Carpe Diem
Nutze den Tag, denn du weißt nie, wann es zu spät ist
eine Fanfiction von Anira
Disclaimer: Legolas, Thranduil und der Düsterwald frei geräubert bei Tolkien, alles andere ist mein alleiniges Eigentum und unter dem Recht persönlichen Gedankenguts als geschützt zu betrachten. Ich bin kein Spezialist im Umgang mit Tolkiens Werken, versuche aber, mich möglichst genau und nach bestem Wissen und Gewissen an seine Überlieferungen zu halten. Etwaige Fehler, vorbehalten, ob sie absichtlich gemacht wurden, oder schlichtweg, weil ich es nicht besser wusste, seien bitte zu verzeihen. Alle Figuren der Geschichte sind frei erfunden, Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit nicht beabsichtigt.
Danksagung: Ich grüße meine Mami und meinen Papi- Okay, ich fasse mich kurz. Aber es muss einfach sein. Zu allererst Dank an Gwynneth, meine Herzensschwester, die trotz eigenem FF-Stress immer ein bisschen Zeit fand, mich zu korrigieren oder mir zu helfen. Du bist die Größte. Dann an Gina, meine First Readerin, die mir immer wieder über die Schulter sah und voll hinter mir stand- ohne dich geht gar nichts! Und last but not least Dank an Maude, meine höchst talentierte Nichtswisserin und die beste Kaffeekränzchengesellschaft der Welt, und an meine zahlreichen Betaleser. Danke. edit: yeah, und Dank an Nevréd für die Korrektur und die hilfreichen Verbesserungsvorschläge :)
Epilog
Jeder Mensch, jedes lebendige Wesen auf dieser Welt hat eine Geschichte zu erzählen, seine ganz eigene Geschichte, und jede einzelne dieser Geschichten ist es wert, erzählt zu werden. Unter diesen Geschichten, die das Leben oder die Phantasie schreiben, gibt es natürlich sehr Bedeutende, die man immer wieder hört und die in unserem Leben eine wichtige Rolle übernehmen, uns unseren Weg deuten. Und dann gibt es Unbedeutendere, Geschichten, die nicht für wert erachtet werden, erzählt zu werden, oder die schlichtweg niemanden finden, der sie kennt und hütet. Zu jenen zählt sicher auch die Geschichte, die ich dir hier erzählen will, unbedeutend im Hinblick auf all das, was zuvor geschah und bereits hunderte Male berichtet wurde: Legenden und Mythen von großen Schlachten, tapferen Kriegern und gewaltigen Niederlagen, Erzählungen von Mut, Freundschaft und Liebe, von Hass und Neid und vom Leben der Großen und Bedeutenden. Ich kann nicht sagen, um welche Art von Geschichte es sich hier handelt, ob es meine Geschichte ist, oder ob sie nur meiner Phantasie entspringt – denn ich weiß es nicht. Ebenso kann ich nicht sagen, ob diese Geschichte wahr ist, oder ob sie sich jemand ausgedacht hat, dies ist eine Entscheidung, die du alleine fällen musst. Doch solltest du von vorneherein an eine Lüge glauben, so lass dir sagen: Wenn ich dir nun versichere, dass sich all dies genau so zugetragen hat, vor tausenden von Jahren in einer Welt, die der unseren ferner ist, als irgendein Mensch es je abschätzen könnte, kannst du mir widersprechen und mich Lügen strafen? Ist es an dir, dies zu entscheiden? Ja, werde ich antworten, für dieses Mal schon.
1. Kapitel
Ein neuer Anfang
Es war Frühsommer des Jahres 4 des vierten Zeitalters. Seit fast zwei Wochen hatte es nicht mehr geregnet und den Bewohnern von Mittelerde stand ein langer, heißer Sommer bevor. Der Ring der Macht war zerstört und der dunkle Herrscher Sauron vernichtet worden. Frieden war eingekehrt im Osten und es schien ganz so, als kehrte ein Teil der Elben wieder von den Anfurten zurück, so offen und zahlreich traf man sie an. Jetzt, da die Orks in die Berge zurückgetrieben und die Uruk-Hai beinahe vollständig besiegt worden waren, hatten sie beste Chancen, noch einmal ganz von vorne zu beginnen, einen neuen Anfang zu wagen.
Legolas Grünblatt war noch lange Zeit in Begleitung seines alten Freundes Gimli Gloinssohn durch die Lande gezogen, doch nun, da auch die zerstörten Siedlungen Rohans und Gondors wieder aufgebaut wurden, hatte es sich der Zwerg in den Kopf gesetzt, die Minen Morias zurückzuerobern und die alten Städte neu zu gründen. Viele waren ihm gefolgt, und so hatte Legolas beschlossen, in den Düsterwald zurückzukehren.
Die späte Nachmittagssonne schien noch warm auf die trockene Erde und die Schatten der Hügel und spärlichen Pflanzen wurden immer länger. Außer dem leisen Hufschlag Arods war nichts zu hören. Die Luft hatte sich über den Tag hinweg stark aufgewärmt und die herannahende Abkühlung der Nacht schien von allem Leben hier zutiefst herbeigesehnt zu werden. Legolas seufzte tief. Bald schon würde er die Braunen Lande hinter sich gelassen haben und die Grenzen seiner Heimat erblicken. Wie sehr er den Düsterwald vermisst hatte! Während des Krieges war ihm das lange gar nicht klar gewesen, doch nun, da seine Rückkehr so unmittelbar bevorstand, machte sein Heimweh sich mit aller Kraft bemerkbar.
Erst bei Einbruch der Dunkelheit machte er Rast. Lange noch, bis tief in die Nacht hinein, saß er da und dachte nach. Was würde ihn zuhause wohl erwarten?
***
"Prinz Legolas kehrt zurück!" Seit Stunden schon war das ganze Dorf in heller Aufregung, in freudiger Erwartung, ihren Prinzen nach so langer Zeit endlich wieder zuhause in Empfang zu nehmen. Sogar Eamané hatte sich von der Woge der Erregung mitreißen lassen – und das, obwohl sie Legolas noch nie begegnet war.
In der Tat war sie noch nicht lange hier im Düsterwald, etwa seit Beginn des zurückliegenden Krieges. Eamanés Vater war ein Elb Bruchtals gewesen, ihre Mutter jedoch stammte aus dem Düsterwald. Trotz ihrem dafür recht ungewöhnlichen dunklen Haar und ihrer ebenfalls dunklen Augen fühlte sie sich vom Wesen her doch am meisten mit den Waldelben verbunden. Als ihre Eltern schließlich zu den Anfurten gesegelt waren, um dem Leid und den Wirren des bevorstehenden Krieges zu entkommen, hatten sie ihre Tochter in Mittelerde zurückgelassen und zu Verwandten nach Düsterwald gesandt. Nun also lebte sie seit einigen Jahren bei der Schwester ihrer Mutter, zwar am ruhigeren Ende des großen Elbendorfes, jedoch nicht fern dem Königspalast in einer kleinen, efeuüberwucherten Lehmhütte, die sie seither als ihr Zuhause betrachtete.
Brauchte eine Elbin doch nicht ungleich länger als ein Menschenkind, um erwachsen zu werden, so wurde Eamané mit ihren knapp 600 Jahren von den meisten noch als blutjung oder gar als unreifes Kind angesehen, was sie verständlicherweise als ungemein störend empfand. Natürlich, was waren schon 600 Jahre im Vergleich zum Alter der Welt und der Ewigkeiten, die noch vorüberziehen würden? Jedoch waren 600 Jahre doch Zeit genug, um mehr Weisheit und Erfahrung zu erlangen, als es je ein sterbliches Wesen könnte.
Nun, vielleicht wussten die Elben ja ihre Unsterblichkeit nicht mehr so zu schätzen, je mehr sie alterten.
Jedenfalls kannte die "junge" Elbin von dem Prinzen nicht mehr, als die zahlreichen Geschichten, die man sich über ihn und seine Erlebnisse erzählte. Geschichten über seine Leistungen während der großen Schlachten, Geschichten über seine Freundschaft zu einem Zwergen (etwas, das sie sich nur schwer vorstellen konnte) und Geschichten über seine Reise zum großen Wasser, eben all dies, was an kalten Abenden und langen Wachtnächten am Feuer immer und immer wieder aufs Neue erzählt wurde. Die Erzählungen veränderten sich dabei laufend, wurden dramatischer, unheimlicher, lustiger oder sonst wie übertriebener und natürlich entsprach auch nicht alles ganz der Wahrheit, was an die Ohren der Elben drang, doch zumindest hoffte Eamané, eine einigermaßen richtige Vorstellung von Legolas zu haben. Und nun also würde sie ihn persönlich zu Gesicht bekommen.
Geschickt den schlanken Laubbäumen ausweichend, denn anstatt den einfacheren Fußpfad zu nehmen, bevorzugte sie ihre eigenen Abkürzungen, rannte sie durch das kurze Waldstück vom Fluss zurück zum Dorf. Geradezu überwältigt davon, wie es sich in den wenigen Stunden ihrer Abwesenheit hier verändert hatte, blieb sie am Marktplatz stehen und sah sich um.
Als er von der nahenden Rückkehr seines Sohnes erfahren hatte, hatte König Thranduil in Windeseile ein Willkommensfest für den Abend organisiert und alle Elben dazu aufgerufen, den Ort festlich zu dekorieren. Diese hatten sich nicht lumpen lassen und das ganze Dorf herausgeputzt. Zwischen den Bäumen waren Girlanden und an den Ästen Lampions aufgehängt worden, an den Türen der Hütten und Baumhäuser prangten Willkommensgrüße auf bunten Bannern und überall herrschte geradezu festliche Stimmung.
Eamané drängte sich durch eine große Ansammlung von Leuten an der Hauptstraße nach vorne durch, um mehr sehen zu können.
***
Es war bereits später Vormittag, als Legolas endlich zuhause ankam. Er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt, zugleich aber auch sehr glücklich darüber, wieder daheim zu sein - und auch über seinen herzlichen Empfang durch die Massen von Elben, die ihn schon weit vor dem Dorf erwartet hatten. Es war großartig.
Alles war zu Ehren seiner Heimkehr geschmückt und dekoriert worden, für den Abend würde es ein großes Empfangsfest geben und alle, die ihn erblickten, begrüßten ihn überschwänglich oder jubelten ihm glücklich zu. Jedoch entzog er sich der Menge rasch wieder, und nach einer nicht weniger herzlichen Begrüßung durch seinen Vater und den ganzen Hofstaat, befand er sich nun in seinem Zimmer, um sich von den Strapazen der Reise zu erholen. Einige Stunden verbrachte er damit einfach nur zu genießen, wieder hier zu sein, und so bemerkte er kaum, wie der Mittag verstrich und es Nachmittag wurde.
Ruhig stand er am weit geöffneten Fenster und blickte hinab auf das rege Treiben im Schlosshof. Geschah das dort unten denn alles seinetwegen? Und wenn es denn so war- warum? Er war lange fort gewesen, hatte gekämpft und war herumgekommen. Und außerdem war er immer noch der Sohn des Königs. Doch hatte sich schließlich auch zuvor kaum jemand dafür interessiert, was er tat, es sei denn, er hatte irgendetwas angerichtet - dann war es natürlich in aller Munde.
Legolas brachte seinen Gedanken nicht mehr zu Ende, denn plötzlich klopfte es an der Tür.
"Hm?"
Die Tür wurde aufgerissen und Nengwe stürmte herein. "Legolas! Schön dich zu sehen, mein alter Freund! Also, wenn du nicht zu spät zum Empfang kommen willst, dann solltest du dich langsam fertig machen!"
Legolas lächelte, ohne sich umzudrehen, und ließ sich einen Moment Zeit, ehe er zu einer Antwort ansetzte. Es tat gut, zu wissen, dass ihn trotz der langen Jahre seiner Abwesenheit doch noch nicht alle seiner Freunde vergessen hatten. Und das schienen sie wirklich nicht. Er seufzte. "Immer noch der Alte, Nengwe, wie? Immer hektisch, immer in Angst, du könntest irgendetwas verpassen." "Das kann ich, und das wollen wir wohl beide nicht! Also beeil dich, das Fest wird großartig!" Mit einem weiteren tiefen Seufzer drehte der Prinz sich nun doch zu Nengwe um. "Ach weißt du, mir ist im Moment so gar nicht zum Feiern zumute, und sei das Fest noch so großartig. Aber es ist schön, dass du einmal hier vorbeischaust. Ich weiß das zu schätzen." "Nun, anscheinend bist auch du noch ganz der Alte. Immer missmutig." Nengwe grinste, doch Legolas schüttelte den Kopf.
Nengwe beachtete ihn nicht.
"Ich werde dich nicht entschuldigen, vergiss es. In einer halben Stunde stehst du da unten auf der Matte und lässt dich von deinem Vater öffentlich in Empfang nehmen. Danach verschwinde wieder, wenn du willst. Du bist ja vorhin schon schnell genug entflohen." "Nein, ich meine, du irrst dich." Nengwe blickte leicht verwirrt, doch Legolas schien mit einem Mal erbost. "Du liegst falsch. Ich bin nicht mehr der alte Legolas! Der Krieg hat mich verändert, und es wird nichts mehr so werden, wie es einmal war!" Leicht erschrocken und ebenso verwirrt über den plötzlichen Ausbruch seines Freundes starrte Nengwe ihn an.
"Ja. Du hast ja Recht. Ich habe keine Ahnung von dem, was du durchgemacht hast, und um ganz ehrlich zu sein, ich möchte es gar nicht erst wissen, geschweige denn, es am eigenen Leib zu erfahren." Das klang versöhnlich, doch Legolas kam sich dadurch keineswegs verstanden vor. Nach einem kurzen Zögern fuhr sein Freund fort.
"Aber du bist wieder zuhause, und wenn du das willst, so kannst du all das Leid und die Trauer hinter dir lassen. Ich weiß nur: diese Elben da draußen lieben dich! Und zwar alle. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie enttäuscht sie wären, wenn du jetzt nicht auftauchen würdest." sagte er mit ruhiger Stimme, dann nahm er Legolas an der Schulter und bugsierte ihn zur Tür.
Und was ist mit dem, was ich fühle? Dass ich mich jetzt nicht wie der verlorene Sohn dem Volk präsentieren will?, wollte Legolas fragen, doch er verkniff es sich. Ohne weiteren Protest ließ er sich von Nengwe auf den Gang hinausschieben und ergab sich seinem Schicksal.
***
Das Fest sollte bald beginnen, und Nani stand sowohl vor ihrem sperrangelweit geöffneten Kleiderschrank, als auch vor der schwierigen Entscheidung, was ihre Abendgarderobe betraf.
Für Gewöhnlich waren ja Spitznamen unter Elben nicht üblich – wer käme denn zum Beispiel auf die dämliche Idee, Legolas "Lego" oder "Legi" zu nennen? Doch Eamané war da wohl die bekannte Ausnahme von der Regel, was jedoch nicht weiter verwunderlich war, war sie doch auch in anderen Hinsichten alles andere als das, was man vielleicht als "normal" bezeichnen würde.
So wurde sie zum Beispiel häufig einfach nur "Nani" gerufen, zumindest von ihren weiblichen Freunden, denn abgesehen davon, dass die Liste ihrer männlichen Anhänger ziemlich kurz war, wären diese paar wenigen wohl niemals auf die Idee gekommen, sie nicht bei ihrem vollen Namen anzusprechen. Außerdem gestattete sie dies nur wenigen, sehr engen Freundinnen – wir, als intime Beobachter sozusagen, wollen uns diese Frechheit einmal herausnehmen.
Eamané seufzte. Das war doch bloß so ein dummes Fest, von denen es ständig welche gab! Und so viele verschiedene Festkleider hatte sie nun auch nicht, als dass sie stundenlang hätte überlegen müssen, was sie denn anziehen sollte. Sie verlagerte ihr Gewicht vom rechten auf den linken Fuß und biss sich auf die Lippe, während sie mit der Hand über die im Schrank hängenden Kleider fuhr.
"Nani, nimm bitte diese Eibenrute aus der Wassertonne! Ich habe wirklich keine große Lust, mich an meinem Teewasser zu vergiften!", tönte die Stimme ihrer Tante aus dem Flur. "Seit wann machst du deinen Tee denn mit dem abgestandenen Regenwasser aus der Tonne?" entgegnete sie sanft lächelnd. Niniel war ja eine wirklich nette Frau, die sich rührend und voller Hingabe um ihre Nichte kümmerte, doch für deren "seltsame Freizeitbeschäftigungen" hatte sie leider keinerlei Verständnis.
Sie murrte noch irgendetwas vor sich hin, das Nani jedoch nicht verstand. "Also Niniel, solltest du tatsächlich einmal das Bedürfnis haben, Wasser aus der Regentonne zu verwenden um Tee zu machen – wo wir doch solch eine hervorragende Wasserleitung haben – dann musst du es doch vorher ohnehin abkochen, und ich bezweifle ernstlich, dass dich das dann noch vergiften würde."
Niniel, die inzwischen ins Zimmer getreten war, starrte sie grimmig an. "Ich habe einfach keine Lust, ständig an den unmöglichsten Plätzen deine komischen Äste vorzufinden!" – "Ständig! Das ist doch erst mein zweiter Versuch!"
"Eben! Und er wird fehlschlagen, ebenso wie der Erste! Wenn du dich schon fürs Bogenschießen interessierst, dann gib bei einem professionellen Bogenbauer einen solchen in Auftrag, dann hast du wenigstens Gewissheit, dass er auch schießt." "--Es geht mir doch nicht darum, einen Bogen zu besitzen, sondern darum, einen zu machen! Kannst du das denn nicht verstehen?"
"Nein. Und wenn du dann zum Fest willst, solltest du dich ein wenig beeilen." Niniel stolzierte buchstäblich aus dem Raum und Nani wandte sich seufzend wieder ihrem Kleiderschrank zu. Sie wird es nie verstehen, dachte sie traurig. War es denn so schlimm für Niniel, dass ihre Nichte, anstatt den ganzen Tag mit anderen Elben herumzusitzen, einfach gerne mal allein war und an ihrem "Bogen" herumbastelte?
Außerdem: Holz, das man biegen wollte, musste vorher nuneinmal gewässert werden, das wusste jedes Kind. Und sei es in einer Regentonne!
In einem hatte Niniel jedoch Recht: Sie sollte sich langsam beeilen, sollte sie vorhaben, noch rechtzeitig zum Fest zu kommen. Außerdem würde Amrûn bald hier sein.
Amrûn war eine der Ersten gewesen, die sich um Nani gekümmert hatten, als sie hier in einem vollkommen fremden Land versucht hatte, sich einzuleben. Sie war wie die meisten Waldelben blond, jedoch nicht übermäßig groß, hatte ausdruckslose, hellblaue Augen und war Nanis beste Freundin. Zumindest behauptete sie dies.
Eamané selbst war sich dessen nicht so sicher – was bedeutete das denn überhaupt: "beste Freundin"? Gab es denn überhaupt jemanden, der dieser Bezeichnung gerecht werden konnte? Oder war es viel mehr bloß eine Herabsetzung aller anderen Freundinnen, die damit weniger bedeutend gewertet wurden?
Der Empfang des Prinzen am Vormittag war übrigens genauso abgelaufen, wie Nani es sich vorgestellt hatte.
Legolas war erschöpft und übermüdet an der Hauptstraße vor dem Ort angekommen, kaum fünf Minuten, nachdem sich das halbe Dorf dort versammelt hatte, sitzend auf seinem mindestens ebenso fertigen Gaul, und schien die riesige Menge kaum wahrzunehmen. Nach einer kurzen und sehr gezwungen wirkenden Begrüßung hatte er sich schnellstmöglichst in den Palast zurückgezogen, um nicht von den Massen erdrückt zu werden. Alles in allem hatte sie kaum etwas von ihm zu sehen bekommen, außer, dass er blond war und auf einem weißen Pferd saß.
Wer weiß, vielleicht war er das ja wirklich – der edle Prinz auf weißem Ross...
Ein Klopfen an der Tür draußen riss sie jäh aus ihren Gedanken.
Noch ehe sie sich überhaupt herumdrehen konnte, um nachzusehen, wer gekommen war, hörte sie auch schon die Stimme ihrer Tante draußen auf dem Gang, als diese die Tür öffnete: "Ach, hallo Amrûn! Schön dich zu sehen. Komm ruhig rein, Eamané ist noch nicht ganz fertig. Sie ist in ihrem Zimmer." Die Freundin kam den Gang entlanggelaufen, doch Nani empfing sie bereits im Flur. Ihre Melancholie war mit einem Schlag wie weggeblasen.
"Hallo Amrûn! Los komm, du musst mir unbedingt helfen..."
Kaum eine Viertelstunde später kamen die beiden am Schloss an. Amrûn hatte sie dazu überredet, ein langes, fließendes hellblaues Kleid mit einem weiten, gerafften Kragen anzuziehen, weil das, wie sie ihr immer wieder aufs Neue bestätigte, "einfach vorzüglich" zu ihrer Haar- und Augenfarbe passte. Der Schlosshof war bereits völlig überfüllt, wie es schien, hatte sich hier das gesamte Dorf versammelt. "Kommt Niniel gar nicht zum Fest?", rief Amrûn, um den Lärmpegel überhaupt durchbrechen zu können. Nani schüttelte den Kopf. "Nein, sie hält nichts von derartigen Feierlichkeiten." Sie bedeutete Amrûn, ihr zu folgen und drängte sich dann nach vorne bis zu der Absperrung vor den Treppen, als bereits ein aufgeregtes Raunen durch die Menge ging.
Thranduil tauchte vor dem erhöhten Schlossportal auf und hielt eine kurze Rede, in welcher er die Taten seines Sohnes in den höchsten Tönen lobte, dann wurde Legolas wie ein seltenes Zootier den Elben vorgeführt. Zwar lächelte er stetig, doch war es nicht schwer zu erkennen, dass er sich nicht wohl fühlte in seiner Haut. Die begeisterten Untertanen scherte dies einen feuchten Dung, sie waren nun erst einmal glücklich, ihre Attraktion bewundern zu dürfen.
Eamané konnte nicht anders- sie empfand zusehends Mitleid mit dem Königssohn.
Legolas hatte sich inzwischen unter regem Schulterklopfen unter das Volk gemischt, und so hatte Nani endlich Zeit, sich in Ruhe umzusehen. Über den ganzen Platz verteilt waren kleine und größere Buffettische aufgebaut worden, an denen es umsonst kleine Canapés und verschiedene Getränke gab, etwas am Rande spielte jetzt Musik und dort hatten bereits die ersten Elben zu tanzen begonnen. Auf einmal zupfte Amrûn ihre Freundin am Ärmel und deutete in die dicht gedrängte Menge. "Sieh mal, dort vorne steht Nengwe!"
Ja, tatsächlich- er stand ganz in der Nähe und blickte sich ebenfalls aufmerksam auf dem Platz um. Nengwe war einer der raren männlichen Freunde Nanis, was jedoch daran liegen mochte, dass sie mit ihm verwandt war. Um genau zu sein hatten sie erst wenige Male miteinander gesprochen, sich aber von Anfang an gut verstanden; Nani wusste nur, dass er ein enger Vertrauter des Königs und ein guter Freund Legolas´ war. Er schien die beiden bereits entdeckt zu haben, denn mit einem Mal steuerte er direkt auf sie zu. "He Mädels! Und, wie findet ihr es?" "Hallo Nengwe! Danke, es ist ganz wundervoll!", antwortete Amrûn und warf ihm dabei aufreizende Blicke zu.
Schon seit geraumer Zeit war sie hinter dem hübschen Elben mit den felsgrauen Augen her. Nani schüttelte stumm den Kopf über ihre Freundin, ehe sie sich wieder Nengwe zuwandte. Die beiden gäben schon ein hübsches Paar ab! Zwei solche Chaoten...
"Wie ist es, soll ich euch Legolas einmal vorstellen?" schlug Nengwe vor und verschwand, ohne sich die Mühe zu machen, ihre Antwort abzuwarten, in der Menge. Nani zögerte noch einen Moment, bezweifelte sie doch ernsthaft, dass dies eine gute Idee war, folgte aber schließlich seufzend ihrer Freundin, die offensichtlich ganz begeistert war von der Vorstellung, den Prinzen einmal persönlich kennenzulernen.
Legolas inzwischen hatte sich erfolgreich abseilen können und genoss nun diesen kurzen Moment der Ruhe, ehe sicher bald der Nächste kommen, ihn für seine Leistungen loben und um seine Gunst buhlen würde.
Das ging nun bereits den ganzen Abend so, oder besser: die recht kurze Zeit über, die er sich hier befand. Es war überfüllt und übermäßig laut, und mit einem Mal wünschte er sich zurück in seine Gemächer, den für ihn nun ruhigsten und sichersten Platz dieser Welt, um weiterhin über seine Reise und seine Erlebnisse nachzudenken. Doch natürlich blieb er nicht lange ungestört, schon bald bemerkte er aus den Augenwinkeln, wie sich Nengwe in Begleitung zweier junger Damen näherte.
"Legolas, darf ich vorstellen: Das ist meine Kusine zweiten Grades, Eamané, und ihre Freundin, äh..." "Amrûn", warf diese rasch ein und schüttelte, erstaunt über seine Unkenntnis, ihren hübschen blonden Kopf. "Hallo." meinte Legolas schlicht, doch Nengwe schien damit schon ganz zufrieden, denn er grinste breit. Legolas sah ein, dass er sich aus dieser Situation wohl kaum mehr würde retten können, und unterzog die beiden Elbinnen daher nun einer etwas genaueren Musterung. Besonders Eamanés Erscheinung überraschte ihn milde, dunkelhaarige Waldelben traf man nicht häufig. "Ich...stamme ursprünglich nicht von hier, mein Vater war ein Elb Bruchtals." sagte Nani wie als Antwort auf seine ungestellte Frage. "Lest ihr meine Gedanken?" fragte der Prinz höflich aber würdevoll, während er, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen, an seinem Glas nippte. Inzwischen hatte Nengwe die ihn anschmachtende Amrûn ("Oh Nengwe, und DU hast das hier tatsächlich mitorganisiert?" - "Ja, so könnte man sagen. Allerdings nur in der Theorie, aufgebaut haben es Hîruins Leute.") an der Hand genommen und nickte Nani flüchtig zu, ehe er sie in Richtung Tanzfläche wegzog. Eamané blieb allein mit Legolas zurück.
"Nein", antwortete sie und ließ ihren Blick über die ausgelassene Menge schweifen, "ich bin lediglich eine gute Beobachterin." Legolas hatte sich gegen den Buffettisch hinter sich gelehnt, die Arme abweisend vor der Brust verschränkt, und starrte reglos auf den überfüllten Platz. Er murmelte etwas wie "Nicht zu eurem Nachteil, wie mir scheint", woraufhin ein längeres Schweigen eintrat.
Nicht kurz darauf aber erschien ein weiterer Elb bei den beiden, der vom Prinzen wie ein alter Freund begrüßt wurde, und der diesen nach einem kurzen Wortwechsel Kommentarlos von dannen schleifte.
Legolas drehte sich noch ein letztes Mal zu ihr um, und Nani glaubte fast, etwas wie ein winziges Lächeln auf seinem Gesicht gesehen zu haben, ehe er im Gewühl verschwand.
Verwirrt blieb sie alleine zurück.
Das Verhalten des Prinzen überraschte sie doch ein wenig, denn obwohl sie sich sehr gut seine Situation vorstellen konnte, war es doch seltsames Gefühl, einer so bedeutenden Persönlichkeit vorgestellt zu werden und dennoch zu sehen, dass sie sich so eigentümlich verhielt. Abwesend schüttelte sie den Kopf. Sie konnte sich keinen rechten Reim darauf machen. Schließlich riss sie ihren Blick endgültig von der Stelle los, an der Legolas gerade eben verschwunden war, und machte sich auf die Suche nach ihren Freunden.
Sicher hing Amrûn noch immer an Nengwe wie eine Ertrinkende, und vermutlich würde er an diesem Abend auch nicht mehr von ihr loskommen. Tatsächlich fand sie die Beiden recht bald, angesichts der Aussichtslosigkeit einer Suche nach zwei blonden Waldelben beinahe ein Wunder, und quälte sich milde lächelnd zu den Verliebten durch. Mit deren Gesellschaft konnte sie an diesem Abend wohl nicht mehr rechnen, und sie war sich nicht ganz sicher, ob sie das lustig oder einfach nur dämlich finden sollte, also mischte sie sich letzten Endes doch allein unter die Tanzenden, mit der festen Absicht, sich trotz allem noch ein wenig zu amüsieren.
***
Das Fest dauerte noch bis tief in die Nacht und hatte sich nach einiger Zeit über das gesamte Dorf hin ausgeweitet. Jeder, der ein wenig singen konnte oder ein Instrument beherrschte, spielte zum Tanz auf, und die Stimmung unter den Elben war selten so ausgelassen gewesen.
Jetzt war kaum mehr etwas los, die Mädchen waren längst nach Hause gegangen, und auch sonst hatte sich eine tiefe, friedvolle Stille über dem Palast ausgebreitet. Die Musik war auf Zimmerlautstärke abgesunken und gleichzeitig langsamer und ruhiger geworden, und die wenigen, die noch tanzten, taten dies langsam und eng umschlungen. An dem alten Gemäuer, das alles wie beschützend umringte, brannten Fackeln und auf den Tischen fast verbrauchte Kerzen.
An den Bänken am Rande saßen noch vereinzelt kleine Gruppen oder Paare von Elben, die sich leise unterhielten und lachten, und über all dem spannte sich der dunkelblaue, fast schwarze Nachthimmel.
Es war Neumond, und so leuchteten die Sterne besonders hell und klar.
Legolas saß allein auf einer Bank ganz in der Nähe des Buffettisches, an dem er schon am frühen Abend gestanden hatte, als Nengwe wieder auftauchte.
Mit einem tiefen, zufriedenen Seufzer ließ er sich neben seinen Freund auf die Bank sinken, der den Kopf inzwischen hinter sich auf den Tisch gelegt hatte und in den Himmel blickte. Nengwe sah beinahe abschätzend an ihm herab, über das helle, königliche Gewand, das ihm einfach nicht mehr so recht stehen mochte, sein langes, blondes Haar, das ihm sanft über die Schultern und hinten auf den Tisch fiel, und schließlich zu seinen klaren, azurblauen Augen, in denen sich das blasse Sternenlicht spiegelte.
"Du hattest Recht. Der Krieg HAT dich verändert." Auf dem Gesicht des Prinzen zeigte sich nicht die geringste Regung- es schien, als wäre es aus Stein gemeißelt. Zögernd fuhr Nengwe fort. "Das ist nicht mehr der Legolas, den ich kannte. Du warst so.... so offen. Aufgedreht und voller Ideen, immer für einen Spaß zu haben. Doch jetzt... Du solltest dich mal sehen!" er lachte leise, doch es klang nicht echt.
"Du sitzt da, schaust in die Sterne. Du bist unglücklich, Legolas. Und du hast Angst – was immer es auch sein mag, das dir Angst macht, das tut es. Ich weiß nicht. Vielleicht ist es das, was du erlebt hast, aber es verfolgt dich. Du bringst es mit, wohin du auch gehst. Ich sehe es."
Legolas hob leicht den Kopf und sah ihn an, und für einen Moment glaubte Nengwe, den Schmerz von Jahrhunderten in seinen Augen zu sehen – doch so rasch er gekommen war, verschwand er auch wieder. Der Prinz setzte sich ganz auf und stützte die Hände auf die Knie, ohne jedoch zu antworten oder sonst irgendeine Regung zu zeigen, dass er überhaupt zugehört hatte. Lange Minuten verstrichen, ehe Nengwe erneut das Wort ergriff, wobei er sich diesmal sichtlich bemühte, möglichst fröhlich und aufgeräumt zu klingen:
"Und, wie findest du sie?"
"Wen?"
"Eamané natürlich!"
Legolas tat, als müsse er erst darüber nachdenken, wer wohl gemeint sei. "Keine Ahnung, wen meinst du?" Nengwe warf seinem Freund einen leicht genervten Blick zu. "Och, komm schon. Meine Kusine! Ich hab sie dir doch vorgestellt!" – "Ich hab doch so viele Leute kennen gelernt, wie soll ich mich da an jeden erinnern? Möglich, dass ich sie gesehen hab..." murmelte dieser abwesend, doch es war nicht sonderlich überzeugend. "Die junge Elbin mit den dunklen Haaren und den großen hellbraunen Augen! Na? Tu doch nicht so, als würdest du dich nicht erinnern!" Erneut blickte Legolas ihn an, doch jetzt schien in seinem Blick ein wenig der alten Narretei wieder aufzuleuchten. "Oh, naja, ich glaube, sie ist ganz nett..." Nengwe grinste. Wer weiß, vielleicht war sein Freund doch noch nicht ganz verloren.
***
Zum nächsten Morgen hin zogen Wolken auf, und bis die Elben ihren Tag begannen, goß es wie aus Eimern.
Nani saß auf dem Fußboden in der Mitte ihres Zimmers und schnitzte an ihrem Bogen. Die Reste der Rindenschicht hatten sich, während der Ast im Wasser gelegen hatte, dunkel verfärbt, und waren nun leicht mit dem Messer abzuschälen.
Von draußen drang das Rauschen des Regens herein, wahre Sturzbäche ergossen sich über die dunstigen Fenstergläser, doch Eamané kümmerte sich nur hinlänglich um das Geschehen. Bereits zum wiederholten Male dieser Wochen war sie bereits mit dem ersten Morgengrauen auf den Beinen gewesen, hatte einen kleineren Rundgang durch das Dorf gemacht, und war, vom Regen überrascht, klitschnass wider nach Hause gekommen.
Natürlich war es nichts ungewöhnliches für einen Elben, schon gar nicht für einen Dorfbewohner, früh aufzustehen, nicht zuletzt, da die Erstgeborenen sich mit der geringsten Ruhe genügten, doch Nani war nun mal eine Langschläferin, und erst der Rhythmus des Dorflebens hier im Düsterwald hatte sie dazu gebracht, mehr als eine ihrer alten Marotten aufzugeben.
Immer wieder kreisten ihre Gedanken an diesem Morgen um den Festabend, um alles, was geschehen war und nicht zuletzt das merkwürdige Verhalten eines gewissen blonden Düsterwaldprinzen... Was ging wohl in ihm vor? Wer war er wirklich, und was bewegte ihn, zu sein, wie er war?
Nani wurde oft von solchen Überlegungen beschäftigt, überhaupt war es ihr schon immer sehr wichtig gewesen, andere kennenzulernen, sich in ihre Lage hineinzuversetzen und darüber nachzudenken, wie sie selbst in dieser Situation reagieren würde. Und tatsächlich hatte sie dies zu einer aufmerksamen Beobachterin gemacht, die ihre Umgebung sorgfältig wahrnahm und gut mit anderen Elben zurechtkam.
Ein Talent jedoch, das nicht immer sofort hervorstach, denn Nani hatte von Natur aus wenig Geduld und neigte gerne dazu, unüberlegt zu handeln. Sie schluckte schwer. Obgleich sie sich nur so kurz in seiner Gesellschaft befunden hatte, so hatte Legolas sie doch tief beeindruckt. Irgendetwas faszinierte sie an ihm, zog sie an wie ein Magnet, und stieß sie doch auf eine gewisse Weise ab, wie ein unsichtbarer Schutzwall, den er um sich gezogen hatte, und den nichts zu durchbrechen vermochte. Nun, vielleicht würde sich irgendwann doch noch die Gelegenheit bieten, besser mit ihm bekannt zu werden. Eine weitere unbegründete Überlegung, die ihr durch den Kopf ging. Warum sollte sich jemand wie er ein Weiteres mit einer solch gewöhnlichen Dorfelbin abgeben?
Sie war nichts weiter als eine flüchtige Begegnung, ein einziger Blick in eine Richtung, die seine azurblauen Augen wohl niemals wieder finden würden – vermutlich erinnerte er sich noch nicht einmal mehr an ihren Namen.
Wie so häufig in letzter Zeit betrat Niniel mit einem besorgten Gesichtsausdruck den Raum. Eamané fluchte leise, als sie mit der Klinge auf dem nassen Eibenholz abrutschte und sich leicht in den Finger schnitt. Sie hatte die Hand schon beinahe am Mund, als ihr einfiel, dass das Eibenholz vielleicht nicht sonderlich gesund war. Jetzt erst recht fluchend, eine weitere Angewohnheit, die sie wohl nie zu einer gestandenen Edeldame machen würde, warf sie Messer und Ast zur Seite, und ging dann hinüber zu ihrer Waschschüssel, um die Wunde mit dem klaren Wasser auszuwaschen.
"Wozu machst du dir eigentlich die ganze Arbeit?" fragte Niniel verständnislos. Nani überlegte einen Moment, ohne sich von der Wanne abzuwenden.
"Um mich zu beschäftigen, denke ich."
Sie drehte sich zur Tür, ließ sich dann jedoch auf die Kante ihres Bettes sinken und blickte ihre Tante an, ihre Augen erfüllt von einem traurigen Glanz.
"Ich langweile mich, Niniel! Du siehst ja selbst, ich habe nichts zu tun, keine Aufgabe! Natürlich habe ich so manche Dinge, die mir Freude bereiten, aber das kann doch nicht alles sein. Ich kann doch nicht mein ganzes Leben damit verbringen, durch den Wald zu laufen oder an meinem Bogen zu basteln!" Niedergeschlagen ließ sie den Kopf sinken. Niniel seufzte, dann schritt sie auf ihre Nichte zu, setzte sich neben sie auf das Bett und legte ihr mitfühlend einen Arm um die Schultern.
"Tja, das ist in der Tat ein Problem. Und wenn ich mich nicht irre, kein unbedeutendes noch dazu." Entgegen ihrer Worte lächelte sie ermutigend und Nani lehnte sich unglücklich an ihre Schulter. Warum nur hatte sie das Gefühl, als würde sie mehr bedrücken, als die Langeweile? Etwas, das sie nicht in Worte fassen konnte, etwas, das ihr eine nicht begründbare, sinnlos scheinende Traurigkeit auferlegte? "Aber du hast natürlich vollkommen recht," fuhr Niniel nach einer kurzen Pause fort, "hier herumzusitzen kann und darf auf Dauer nicht dein gesamter Lebensinhalt sein. Was hieltest du eigentlich davon, wenn du dir eine Arbeit im Palast suchen würdest? Es gibt genug Beschäftigungen dort für dich, sie können ja nie genug fleißige, junge Elben finden! Nengwe arbeitet im Schloss, er kann dir sicher helfen, und vielleicht ein bisschen den Vermittler spielen. Was meinst du? Sich ein wenig umzuschauen kann nichts schaden, und wenn sie dich nicht brauchen können, werden sie es dich wissen lassen."
Eine gute Idee eigentlich, dachte Nani bei sich und legte unschlüssig den Kopf schief. Natürlich, Nengwe würde ihr sicher helfen können und viel falsch machen konnte sie kaum. Ein Lächeln umspielte ihre Züge, und ehe sie es sich versah, war sie, durch die Worte Niniels ermutigt, aufgestanden.
"Ja, vielleicht ist das wirklich keine schlechte Idee!"
Und so kam es, dass Eamané sich kaum eine Stunde später auf den Weg hoch zum Schloss machte. Der strömende Regen raubte ihr fast jegliche Sicht, sie lief rasch und hintenherum, durch den nassen Wald nach Norden an den Hauptgebäuden vorbei, und dann über einen kleineren Seiteneingang auf den weitläufigen Schlosshof , wo am Abend zuvor noch das Willkommensfest stattgefunden hatte, doch trotzdem war sie, bis sie dort ankam, nass bis auf die Knochen, ihre Kleidung völlig durchweicht, und das lange, durch das Wasser beinahe schwarz wirkende Haar hing ihr in feuchten Strähnen ins Gesicht.
Sie fand Nengwe recht bald, da sie zufällig wusste, dass er sich am späten Vormittag häufig in der Nähe der Stallungen aufhielt, die auch einen außenliegenden Flachbau mit einschloss, in dem es eine Art Gaststätte mit Unterkunft für Händler und Reisende gab. Nanis Vetter saß wie so oft dort drinnen an der Theke, allein, und nippte gedankenversunken an seinem Drink.
Die im Vergleich zu den Kneipen und Spelunken der Menschen recht hell und freundlich wirkende Stube war wegen des plötzlichen Regengusses ziemlich überfüllt, vor allem von Elben aus dem Dorf, die es aus verschiedensten Gründen schon früh in den Palast verschlagen hatte. Die Luft war warm und feucht, doch noch nicht unangenehm und die Flucht aus dem Regen schien sie zu locken wie ein Kind mit Süßigkeiten. Nani fasste sich ein Herz und trat mit einem letzten, kurzen Durchatmen ins Trockene.
"Hallo Nengwe!" rief sie fröhlich, ehe sie zur Bar hin auf ihn zukam. Eamané setzte sich neben ihn auf einen Barhocker, nahm ihm sein Glas aus der Hand und nippte ebenfalls daran- prustete jedoch sofort wieder alles aus.
"Igitt! Das ist ja widerlich!"
Nengwe, der es bisher noch nicht dazu gebracht hatte, sie ebenfalls zu grüßen, grinste. "Ahornsirup mit Pfefferminze." Sie schüttelte sich demonstrativ und schob ihm das Glas rüber. "Ekelhaft. Ähm, Nengwe- ich habe eine ganz große Bitte an dich." "Na, dann schieß mal los." "Weißt du, ich möchte arbeiten. Hier auf dem Schloss, ich dachte, vielleicht..." "Soso. Arbeiten möchtest du, ja? Und da dachtest du, ich könnte dir ein wenig behilflich sein." Nani nickte.
Nengwe zog die Stirn in Falten und schien nachzudenken. Er legte den Kopf ein wenig schief, spielte mit dem Glas in seiner Hand und beobachtete belustigt, wie Nani langsam ungeduldig wurde. "Nun sag schon, kannst du mir helfen oder nicht?" fragte sie schließlich. Nengwe grinste, nahm noch einen schluck von seinem Sirup und stellte das leere Glas auf die Theke. "Also schön, dann komm mal mit. Ich werde sehen, was ich machen kann." Er stand nachdrücklich auf und verließ das Gebäude, doch Nani folgte ihm nur zögernd.
"Wo wollen wir denn hin?"
Als sie wieder draußen auf dem Hof standen, meinte Nengwe: "Ich bringe dich zu Hîruin. Er überwacht die Arbeiten hier am Hof, und ist auch für alles verantwortlich, was an Arbeitsanfragen und ähnlichem hier eingeht. Wer weiß, vielleicht hat er ja etwas für dich. Da lang." Er führte sie in eines der Hauptgebäude hinein, mehrere Gänge entlang und schließlich in eine beleuchtete, glasüberdachte Aula mit einem Springbrunnen.
"Wo sind wir hier?" fragte Eamané erstaunt. "Das hier sind die Gebäude, in denen der König lebt. Dort hinten-" er wies mit der Hand nach rechts in einen hellen, reichlich geschmückten Gang, viel breiter als die meisten anderen hier- "geht es zum Thronsaal. Aber wir müssen nach links, da ist sozusagen die 'Verwaltungsetage'. Hör zu. Hîruin ist streng, aber gerecht. Es mag so scheinen, als sei mit ihm nicht gut Kirschen essen, und das stimmt wohl auch. Aber solange du das tust, was er von dir erwartet, hast du nichts zu befürchten."
Hîruin war selbst für einen Elben ungewöhnlich groß und kräftig, sein Blick einschüchternd und es war offensichtlich, dass er es gewöhnt war, Befehle zu erteilen. Als Nani und Nengwe den Vorhof, in dem geschäftiges Treiben herrschte, betraten, war er gerade dabei, einen jüngeren, blonden Elben anzukeifen, der wohl irgendetwas falsch gemacht hatte. Das auffälligste an Hîruins Erscheinung jedoch war, dass er sein dunkles, beinahe schwarzes Haar nicht wie die anderen Elben offen trug, sondern hinten am Kopf streng zusammengebunden hatte, was ihn auf eine gewisse Weise noch bedrohlicher wirken ließ. "Guten Tag, Hîruin." meinte Nengwe höflich, woraufhin dieser sich den beiden mit sichtlichem Widerwillen zuwandte.
"Ja, was gibt´s?"
"Ähem, das hier", er deutete auf Nani, "ist meine Kusine Eamané – sie sucht eine Arbeit hier im Schloss." "Die junge Dame möchte also arbeiten, soso.", bemerkte er, ganz ähnlich dem, was auch Nengwe zuvor festgestellt hatte und musterte sie dann von Kopf bis Fuß. "Was kannst du denn?"
"Nichts – soweit ich weiß. Mir war nur langweilig, also habe ich mir gedacht..."
"Du redest zu viel. Nicht gut zum Arbeiten. Was hast du dir denn vorgestellt?" "Ich kann recht gut mit Pferden umgehen.", murmelte Nani, nun sichtlich eingeschüchtert. Nahm sie hier denn keiner für Ernst?
Auf seinem Gesicht zeigte sich ein spöttisches Lächeln. "Tja, meine Liebe, nur leider ist das hier kein Wunschkonzert. So ohne jegliche Qualifikationen kannst du nicht in die hohe Arbeit einsteigen. Aber lass mich überlegen."
Er wandte sich zu einem der hohen Fenster und blickte hinaus. "Der erste Regen seit langem, aber auch dementsprechend heftig. Dem Wald wird es gut tun... Nun, ich bräuchte eine Botin. Denkst du, du könntest das schaffen?"
"Was... muss ich denn tun?"
"Alles was du brauchst, ist Ausdauer und ein bisschen Orientierungssinn. Ich kann nicht überall zugleich sein, und könnte daher ein wenig Unterstützung recht gut gebrauchen."
Nani blickte hilfesuchend zu Nengwe, doch der nickte ermutigend. "Also gut. Wann soll ich anfangen?" "Du kannst gleich dableiben."
Wieder huschte ihr Blick zu Nengwe, der ihr die Hand auf die Schulter legte und ihr ein kleines Lächeln schenkte. "Mach dir nicht allzuviele Sorgen und denk daran, was ich dir gesagt habe." sagte er leise, dann entfernte er sich ein paar Schritte, blieb stehen, und wandte sich erneut zu ihr um. Mit einem aufmunternden "Halt die Löffel steif!" verschwand er schließlich um die nächste Ecke und ließ Nani allein zurück.
***
"Prinz Legolas, der König wünscht euch zu sehen." "Richtet ihm aus, dass ich mich sofort auf den Weg mache." Der Bote nickte geschäftig und machte sich eilends wieder auf den Weg.
Legolas hatte den Vormittag dazu genutzt, um einen kleinen Spaziergang durch das Schloss zu machen. Es hatte sich einiges verändert in den Jahren seiner Abwesenheit, und doch war ihm noch immer alles so vertraut, als sei es erst gestern gewesen, dass er nach Bruchtal aufgebrochen war. Es war niemals auch nur im Entferntesten geplant gewesen, dass er sich nach Mordor aufmachen und den Ring der Macht zerstören sollte. Er hatte lediglich die Nachricht von Gollums Flucht überbringen wollen, an der Ratssitzung im Hause Elronds teilnehmen, und dann schleunigst in den Düsterwald zurückkehren – doch einmal mehr hatte das Schicksal ihm einen Streich gespielt.
Frodo war noch Mordor aufgebrochen und Legolas hatte sich ohne zu zögern dazu bereit erklärt, ihn und seinen langjährigen Freund Aragorn, sowie sechs Weitere zu begleiten.
Ein langer und harter Weg lag vor ihnen, und wenn man es ihm auch nicht gleich ansehen mochte, so hatten ihm die Wirren und die Düsternis des Krieges doch zugesetzt.
Nun aber, fernab von alledem, spazierte er gemächlich durch die Aranmarda, die Halle der Könige. Dann durchquerte er den großen Hauptgang und betrat durch eine schwere Eichenholztür den Thronsaal. Alles hier wirkte alt und sehr edel, das hohe Deckengewölbe war reich verziert mit Gold und Marmor, und als Zentrum all dessen stand in der Mitte des Saals ein Thron, uralt und doch von einer ungeheuren Kraft und Reinheit, geschnitzt aus einem einzigen Holzblock und von der Farbe schimmernden Elfenbeins. Reich verziert und doch irgendwie einfach, nur das Holz ohne jegliches Gold oder andere Kostbarkeiten. Leer.
Thranduil saß allein an der langen Tafel am Rande des Saals und schien in seine Gedanken versunken. Als er Legolas bemerkte, erhob er sich und wies ihm den Stuhl zu, auf dem er gerade noch selbst gesessen hatte, ganz so, als hätte dies irgendeine Symbolik.
"Sei gegrüßt, mein Sohn. Setz dich doch bitte."
"Guten Tag, Vater."
Etwas missmutig setzte er sich an den Tisch.
"Wie war deine Reise?"
"Lang. Und außerdem solltest du deinem Personal abgewöhnen, mich mit "Prinz" oder "Eure Lordschaft" anzusprechen, das geht mir auf die Nerven. Du weißt, ich mag diesen ganzen Prunk nicht." – "Warum nur habe ich geahnt, dass du so etwas bald sagen würdest?" Sein Vater seufzte, fuhr dann jedoch ohne einen weiteren Kommentar dazu fort: "Man hat inzwischen viel gehört, was denn so geschehen und was dir widerfahren ist, doch würde ich es gerne von dir selbst hören." Er nickte auffordernd und lehnte sich in einer erwartenden Haltung an einen zweiten Stuhl direkt neben ihm.
Und Legolas erzählte. Er beschwerte sich nicht und gab sich auch nicht mehr wortkarg, sondern schilderte alles bis ins kleinste Detail – von seiner Reise nach Bruchtal, über die großen Schlachten, bis hin zur Zerstörung des Ringes und dem Wiedersehen der Gefährten, ebenso wie seine Erlebnisse danach, bei denen Thranduil zwar des Öfteren den hoheitlichen Kopf schüttelte, ihn jedoch nicht unterbrach.
"Und jetzt bin ich also wieder hier." schloss er nach beinahe zwei Stunden.
Sein Vater nickte bedächtig. "Wie ich sehe, hast du tatsächlich viel durchgemacht. Doch ich glaube auch, dass sich dies nicht alles nur negativ ausgewirkt haben könnte... Nun, vielleicht ist es kein besonders günstiger Augenblick, dich damit zu überfallen", er zögerte lange, doch seine Überzeugung schien letztendlich zu siegen. "Ich... spiele nun schon geraume Zeit mit dem Gedanken, aber langsam wird es mir immer ernster. Ich denke, es wird für mich langsam aber sicher Zeit, mein Amt niederzulegen und nach Valinor zu segeln."
Legolas starrte ihn entgeistert an. "Du willst was?"
"Ja, Legolas. So wenig dir das auch gefallen mag – du bist mein einziger Sohn und damit Thronerbe Düsterwalds. Lass dir Zeit – noch eilt nichts! Aber du solltest beizeiten anfangen, dich mit diesem Gedanken vertraut zu machen." Der König seufzte tief und begann, vor der Tafel einige Schritte auf und ab zu gehen. Er fühlte sich in die Enge getrieben, und etwas an seinem Sohn veranlasste ihn dazu, seine eigenen Ansichten in Frage zu stellen. War es wirklich vonnöten gewesen, ihn damit jetzt schon zu quälen? Doch es half nichts, einmal heraus, konnte er es nicht zurücknehmen, nur relativieren, und er wollte Legolas auch nicht in falscher Sicherheit wägen. Obwohl ihm dieses Thema durchaus ernst war, kam ihm für einen Augenblick lang die Vorstellung, wie er ein Papphütchen hervorzog und seinem Sohn ein fröhliches 'Alles nur'n Scherz, höhö!' entgegen schmetterte, sodass er sich nur mit Mühe ein Lachen verbeißen konnte. Schade bloß, dass er sich so etwas nicht von Zeit zu Zeit einmal erlauben konnte...
Legolas hingegen hatte allen Anscheins nach immer noch nicht ganz verstanden, was eigentlich los war. Langsam löste er sich aus seiner Erstarrung, erhob sich langsam und schritt so würdevoll, wie es ihm gelang, zu einem der Fenster dicht neben ihnen. "Du willst also, dass ich König werde, habe ich das richtig verstanden?"
Thranduil bemerkte, wie sehr er ihn damit geschockt haben musste, und meinte deshalb noch einmal: "Das hat Zeit. Ich wollte dich eigentlich lediglich darauf hingewiesen haben. Du bist wieder zuhause! Und das bedeutet, dass du noch einmal von vorne beginnen kannst. Wage einen neuen Anfang!"
"Und was, wenn ich das gar nicht will?" fragte Legolas tonlos, ohne sich dabei vom Fenster abzuwenden.
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Soweit zum ersten Kapitel... Was meint ihr bisher? Freue mich natürlich schon wie ein Streifenhörnchen auf eure Reviews :)
Nutze den Tag, denn du weißt nie, wann es zu spät ist
eine Fanfiction von Anira
Disclaimer: Legolas, Thranduil und der Düsterwald frei geräubert bei Tolkien, alles andere ist mein alleiniges Eigentum und unter dem Recht persönlichen Gedankenguts als geschützt zu betrachten. Ich bin kein Spezialist im Umgang mit Tolkiens Werken, versuche aber, mich möglichst genau und nach bestem Wissen und Gewissen an seine Überlieferungen zu halten. Etwaige Fehler, vorbehalten, ob sie absichtlich gemacht wurden, oder schlichtweg, weil ich es nicht besser wusste, seien bitte zu verzeihen. Alle Figuren der Geschichte sind frei erfunden, Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit nicht beabsichtigt.
Danksagung: Ich grüße meine Mami und meinen Papi- Okay, ich fasse mich kurz. Aber es muss einfach sein. Zu allererst Dank an Gwynneth, meine Herzensschwester, die trotz eigenem FF-Stress immer ein bisschen Zeit fand, mich zu korrigieren oder mir zu helfen. Du bist die Größte. Dann an Gina, meine First Readerin, die mir immer wieder über die Schulter sah und voll hinter mir stand- ohne dich geht gar nichts! Und last but not least Dank an Maude, meine höchst talentierte Nichtswisserin und die beste Kaffeekränzchengesellschaft der Welt, und an meine zahlreichen Betaleser. Danke. edit: yeah, und Dank an Nevréd für die Korrektur und die hilfreichen Verbesserungsvorschläge :)
Epilog
Jeder Mensch, jedes lebendige Wesen auf dieser Welt hat eine Geschichte zu erzählen, seine ganz eigene Geschichte, und jede einzelne dieser Geschichten ist es wert, erzählt zu werden. Unter diesen Geschichten, die das Leben oder die Phantasie schreiben, gibt es natürlich sehr Bedeutende, die man immer wieder hört und die in unserem Leben eine wichtige Rolle übernehmen, uns unseren Weg deuten. Und dann gibt es Unbedeutendere, Geschichten, die nicht für wert erachtet werden, erzählt zu werden, oder die schlichtweg niemanden finden, der sie kennt und hütet. Zu jenen zählt sicher auch die Geschichte, die ich dir hier erzählen will, unbedeutend im Hinblick auf all das, was zuvor geschah und bereits hunderte Male berichtet wurde: Legenden und Mythen von großen Schlachten, tapferen Kriegern und gewaltigen Niederlagen, Erzählungen von Mut, Freundschaft und Liebe, von Hass und Neid und vom Leben der Großen und Bedeutenden. Ich kann nicht sagen, um welche Art von Geschichte es sich hier handelt, ob es meine Geschichte ist, oder ob sie nur meiner Phantasie entspringt – denn ich weiß es nicht. Ebenso kann ich nicht sagen, ob diese Geschichte wahr ist, oder ob sie sich jemand ausgedacht hat, dies ist eine Entscheidung, die du alleine fällen musst. Doch solltest du von vorneherein an eine Lüge glauben, so lass dir sagen: Wenn ich dir nun versichere, dass sich all dies genau so zugetragen hat, vor tausenden von Jahren in einer Welt, die der unseren ferner ist, als irgendein Mensch es je abschätzen könnte, kannst du mir widersprechen und mich Lügen strafen? Ist es an dir, dies zu entscheiden? Ja, werde ich antworten, für dieses Mal schon.
1. Kapitel
Ein neuer Anfang
Es war Frühsommer des Jahres 4 des vierten Zeitalters. Seit fast zwei Wochen hatte es nicht mehr geregnet und den Bewohnern von Mittelerde stand ein langer, heißer Sommer bevor. Der Ring der Macht war zerstört und der dunkle Herrscher Sauron vernichtet worden. Frieden war eingekehrt im Osten und es schien ganz so, als kehrte ein Teil der Elben wieder von den Anfurten zurück, so offen und zahlreich traf man sie an. Jetzt, da die Orks in die Berge zurückgetrieben und die Uruk-Hai beinahe vollständig besiegt worden waren, hatten sie beste Chancen, noch einmal ganz von vorne zu beginnen, einen neuen Anfang zu wagen.
Legolas Grünblatt war noch lange Zeit in Begleitung seines alten Freundes Gimli Gloinssohn durch die Lande gezogen, doch nun, da auch die zerstörten Siedlungen Rohans und Gondors wieder aufgebaut wurden, hatte es sich der Zwerg in den Kopf gesetzt, die Minen Morias zurückzuerobern und die alten Städte neu zu gründen. Viele waren ihm gefolgt, und so hatte Legolas beschlossen, in den Düsterwald zurückzukehren.
Die späte Nachmittagssonne schien noch warm auf die trockene Erde und die Schatten der Hügel und spärlichen Pflanzen wurden immer länger. Außer dem leisen Hufschlag Arods war nichts zu hören. Die Luft hatte sich über den Tag hinweg stark aufgewärmt und die herannahende Abkühlung der Nacht schien von allem Leben hier zutiefst herbeigesehnt zu werden. Legolas seufzte tief. Bald schon würde er die Braunen Lande hinter sich gelassen haben und die Grenzen seiner Heimat erblicken. Wie sehr er den Düsterwald vermisst hatte! Während des Krieges war ihm das lange gar nicht klar gewesen, doch nun, da seine Rückkehr so unmittelbar bevorstand, machte sein Heimweh sich mit aller Kraft bemerkbar.
Erst bei Einbruch der Dunkelheit machte er Rast. Lange noch, bis tief in die Nacht hinein, saß er da und dachte nach. Was würde ihn zuhause wohl erwarten?
***
"Prinz Legolas kehrt zurück!" Seit Stunden schon war das ganze Dorf in heller Aufregung, in freudiger Erwartung, ihren Prinzen nach so langer Zeit endlich wieder zuhause in Empfang zu nehmen. Sogar Eamané hatte sich von der Woge der Erregung mitreißen lassen – und das, obwohl sie Legolas noch nie begegnet war.
In der Tat war sie noch nicht lange hier im Düsterwald, etwa seit Beginn des zurückliegenden Krieges. Eamanés Vater war ein Elb Bruchtals gewesen, ihre Mutter jedoch stammte aus dem Düsterwald. Trotz ihrem dafür recht ungewöhnlichen dunklen Haar und ihrer ebenfalls dunklen Augen fühlte sie sich vom Wesen her doch am meisten mit den Waldelben verbunden. Als ihre Eltern schließlich zu den Anfurten gesegelt waren, um dem Leid und den Wirren des bevorstehenden Krieges zu entkommen, hatten sie ihre Tochter in Mittelerde zurückgelassen und zu Verwandten nach Düsterwald gesandt. Nun also lebte sie seit einigen Jahren bei der Schwester ihrer Mutter, zwar am ruhigeren Ende des großen Elbendorfes, jedoch nicht fern dem Königspalast in einer kleinen, efeuüberwucherten Lehmhütte, die sie seither als ihr Zuhause betrachtete.
Brauchte eine Elbin doch nicht ungleich länger als ein Menschenkind, um erwachsen zu werden, so wurde Eamané mit ihren knapp 600 Jahren von den meisten noch als blutjung oder gar als unreifes Kind angesehen, was sie verständlicherweise als ungemein störend empfand. Natürlich, was waren schon 600 Jahre im Vergleich zum Alter der Welt und der Ewigkeiten, die noch vorüberziehen würden? Jedoch waren 600 Jahre doch Zeit genug, um mehr Weisheit und Erfahrung zu erlangen, als es je ein sterbliches Wesen könnte.
Nun, vielleicht wussten die Elben ja ihre Unsterblichkeit nicht mehr so zu schätzen, je mehr sie alterten.
Jedenfalls kannte die "junge" Elbin von dem Prinzen nicht mehr, als die zahlreichen Geschichten, die man sich über ihn und seine Erlebnisse erzählte. Geschichten über seine Leistungen während der großen Schlachten, Geschichten über seine Freundschaft zu einem Zwergen (etwas, das sie sich nur schwer vorstellen konnte) und Geschichten über seine Reise zum großen Wasser, eben all dies, was an kalten Abenden und langen Wachtnächten am Feuer immer und immer wieder aufs Neue erzählt wurde. Die Erzählungen veränderten sich dabei laufend, wurden dramatischer, unheimlicher, lustiger oder sonst wie übertriebener und natürlich entsprach auch nicht alles ganz der Wahrheit, was an die Ohren der Elben drang, doch zumindest hoffte Eamané, eine einigermaßen richtige Vorstellung von Legolas zu haben. Und nun also würde sie ihn persönlich zu Gesicht bekommen.
Geschickt den schlanken Laubbäumen ausweichend, denn anstatt den einfacheren Fußpfad zu nehmen, bevorzugte sie ihre eigenen Abkürzungen, rannte sie durch das kurze Waldstück vom Fluss zurück zum Dorf. Geradezu überwältigt davon, wie es sich in den wenigen Stunden ihrer Abwesenheit hier verändert hatte, blieb sie am Marktplatz stehen und sah sich um.
Als er von der nahenden Rückkehr seines Sohnes erfahren hatte, hatte König Thranduil in Windeseile ein Willkommensfest für den Abend organisiert und alle Elben dazu aufgerufen, den Ort festlich zu dekorieren. Diese hatten sich nicht lumpen lassen und das ganze Dorf herausgeputzt. Zwischen den Bäumen waren Girlanden und an den Ästen Lampions aufgehängt worden, an den Türen der Hütten und Baumhäuser prangten Willkommensgrüße auf bunten Bannern und überall herrschte geradezu festliche Stimmung.
Eamané drängte sich durch eine große Ansammlung von Leuten an der Hauptstraße nach vorne durch, um mehr sehen zu können.
***
Es war bereits später Vormittag, als Legolas endlich zuhause ankam. Er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt, zugleich aber auch sehr glücklich darüber, wieder daheim zu sein - und auch über seinen herzlichen Empfang durch die Massen von Elben, die ihn schon weit vor dem Dorf erwartet hatten. Es war großartig.
Alles war zu Ehren seiner Heimkehr geschmückt und dekoriert worden, für den Abend würde es ein großes Empfangsfest geben und alle, die ihn erblickten, begrüßten ihn überschwänglich oder jubelten ihm glücklich zu. Jedoch entzog er sich der Menge rasch wieder, und nach einer nicht weniger herzlichen Begrüßung durch seinen Vater und den ganzen Hofstaat, befand er sich nun in seinem Zimmer, um sich von den Strapazen der Reise zu erholen. Einige Stunden verbrachte er damit einfach nur zu genießen, wieder hier zu sein, und so bemerkte er kaum, wie der Mittag verstrich und es Nachmittag wurde.
Ruhig stand er am weit geöffneten Fenster und blickte hinab auf das rege Treiben im Schlosshof. Geschah das dort unten denn alles seinetwegen? Und wenn es denn so war- warum? Er war lange fort gewesen, hatte gekämpft und war herumgekommen. Und außerdem war er immer noch der Sohn des Königs. Doch hatte sich schließlich auch zuvor kaum jemand dafür interessiert, was er tat, es sei denn, er hatte irgendetwas angerichtet - dann war es natürlich in aller Munde.
Legolas brachte seinen Gedanken nicht mehr zu Ende, denn plötzlich klopfte es an der Tür.
"Hm?"
Die Tür wurde aufgerissen und Nengwe stürmte herein. "Legolas! Schön dich zu sehen, mein alter Freund! Also, wenn du nicht zu spät zum Empfang kommen willst, dann solltest du dich langsam fertig machen!"
Legolas lächelte, ohne sich umzudrehen, und ließ sich einen Moment Zeit, ehe er zu einer Antwort ansetzte. Es tat gut, zu wissen, dass ihn trotz der langen Jahre seiner Abwesenheit doch noch nicht alle seiner Freunde vergessen hatten. Und das schienen sie wirklich nicht. Er seufzte. "Immer noch der Alte, Nengwe, wie? Immer hektisch, immer in Angst, du könntest irgendetwas verpassen." "Das kann ich, und das wollen wir wohl beide nicht! Also beeil dich, das Fest wird großartig!" Mit einem weiteren tiefen Seufzer drehte der Prinz sich nun doch zu Nengwe um. "Ach weißt du, mir ist im Moment so gar nicht zum Feiern zumute, und sei das Fest noch so großartig. Aber es ist schön, dass du einmal hier vorbeischaust. Ich weiß das zu schätzen." "Nun, anscheinend bist auch du noch ganz der Alte. Immer missmutig." Nengwe grinste, doch Legolas schüttelte den Kopf.
Nengwe beachtete ihn nicht.
"Ich werde dich nicht entschuldigen, vergiss es. In einer halben Stunde stehst du da unten auf der Matte und lässt dich von deinem Vater öffentlich in Empfang nehmen. Danach verschwinde wieder, wenn du willst. Du bist ja vorhin schon schnell genug entflohen." "Nein, ich meine, du irrst dich." Nengwe blickte leicht verwirrt, doch Legolas schien mit einem Mal erbost. "Du liegst falsch. Ich bin nicht mehr der alte Legolas! Der Krieg hat mich verändert, und es wird nichts mehr so werden, wie es einmal war!" Leicht erschrocken und ebenso verwirrt über den plötzlichen Ausbruch seines Freundes starrte Nengwe ihn an.
"Ja. Du hast ja Recht. Ich habe keine Ahnung von dem, was du durchgemacht hast, und um ganz ehrlich zu sein, ich möchte es gar nicht erst wissen, geschweige denn, es am eigenen Leib zu erfahren." Das klang versöhnlich, doch Legolas kam sich dadurch keineswegs verstanden vor. Nach einem kurzen Zögern fuhr sein Freund fort.
"Aber du bist wieder zuhause, und wenn du das willst, so kannst du all das Leid und die Trauer hinter dir lassen. Ich weiß nur: diese Elben da draußen lieben dich! Und zwar alle. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie enttäuscht sie wären, wenn du jetzt nicht auftauchen würdest." sagte er mit ruhiger Stimme, dann nahm er Legolas an der Schulter und bugsierte ihn zur Tür.
Und was ist mit dem, was ich fühle? Dass ich mich jetzt nicht wie der verlorene Sohn dem Volk präsentieren will?, wollte Legolas fragen, doch er verkniff es sich. Ohne weiteren Protest ließ er sich von Nengwe auf den Gang hinausschieben und ergab sich seinem Schicksal.
***
Das Fest sollte bald beginnen, und Nani stand sowohl vor ihrem sperrangelweit geöffneten Kleiderschrank, als auch vor der schwierigen Entscheidung, was ihre Abendgarderobe betraf.
Für Gewöhnlich waren ja Spitznamen unter Elben nicht üblich – wer käme denn zum Beispiel auf die dämliche Idee, Legolas "Lego" oder "Legi" zu nennen? Doch Eamané war da wohl die bekannte Ausnahme von der Regel, was jedoch nicht weiter verwunderlich war, war sie doch auch in anderen Hinsichten alles andere als das, was man vielleicht als "normal" bezeichnen würde.
So wurde sie zum Beispiel häufig einfach nur "Nani" gerufen, zumindest von ihren weiblichen Freunden, denn abgesehen davon, dass die Liste ihrer männlichen Anhänger ziemlich kurz war, wären diese paar wenigen wohl niemals auf die Idee gekommen, sie nicht bei ihrem vollen Namen anzusprechen. Außerdem gestattete sie dies nur wenigen, sehr engen Freundinnen – wir, als intime Beobachter sozusagen, wollen uns diese Frechheit einmal herausnehmen.
Eamané seufzte. Das war doch bloß so ein dummes Fest, von denen es ständig welche gab! Und so viele verschiedene Festkleider hatte sie nun auch nicht, als dass sie stundenlang hätte überlegen müssen, was sie denn anziehen sollte. Sie verlagerte ihr Gewicht vom rechten auf den linken Fuß und biss sich auf die Lippe, während sie mit der Hand über die im Schrank hängenden Kleider fuhr.
"Nani, nimm bitte diese Eibenrute aus der Wassertonne! Ich habe wirklich keine große Lust, mich an meinem Teewasser zu vergiften!", tönte die Stimme ihrer Tante aus dem Flur. "Seit wann machst du deinen Tee denn mit dem abgestandenen Regenwasser aus der Tonne?" entgegnete sie sanft lächelnd. Niniel war ja eine wirklich nette Frau, die sich rührend und voller Hingabe um ihre Nichte kümmerte, doch für deren "seltsame Freizeitbeschäftigungen" hatte sie leider keinerlei Verständnis.
Sie murrte noch irgendetwas vor sich hin, das Nani jedoch nicht verstand. "Also Niniel, solltest du tatsächlich einmal das Bedürfnis haben, Wasser aus der Regentonne zu verwenden um Tee zu machen – wo wir doch solch eine hervorragende Wasserleitung haben – dann musst du es doch vorher ohnehin abkochen, und ich bezweifle ernstlich, dass dich das dann noch vergiften würde."
Niniel, die inzwischen ins Zimmer getreten war, starrte sie grimmig an. "Ich habe einfach keine Lust, ständig an den unmöglichsten Plätzen deine komischen Äste vorzufinden!" – "Ständig! Das ist doch erst mein zweiter Versuch!"
"Eben! Und er wird fehlschlagen, ebenso wie der Erste! Wenn du dich schon fürs Bogenschießen interessierst, dann gib bei einem professionellen Bogenbauer einen solchen in Auftrag, dann hast du wenigstens Gewissheit, dass er auch schießt." "--Es geht mir doch nicht darum, einen Bogen zu besitzen, sondern darum, einen zu machen! Kannst du das denn nicht verstehen?"
"Nein. Und wenn du dann zum Fest willst, solltest du dich ein wenig beeilen." Niniel stolzierte buchstäblich aus dem Raum und Nani wandte sich seufzend wieder ihrem Kleiderschrank zu. Sie wird es nie verstehen, dachte sie traurig. War es denn so schlimm für Niniel, dass ihre Nichte, anstatt den ganzen Tag mit anderen Elben herumzusitzen, einfach gerne mal allein war und an ihrem "Bogen" herumbastelte?
Außerdem: Holz, das man biegen wollte, musste vorher nuneinmal gewässert werden, das wusste jedes Kind. Und sei es in einer Regentonne!
In einem hatte Niniel jedoch Recht: Sie sollte sich langsam beeilen, sollte sie vorhaben, noch rechtzeitig zum Fest zu kommen. Außerdem würde Amrûn bald hier sein.
Amrûn war eine der Ersten gewesen, die sich um Nani gekümmert hatten, als sie hier in einem vollkommen fremden Land versucht hatte, sich einzuleben. Sie war wie die meisten Waldelben blond, jedoch nicht übermäßig groß, hatte ausdruckslose, hellblaue Augen und war Nanis beste Freundin. Zumindest behauptete sie dies.
Eamané selbst war sich dessen nicht so sicher – was bedeutete das denn überhaupt: "beste Freundin"? Gab es denn überhaupt jemanden, der dieser Bezeichnung gerecht werden konnte? Oder war es viel mehr bloß eine Herabsetzung aller anderen Freundinnen, die damit weniger bedeutend gewertet wurden?
Der Empfang des Prinzen am Vormittag war übrigens genauso abgelaufen, wie Nani es sich vorgestellt hatte.
Legolas war erschöpft und übermüdet an der Hauptstraße vor dem Ort angekommen, kaum fünf Minuten, nachdem sich das halbe Dorf dort versammelt hatte, sitzend auf seinem mindestens ebenso fertigen Gaul, und schien die riesige Menge kaum wahrzunehmen. Nach einer kurzen und sehr gezwungen wirkenden Begrüßung hatte er sich schnellstmöglichst in den Palast zurückgezogen, um nicht von den Massen erdrückt zu werden. Alles in allem hatte sie kaum etwas von ihm zu sehen bekommen, außer, dass er blond war und auf einem weißen Pferd saß.
Wer weiß, vielleicht war er das ja wirklich – der edle Prinz auf weißem Ross...
Ein Klopfen an der Tür draußen riss sie jäh aus ihren Gedanken.
Noch ehe sie sich überhaupt herumdrehen konnte, um nachzusehen, wer gekommen war, hörte sie auch schon die Stimme ihrer Tante draußen auf dem Gang, als diese die Tür öffnete: "Ach, hallo Amrûn! Schön dich zu sehen. Komm ruhig rein, Eamané ist noch nicht ganz fertig. Sie ist in ihrem Zimmer." Die Freundin kam den Gang entlanggelaufen, doch Nani empfing sie bereits im Flur. Ihre Melancholie war mit einem Schlag wie weggeblasen.
"Hallo Amrûn! Los komm, du musst mir unbedingt helfen..."
Kaum eine Viertelstunde später kamen die beiden am Schloss an. Amrûn hatte sie dazu überredet, ein langes, fließendes hellblaues Kleid mit einem weiten, gerafften Kragen anzuziehen, weil das, wie sie ihr immer wieder aufs Neue bestätigte, "einfach vorzüglich" zu ihrer Haar- und Augenfarbe passte. Der Schlosshof war bereits völlig überfüllt, wie es schien, hatte sich hier das gesamte Dorf versammelt. "Kommt Niniel gar nicht zum Fest?", rief Amrûn, um den Lärmpegel überhaupt durchbrechen zu können. Nani schüttelte den Kopf. "Nein, sie hält nichts von derartigen Feierlichkeiten." Sie bedeutete Amrûn, ihr zu folgen und drängte sich dann nach vorne bis zu der Absperrung vor den Treppen, als bereits ein aufgeregtes Raunen durch die Menge ging.
Thranduil tauchte vor dem erhöhten Schlossportal auf und hielt eine kurze Rede, in welcher er die Taten seines Sohnes in den höchsten Tönen lobte, dann wurde Legolas wie ein seltenes Zootier den Elben vorgeführt. Zwar lächelte er stetig, doch war es nicht schwer zu erkennen, dass er sich nicht wohl fühlte in seiner Haut. Die begeisterten Untertanen scherte dies einen feuchten Dung, sie waren nun erst einmal glücklich, ihre Attraktion bewundern zu dürfen.
Eamané konnte nicht anders- sie empfand zusehends Mitleid mit dem Königssohn.
Legolas hatte sich inzwischen unter regem Schulterklopfen unter das Volk gemischt, und so hatte Nani endlich Zeit, sich in Ruhe umzusehen. Über den ganzen Platz verteilt waren kleine und größere Buffettische aufgebaut worden, an denen es umsonst kleine Canapés und verschiedene Getränke gab, etwas am Rande spielte jetzt Musik und dort hatten bereits die ersten Elben zu tanzen begonnen. Auf einmal zupfte Amrûn ihre Freundin am Ärmel und deutete in die dicht gedrängte Menge. "Sieh mal, dort vorne steht Nengwe!"
Ja, tatsächlich- er stand ganz in der Nähe und blickte sich ebenfalls aufmerksam auf dem Platz um. Nengwe war einer der raren männlichen Freunde Nanis, was jedoch daran liegen mochte, dass sie mit ihm verwandt war. Um genau zu sein hatten sie erst wenige Male miteinander gesprochen, sich aber von Anfang an gut verstanden; Nani wusste nur, dass er ein enger Vertrauter des Königs und ein guter Freund Legolas´ war. Er schien die beiden bereits entdeckt zu haben, denn mit einem Mal steuerte er direkt auf sie zu. "He Mädels! Und, wie findet ihr es?" "Hallo Nengwe! Danke, es ist ganz wundervoll!", antwortete Amrûn und warf ihm dabei aufreizende Blicke zu.
Schon seit geraumer Zeit war sie hinter dem hübschen Elben mit den felsgrauen Augen her. Nani schüttelte stumm den Kopf über ihre Freundin, ehe sie sich wieder Nengwe zuwandte. Die beiden gäben schon ein hübsches Paar ab! Zwei solche Chaoten...
"Wie ist es, soll ich euch Legolas einmal vorstellen?" schlug Nengwe vor und verschwand, ohne sich die Mühe zu machen, ihre Antwort abzuwarten, in der Menge. Nani zögerte noch einen Moment, bezweifelte sie doch ernsthaft, dass dies eine gute Idee war, folgte aber schließlich seufzend ihrer Freundin, die offensichtlich ganz begeistert war von der Vorstellung, den Prinzen einmal persönlich kennenzulernen.
Legolas inzwischen hatte sich erfolgreich abseilen können und genoss nun diesen kurzen Moment der Ruhe, ehe sicher bald der Nächste kommen, ihn für seine Leistungen loben und um seine Gunst buhlen würde.
Das ging nun bereits den ganzen Abend so, oder besser: die recht kurze Zeit über, die er sich hier befand. Es war überfüllt und übermäßig laut, und mit einem Mal wünschte er sich zurück in seine Gemächer, den für ihn nun ruhigsten und sichersten Platz dieser Welt, um weiterhin über seine Reise und seine Erlebnisse nachzudenken. Doch natürlich blieb er nicht lange ungestört, schon bald bemerkte er aus den Augenwinkeln, wie sich Nengwe in Begleitung zweier junger Damen näherte.
"Legolas, darf ich vorstellen: Das ist meine Kusine zweiten Grades, Eamané, und ihre Freundin, äh..." "Amrûn", warf diese rasch ein und schüttelte, erstaunt über seine Unkenntnis, ihren hübschen blonden Kopf. "Hallo." meinte Legolas schlicht, doch Nengwe schien damit schon ganz zufrieden, denn er grinste breit. Legolas sah ein, dass er sich aus dieser Situation wohl kaum mehr würde retten können, und unterzog die beiden Elbinnen daher nun einer etwas genaueren Musterung. Besonders Eamanés Erscheinung überraschte ihn milde, dunkelhaarige Waldelben traf man nicht häufig. "Ich...stamme ursprünglich nicht von hier, mein Vater war ein Elb Bruchtals." sagte Nani wie als Antwort auf seine ungestellte Frage. "Lest ihr meine Gedanken?" fragte der Prinz höflich aber würdevoll, während er, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen, an seinem Glas nippte. Inzwischen hatte Nengwe die ihn anschmachtende Amrûn ("Oh Nengwe, und DU hast das hier tatsächlich mitorganisiert?" - "Ja, so könnte man sagen. Allerdings nur in der Theorie, aufgebaut haben es Hîruins Leute.") an der Hand genommen und nickte Nani flüchtig zu, ehe er sie in Richtung Tanzfläche wegzog. Eamané blieb allein mit Legolas zurück.
"Nein", antwortete sie und ließ ihren Blick über die ausgelassene Menge schweifen, "ich bin lediglich eine gute Beobachterin." Legolas hatte sich gegen den Buffettisch hinter sich gelehnt, die Arme abweisend vor der Brust verschränkt, und starrte reglos auf den überfüllten Platz. Er murmelte etwas wie "Nicht zu eurem Nachteil, wie mir scheint", woraufhin ein längeres Schweigen eintrat.
Nicht kurz darauf aber erschien ein weiterer Elb bei den beiden, der vom Prinzen wie ein alter Freund begrüßt wurde, und der diesen nach einem kurzen Wortwechsel Kommentarlos von dannen schleifte.
Legolas drehte sich noch ein letztes Mal zu ihr um, und Nani glaubte fast, etwas wie ein winziges Lächeln auf seinem Gesicht gesehen zu haben, ehe er im Gewühl verschwand.
Verwirrt blieb sie alleine zurück.
Das Verhalten des Prinzen überraschte sie doch ein wenig, denn obwohl sie sich sehr gut seine Situation vorstellen konnte, war es doch seltsames Gefühl, einer so bedeutenden Persönlichkeit vorgestellt zu werden und dennoch zu sehen, dass sie sich so eigentümlich verhielt. Abwesend schüttelte sie den Kopf. Sie konnte sich keinen rechten Reim darauf machen. Schließlich riss sie ihren Blick endgültig von der Stelle los, an der Legolas gerade eben verschwunden war, und machte sich auf die Suche nach ihren Freunden.
Sicher hing Amrûn noch immer an Nengwe wie eine Ertrinkende, und vermutlich würde er an diesem Abend auch nicht mehr von ihr loskommen. Tatsächlich fand sie die Beiden recht bald, angesichts der Aussichtslosigkeit einer Suche nach zwei blonden Waldelben beinahe ein Wunder, und quälte sich milde lächelnd zu den Verliebten durch. Mit deren Gesellschaft konnte sie an diesem Abend wohl nicht mehr rechnen, und sie war sich nicht ganz sicher, ob sie das lustig oder einfach nur dämlich finden sollte, also mischte sie sich letzten Endes doch allein unter die Tanzenden, mit der festen Absicht, sich trotz allem noch ein wenig zu amüsieren.
***
Das Fest dauerte noch bis tief in die Nacht und hatte sich nach einiger Zeit über das gesamte Dorf hin ausgeweitet. Jeder, der ein wenig singen konnte oder ein Instrument beherrschte, spielte zum Tanz auf, und die Stimmung unter den Elben war selten so ausgelassen gewesen.
Jetzt war kaum mehr etwas los, die Mädchen waren längst nach Hause gegangen, und auch sonst hatte sich eine tiefe, friedvolle Stille über dem Palast ausgebreitet. Die Musik war auf Zimmerlautstärke abgesunken und gleichzeitig langsamer und ruhiger geworden, und die wenigen, die noch tanzten, taten dies langsam und eng umschlungen. An dem alten Gemäuer, das alles wie beschützend umringte, brannten Fackeln und auf den Tischen fast verbrauchte Kerzen.
An den Bänken am Rande saßen noch vereinzelt kleine Gruppen oder Paare von Elben, die sich leise unterhielten und lachten, und über all dem spannte sich der dunkelblaue, fast schwarze Nachthimmel.
Es war Neumond, und so leuchteten die Sterne besonders hell und klar.
Legolas saß allein auf einer Bank ganz in der Nähe des Buffettisches, an dem er schon am frühen Abend gestanden hatte, als Nengwe wieder auftauchte.
Mit einem tiefen, zufriedenen Seufzer ließ er sich neben seinen Freund auf die Bank sinken, der den Kopf inzwischen hinter sich auf den Tisch gelegt hatte und in den Himmel blickte. Nengwe sah beinahe abschätzend an ihm herab, über das helle, königliche Gewand, das ihm einfach nicht mehr so recht stehen mochte, sein langes, blondes Haar, das ihm sanft über die Schultern und hinten auf den Tisch fiel, und schließlich zu seinen klaren, azurblauen Augen, in denen sich das blasse Sternenlicht spiegelte.
"Du hattest Recht. Der Krieg HAT dich verändert." Auf dem Gesicht des Prinzen zeigte sich nicht die geringste Regung- es schien, als wäre es aus Stein gemeißelt. Zögernd fuhr Nengwe fort. "Das ist nicht mehr der Legolas, den ich kannte. Du warst so.... so offen. Aufgedreht und voller Ideen, immer für einen Spaß zu haben. Doch jetzt... Du solltest dich mal sehen!" er lachte leise, doch es klang nicht echt.
"Du sitzt da, schaust in die Sterne. Du bist unglücklich, Legolas. Und du hast Angst – was immer es auch sein mag, das dir Angst macht, das tut es. Ich weiß nicht. Vielleicht ist es das, was du erlebt hast, aber es verfolgt dich. Du bringst es mit, wohin du auch gehst. Ich sehe es."
Legolas hob leicht den Kopf und sah ihn an, und für einen Moment glaubte Nengwe, den Schmerz von Jahrhunderten in seinen Augen zu sehen – doch so rasch er gekommen war, verschwand er auch wieder. Der Prinz setzte sich ganz auf und stützte die Hände auf die Knie, ohne jedoch zu antworten oder sonst irgendeine Regung zu zeigen, dass er überhaupt zugehört hatte. Lange Minuten verstrichen, ehe Nengwe erneut das Wort ergriff, wobei er sich diesmal sichtlich bemühte, möglichst fröhlich und aufgeräumt zu klingen:
"Und, wie findest du sie?"
"Wen?"
"Eamané natürlich!"
Legolas tat, als müsse er erst darüber nachdenken, wer wohl gemeint sei. "Keine Ahnung, wen meinst du?" Nengwe warf seinem Freund einen leicht genervten Blick zu. "Och, komm schon. Meine Kusine! Ich hab sie dir doch vorgestellt!" – "Ich hab doch so viele Leute kennen gelernt, wie soll ich mich da an jeden erinnern? Möglich, dass ich sie gesehen hab..." murmelte dieser abwesend, doch es war nicht sonderlich überzeugend. "Die junge Elbin mit den dunklen Haaren und den großen hellbraunen Augen! Na? Tu doch nicht so, als würdest du dich nicht erinnern!" Erneut blickte Legolas ihn an, doch jetzt schien in seinem Blick ein wenig der alten Narretei wieder aufzuleuchten. "Oh, naja, ich glaube, sie ist ganz nett..." Nengwe grinste. Wer weiß, vielleicht war sein Freund doch noch nicht ganz verloren.
***
Zum nächsten Morgen hin zogen Wolken auf, und bis die Elben ihren Tag begannen, goß es wie aus Eimern.
Nani saß auf dem Fußboden in der Mitte ihres Zimmers und schnitzte an ihrem Bogen. Die Reste der Rindenschicht hatten sich, während der Ast im Wasser gelegen hatte, dunkel verfärbt, und waren nun leicht mit dem Messer abzuschälen.
Von draußen drang das Rauschen des Regens herein, wahre Sturzbäche ergossen sich über die dunstigen Fenstergläser, doch Eamané kümmerte sich nur hinlänglich um das Geschehen. Bereits zum wiederholten Male dieser Wochen war sie bereits mit dem ersten Morgengrauen auf den Beinen gewesen, hatte einen kleineren Rundgang durch das Dorf gemacht, und war, vom Regen überrascht, klitschnass wider nach Hause gekommen.
Natürlich war es nichts ungewöhnliches für einen Elben, schon gar nicht für einen Dorfbewohner, früh aufzustehen, nicht zuletzt, da die Erstgeborenen sich mit der geringsten Ruhe genügten, doch Nani war nun mal eine Langschläferin, und erst der Rhythmus des Dorflebens hier im Düsterwald hatte sie dazu gebracht, mehr als eine ihrer alten Marotten aufzugeben.
Immer wieder kreisten ihre Gedanken an diesem Morgen um den Festabend, um alles, was geschehen war und nicht zuletzt das merkwürdige Verhalten eines gewissen blonden Düsterwaldprinzen... Was ging wohl in ihm vor? Wer war er wirklich, und was bewegte ihn, zu sein, wie er war?
Nani wurde oft von solchen Überlegungen beschäftigt, überhaupt war es ihr schon immer sehr wichtig gewesen, andere kennenzulernen, sich in ihre Lage hineinzuversetzen und darüber nachzudenken, wie sie selbst in dieser Situation reagieren würde. Und tatsächlich hatte sie dies zu einer aufmerksamen Beobachterin gemacht, die ihre Umgebung sorgfältig wahrnahm und gut mit anderen Elben zurechtkam.
Ein Talent jedoch, das nicht immer sofort hervorstach, denn Nani hatte von Natur aus wenig Geduld und neigte gerne dazu, unüberlegt zu handeln. Sie schluckte schwer. Obgleich sie sich nur so kurz in seiner Gesellschaft befunden hatte, so hatte Legolas sie doch tief beeindruckt. Irgendetwas faszinierte sie an ihm, zog sie an wie ein Magnet, und stieß sie doch auf eine gewisse Weise ab, wie ein unsichtbarer Schutzwall, den er um sich gezogen hatte, und den nichts zu durchbrechen vermochte. Nun, vielleicht würde sich irgendwann doch noch die Gelegenheit bieten, besser mit ihm bekannt zu werden. Eine weitere unbegründete Überlegung, die ihr durch den Kopf ging. Warum sollte sich jemand wie er ein Weiteres mit einer solch gewöhnlichen Dorfelbin abgeben?
Sie war nichts weiter als eine flüchtige Begegnung, ein einziger Blick in eine Richtung, die seine azurblauen Augen wohl niemals wieder finden würden – vermutlich erinnerte er sich noch nicht einmal mehr an ihren Namen.
Wie so häufig in letzter Zeit betrat Niniel mit einem besorgten Gesichtsausdruck den Raum. Eamané fluchte leise, als sie mit der Klinge auf dem nassen Eibenholz abrutschte und sich leicht in den Finger schnitt. Sie hatte die Hand schon beinahe am Mund, als ihr einfiel, dass das Eibenholz vielleicht nicht sonderlich gesund war. Jetzt erst recht fluchend, eine weitere Angewohnheit, die sie wohl nie zu einer gestandenen Edeldame machen würde, warf sie Messer und Ast zur Seite, und ging dann hinüber zu ihrer Waschschüssel, um die Wunde mit dem klaren Wasser auszuwaschen.
"Wozu machst du dir eigentlich die ganze Arbeit?" fragte Niniel verständnislos. Nani überlegte einen Moment, ohne sich von der Wanne abzuwenden.
"Um mich zu beschäftigen, denke ich."
Sie drehte sich zur Tür, ließ sich dann jedoch auf die Kante ihres Bettes sinken und blickte ihre Tante an, ihre Augen erfüllt von einem traurigen Glanz.
"Ich langweile mich, Niniel! Du siehst ja selbst, ich habe nichts zu tun, keine Aufgabe! Natürlich habe ich so manche Dinge, die mir Freude bereiten, aber das kann doch nicht alles sein. Ich kann doch nicht mein ganzes Leben damit verbringen, durch den Wald zu laufen oder an meinem Bogen zu basteln!" Niedergeschlagen ließ sie den Kopf sinken. Niniel seufzte, dann schritt sie auf ihre Nichte zu, setzte sich neben sie auf das Bett und legte ihr mitfühlend einen Arm um die Schultern.
"Tja, das ist in der Tat ein Problem. Und wenn ich mich nicht irre, kein unbedeutendes noch dazu." Entgegen ihrer Worte lächelte sie ermutigend und Nani lehnte sich unglücklich an ihre Schulter. Warum nur hatte sie das Gefühl, als würde sie mehr bedrücken, als die Langeweile? Etwas, das sie nicht in Worte fassen konnte, etwas, das ihr eine nicht begründbare, sinnlos scheinende Traurigkeit auferlegte? "Aber du hast natürlich vollkommen recht," fuhr Niniel nach einer kurzen Pause fort, "hier herumzusitzen kann und darf auf Dauer nicht dein gesamter Lebensinhalt sein. Was hieltest du eigentlich davon, wenn du dir eine Arbeit im Palast suchen würdest? Es gibt genug Beschäftigungen dort für dich, sie können ja nie genug fleißige, junge Elben finden! Nengwe arbeitet im Schloss, er kann dir sicher helfen, und vielleicht ein bisschen den Vermittler spielen. Was meinst du? Sich ein wenig umzuschauen kann nichts schaden, und wenn sie dich nicht brauchen können, werden sie es dich wissen lassen."
Eine gute Idee eigentlich, dachte Nani bei sich und legte unschlüssig den Kopf schief. Natürlich, Nengwe würde ihr sicher helfen können und viel falsch machen konnte sie kaum. Ein Lächeln umspielte ihre Züge, und ehe sie es sich versah, war sie, durch die Worte Niniels ermutigt, aufgestanden.
"Ja, vielleicht ist das wirklich keine schlechte Idee!"
Und so kam es, dass Eamané sich kaum eine Stunde später auf den Weg hoch zum Schloss machte. Der strömende Regen raubte ihr fast jegliche Sicht, sie lief rasch und hintenherum, durch den nassen Wald nach Norden an den Hauptgebäuden vorbei, und dann über einen kleineren Seiteneingang auf den weitläufigen Schlosshof , wo am Abend zuvor noch das Willkommensfest stattgefunden hatte, doch trotzdem war sie, bis sie dort ankam, nass bis auf die Knochen, ihre Kleidung völlig durchweicht, und das lange, durch das Wasser beinahe schwarz wirkende Haar hing ihr in feuchten Strähnen ins Gesicht.
Sie fand Nengwe recht bald, da sie zufällig wusste, dass er sich am späten Vormittag häufig in der Nähe der Stallungen aufhielt, die auch einen außenliegenden Flachbau mit einschloss, in dem es eine Art Gaststätte mit Unterkunft für Händler und Reisende gab. Nanis Vetter saß wie so oft dort drinnen an der Theke, allein, und nippte gedankenversunken an seinem Drink.
Die im Vergleich zu den Kneipen und Spelunken der Menschen recht hell und freundlich wirkende Stube war wegen des plötzlichen Regengusses ziemlich überfüllt, vor allem von Elben aus dem Dorf, die es aus verschiedensten Gründen schon früh in den Palast verschlagen hatte. Die Luft war warm und feucht, doch noch nicht unangenehm und die Flucht aus dem Regen schien sie zu locken wie ein Kind mit Süßigkeiten. Nani fasste sich ein Herz und trat mit einem letzten, kurzen Durchatmen ins Trockene.
"Hallo Nengwe!" rief sie fröhlich, ehe sie zur Bar hin auf ihn zukam. Eamané setzte sich neben ihn auf einen Barhocker, nahm ihm sein Glas aus der Hand und nippte ebenfalls daran- prustete jedoch sofort wieder alles aus.
"Igitt! Das ist ja widerlich!"
Nengwe, der es bisher noch nicht dazu gebracht hatte, sie ebenfalls zu grüßen, grinste. "Ahornsirup mit Pfefferminze." Sie schüttelte sich demonstrativ und schob ihm das Glas rüber. "Ekelhaft. Ähm, Nengwe- ich habe eine ganz große Bitte an dich." "Na, dann schieß mal los." "Weißt du, ich möchte arbeiten. Hier auf dem Schloss, ich dachte, vielleicht..." "Soso. Arbeiten möchtest du, ja? Und da dachtest du, ich könnte dir ein wenig behilflich sein." Nani nickte.
Nengwe zog die Stirn in Falten und schien nachzudenken. Er legte den Kopf ein wenig schief, spielte mit dem Glas in seiner Hand und beobachtete belustigt, wie Nani langsam ungeduldig wurde. "Nun sag schon, kannst du mir helfen oder nicht?" fragte sie schließlich. Nengwe grinste, nahm noch einen schluck von seinem Sirup und stellte das leere Glas auf die Theke. "Also schön, dann komm mal mit. Ich werde sehen, was ich machen kann." Er stand nachdrücklich auf und verließ das Gebäude, doch Nani folgte ihm nur zögernd.
"Wo wollen wir denn hin?"
Als sie wieder draußen auf dem Hof standen, meinte Nengwe: "Ich bringe dich zu Hîruin. Er überwacht die Arbeiten hier am Hof, und ist auch für alles verantwortlich, was an Arbeitsanfragen und ähnlichem hier eingeht. Wer weiß, vielleicht hat er ja etwas für dich. Da lang." Er führte sie in eines der Hauptgebäude hinein, mehrere Gänge entlang und schließlich in eine beleuchtete, glasüberdachte Aula mit einem Springbrunnen.
"Wo sind wir hier?" fragte Eamané erstaunt. "Das hier sind die Gebäude, in denen der König lebt. Dort hinten-" er wies mit der Hand nach rechts in einen hellen, reichlich geschmückten Gang, viel breiter als die meisten anderen hier- "geht es zum Thronsaal. Aber wir müssen nach links, da ist sozusagen die 'Verwaltungsetage'. Hör zu. Hîruin ist streng, aber gerecht. Es mag so scheinen, als sei mit ihm nicht gut Kirschen essen, und das stimmt wohl auch. Aber solange du das tust, was er von dir erwartet, hast du nichts zu befürchten."
Hîruin war selbst für einen Elben ungewöhnlich groß und kräftig, sein Blick einschüchternd und es war offensichtlich, dass er es gewöhnt war, Befehle zu erteilen. Als Nani und Nengwe den Vorhof, in dem geschäftiges Treiben herrschte, betraten, war er gerade dabei, einen jüngeren, blonden Elben anzukeifen, der wohl irgendetwas falsch gemacht hatte. Das auffälligste an Hîruins Erscheinung jedoch war, dass er sein dunkles, beinahe schwarzes Haar nicht wie die anderen Elben offen trug, sondern hinten am Kopf streng zusammengebunden hatte, was ihn auf eine gewisse Weise noch bedrohlicher wirken ließ. "Guten Tag, Hîruin." meinte Nengwe höflich, woraufhin dieser sich den beiden mit sichtlichem Widerwillen zuwandte.
"Ja, was gibt´s?"
"Ähem, das hier", er deutete auf Nani, "ist meine Kusine Eamané – sie sucht eine Arbeit hier im Schloss." "Die junge Dame möchte also arbeiten, soso.", bemerkte er, ganz ähnlich dem, was auch Nengwe zuvor festgestellt hatte und musterte sie dann von Kopf bis Fuß. "Was kannst du denn?"
"Nichts – soweit ich weiß. Mir war nur langweilig, also habe ich mir gedacht..."
"Du redest zu viel. Nicht gut zum Arbeiten. Was hast du dir denn vorgestellt?" "Ich kann recht gut mit Pferden umgehen.", murmelte Nani, nun sichtlich eingeschüchtert. Nahm sie hier denn keiner für Ernst?
Auf seinem Gesicht zeigte sich ein spöttisches Lächeln. "Tja, meine Liebe, nur leider ist das hier kein Wunschkonzert. So ohne jegliche Qualifikationen kannst du nicht in die hohe Arbeit einsteigen. Aber lass mich überlegen."
Er wandte sich zu einem der hohen Fenster und blickte hinaus. "Der erste Regen seit langem, aber auch dementsprechend heftig. Dem Wald wird es gut tun... Nun, ich bräuchte eine Botin. Denkst du, du könntest das schaffen?"
"Was... muss ich denn tun?"
"Alles was du brauchst, ist Ausdauer und ein bisschen Orientierungssinn. Ich kann nicht überall zugleich sein, und könnte daher ein wenig Unterstützung recht gut gebrauchen."
Nani blickte hilfesuchend zu Nengwe, doch der nickte ermutigend. "Also gut. Wann soll ich anfangen?" "Du kannst gleich dableiben."
Wieder huschte ihr Blick zu Nengwe, der ihr die Hand auf die Schulter legte und ihr ein kleines Lächeln schenkte. "Mach dir nicht allzuviele Sorgen und denk daran, was ich dir gesagt habe." sagte er leise, dann entfernte er sich ein paar Schritte, blieb stehen, und wandte sich erneut zu ihr um. Mit einem aufmunternden "Halt die Löffel steif!" verschwand er schließlich um die nächste Ecke und ließ Nani allein zurück.
***
"Prinz Legolas, der König wünscht euch zu sehen." "Richtet ihm aus, dass ich mich sofort auf den Weg mache." Der Bote nickte geschäftig und machte sich eilends wieder auf den Weg.
Legolas hatte den Vormittag dazu genutzt, um einen kleinen Spaziergang durch das Schloss zu machen. Es hatte sich einiges verändert in den Jahren seiner Abwesenheit, und doch war ihm noch immer alles so vertraut, als sei es erst gestern gewesen, dass er nach Bruchtal aufgebrochen war. Es war niemals auch nur im Entferntesten geplant gewesen, dass er sich nach Mordor aufmachen und den Ring der Macht zerstören sollte. Er hatte lediglich die Nachricht von Gollums Flucht überbringen wollen, an der Ratssitzung im Hause Elronds teilnehmen, und dann schleunigst in den Düsterwald zurückkehren – doch einmal mehr hatte das Schicksal ihm einen Streich gespielt.
Frodo war noch Mordor aufgebrochen und Legolas hatte sich ohne zu zögern dazu bereit erklärt, ihn und seinen langjährigen Freund Aragorn, sowie sechs Weitere zu begleiten.
Ein langer und harter Weg lag vor ihnen, und wenn man es ihm auch nicht gleich ansehen mochte, so hatten ihm die Wirren und die Düsternis des Krieges doch zugesetzt.
Nun aber, fernab von alledem, spazierte er gemächlich durch die Aranmarda, die Halle der Könige. Dann durchquerte er den großen Hauptgang und betrat durch eine schwere Eichenholztür den Thronsaal. Alles hier wirkte alt und sehr edel, das hohe Deckengewölbe war reich verziert mit Gold und Marmor, und als Zentrum all dessen stand in der Mitte des Saals ein Thron, uralt und doch von einer ungeheuren Kraft und Reinheit, geschnitzt aus einem einzigen Holzblock und von der Farbe schimmernden Elfenbeins. Reich verziert und doch irgendwie einfach, nur das Holz ohne jegliches Gold oder andere Kostbarkeiten. Leer.
Thranduil saß allein an der langen Tafel am Rande des Saals und schien in seine Gedanken versunken. Als er Legolas bemerkte, erhob er sich und wies ihm den Stuhl zu, auf dem er gerade noch selbst gesessen hatte, ganz so, als hätte dies irgendeine Symbolik.
"Sei gegrüßt, mein Sohn. Setz dich doch bitte."
"Guten Tag, Vater."
Etwas missmutig setzte er sich an den Tisch.
"Wie war deine Reise?"
"Lang. Und außerdem solltest du deinem Personal abgewöhnen, mich mit "Prinz" oder "Eure Lordschaft" anzusprechen, das geht mir auf die Nerven. Du weißt, ich mag diesen ganzen Prunk nicht." – "Warum nur habe ich geahnt, dass du so etwas bald sagen würdest?" Sein Vater seufzte, fuhr dann jedoch ohne einen weiteren Kommentar dazu fort: "Man hat inzwischen viel gehört, was denn so geschehen und was dir widerfahren ist, doch würde ich es gerne von dir selbst hören." Er nickte auffordernd und lehnte sich in einer erwartenden Haltung an einen zweiten Stuhl direkt neben ihm.
Und Legolas erzählte. Er beschwerte sich nicht und gab sich auch nicht mehr wortkarg, sondern schilderte alles bis ins kleinste Detail – von seiner Reise nach Bruchtal, über die großen Schlachten, bis hin zur Zerstörung des Ringes und dem Wiedersehen der Gefährten, ebenso wie seine Erlebnisse danach, bei denen Thranduil zwar des Öfteren den hoheitlichen Kopf schüttelte, ihn jedoch nicht unterbrach.
"Und jetzt bin ich also wieder hier." schloss er nach beinahe zwei Stunden.
Sein Vater nickte bedächtig. "Wie ich sehe, hast du tatsächlich viel durchgemacht. Doch ich glaube auch, dass sich dies nicht alles nur negativ ausgewirkt haben könnte... Nun, vielleicht ist es kein besonders günstiger Augenblick, dich damit zu überfallen", er zögerte lange, doch seine Überzeugung schien letztendlich zu siegen. "Ich... spiele nun schon geraume Zeit mit dem Gedanken, aber langsam wird es mir immer ernster. Ich denke, es wird für mich langsam aber sicher Zeit, mein Amt niederzulegen und nach Valinor zu segeln."
Legolas starrte ihn entgeistert an. "Du willst was?"
"Ja, Legolas. So wenig dir das auch gefallen mag – du bist mein einziger Sohn und damit Thronerbe Düsterwalds. Lass dir Zeit – noch eilt nichts! Aber du solltest beizeiten anfangen, dich mit diesem Gedanken vertraut zu machen." Der König seufzte tief und begann, vor der Tafel einige Schritte auf und ab zu gehen. Er fühlte sich in die Enge getrieben, und etwas an seinem Sohn veranlasste ihn dazu, seine eigenen Ansichten in Frage zu stellen. War es wirklich vonnöten gewesen, ihn damit jetzt schon zu quälen? Doch es half nichts, einmal heraus, konnte er es nicht zurücknehmen, nur relativieren, und er wollte Legolas auch nicht in falscher Sicherheit wägen. Obwohl ihm dieses Thema durchaus ernst war, kam ihm für einen Augenblick lang die Vorstellung, wie er ein Papphütchen hervorzog und seinem Sohn ein fröhliches 'Alles nur'n Scherz, höhö!' entgegen schmetterte, sodass er sich nur mit Mühe ein Lachen verbeißen konnte. Schade bloß, dass er sich so etwas nicht von Zeit zu Zeit einmal erlauben konnte...
Legolas hingegen hatte allen Anscheins nach immer noch nicht ganz verstanden, was eigentlich los war. Langsam löste er sich aus seiner Erstarrung, erhob sich langsam und schritt so würdevoll, wie es ihm gelang, zu einem der Fenster dicht neben ihnen. "Du willst also, dass ich König werde, habe ich das richtig verstanden?"
Thranduil bemerkte, wie sehr er ihn damit geschockt haben musste, und meinte deshalb noch einmal: "Das hat Zeit. Ich wollte dich eigentlich lediglich darauf hingewiesen haben. Du bist wieder zuhause! Und das bedeutet, dass du noch einmal von vorne beginnen kannst. Wage einen neuen Anfang!"
"Und was, wenn ich das gar nicht will?" fragte Legolas tonlos, ohne sich dabei vom Fenster abzuwenden.
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Soweit zum ersten Kapitel... Was meint ihr bisher? Freue mich natürlich schon wie ein Streifenhörnchen auf eure Reviews :)
