich ganz klar definiert. Die politische Elite natürlich und all jene die man nachweislich mit den Spielen in Verbindung bringen konnte. Menschen die auf Tribünen standen. Aber gerade ist mir etwas klar geworden. Was ist mit dem Rest? Was ist mit der Menge vor der Tribüne?

Es ist nicht das blonde Mädchen das sich irrt. Ich bin es. Ich fasse es nicht das ich nie darüber nachgedacht habe!

Schon mein Urgroßvater lebte zu Zeiten der Hungerspiele im Kapitol und wer sagt dass er nicht einer dieser Hirnlosen war? Wer sagt, dass derjenige der an einem Tag die Befreiung der Distrikte bejubelte nicht an einem anderen noch die Tribute aus Distrikt 2 angefeuert hatte. Wer hätte das nach der Revolution schon zugegeben? Mit der Zweiten Revolution wurde ein klarer Schnitt gesetzt und fortan sprach man offiziell vom Neuen Kapitol aber das waren eigentlich nur Worte. Die Regierung war komplett neu doch die Verkäuferin, der Friseur oder der Kinderarzt waren dieselben wie vorher. Waren nicht genau sie die Menge vor der Tribüne? Insofern hat das Mädchen Recht, wir sind die Kinder des Alten Kapitol.

Ich schaue nach vorn und sehe wie Rufus seine Hände zu Hilfe nimmt als er versucht eine Frage zu beantworten. Rufus aus Distrikt 4 der einem Haufen Kapitolkinder in die verheulten Gesichter schaut und trotzdem geduldig erklärt. Das Gefühl der Übelkeit konzentriert sich in meiner Magengrube.

Ich wünschte ich käme aus Distrikt 4.