Riptide

„Die Definition von Wahnsinn"

Erster Teil

„Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und

andere Ergebnisse zu erwarten."

Albert Einstein

King Harbor, Kalifornien, Anfang September 1987


„Hey, Nick?" sagte Murray, als er hörte, dass jemand die Treppe zum Salon der Riptide herabstieg. „Bist du das?" Er sah auf den ersten Blick, dass etwas nicht stimmte, als Nick den Salon betrat. Er bewegte sich linkisch.

„Ja, Boz", antwortete Nick.

„Was ist los mit dir?" fragte Murray. „Ist etwas passiert?" Dann sah er das ganze Blut am rechten Arm seines Freundes und erhob sich. „Du bist verletzt..." Er trat auf Nick zu, der etwas zurückwich.

„Ist nur ein Kratzer", erklärte Nick. „Ich bin etwas unglücklich abgerutscht..."

Murray berührte vorsichtig Nicks Unterarm und betrachtete die fast 30 cm lange Risswunde.

„Das muss genäht werden", sagte Murray fest, aber Nick schüttelte den Kopf.

„Es hat nur heftig geblutet, ist aber nicht tief", widersprach er. „Ich habe es zuerst kaum gemerkt."

Murray sah auf. Er wusste, dass Nick Krankenhäuser hasste, aber wer tut das nicht? Er seufzte.

„Setz dich", sagte er. „Zumindest müssen wir die Wunde versorgen."

Nick ließ sich auf die Sitzbank dem Tisch gegenüber fallen und Murray ging, um ihren Erste-Hilfe-Kasten zu holen. Wieder zurück im Salon setzte er sich neben Nick auf die Bank und begann, vorsichtig die Wunde zu säubern. Die Blutung hatte tatsächlich bereits aufgehört, wie Nick gesagt hatte.

„Ziemlich verschmutzt", sagte Murray. „Hoffentlich infiziert sich das nicht."

Nick antwortete nicht. Er sah müde aus.

„Wie ist das passiert?" fragte Murray.

„Die Ölleitung in der Mimi hatte ein Leck", sagte Nick knapp und bot keine weitere Erklärung an. Selbst als Murray die Wunde desinfizierte, zuckte Nick kaum zusammen. Murray sah seinen Freund an, als er schließlich die Bandage anlegte. Nick sah woanders hin und seufzte leise.

„So", sagte Murray und ließ die Hände sinken. „Der Verband sitzt nicht zu fest, oder?"

Nick schüttelte den Kopf und sah Murray an.

„Danke, Boz", sagte er und klopfte Murray auf die Schulter, als er aufstand.

„Leg dich hin", sagte Murray, ehrlich besorgt. „Du siehst erschöpft aus."

Sein Freund nickte müde und ging die Treppe zur Heckkabine hinab.


Cody kam erst ein paar Stunden später von einem Date und war in aufgeräumter Stimmung. Es war schon nach Mitternacht und zu seinem Erstaunen fand er Murray im Salon vor, der am Tisch saß, in einem Magazin blätterte und offensichtlich auf ihn wartete. Cody nahm die angespannte Stimmung seines Freundes sofort wahr.

„Was ist los?" fragte Cody, sofort in Alarmbereitschaft. „Ist was passiert? Ist was mit Nick?"

„Nicht schlimm", sagte Murray besänftigend. „Er hat sich bei einer Reparatur an der Mimi verletzt." Murray zeigte auf seinen eigenen Arm, um anzudeuten, wo die Verletzung saß.

„Ein hässlicher Riss, ziemlich lang."

Cody starrte Murray an.

„War er beim Arzt damit?"

Murray schüttelte den Kopf.

Cody nickte.

„Natürlich nicht", sagte er. „Sturer Hund..."

„Ich habe die Wunde verbunden, aber vielleicht sollten wir ihn morgen besser doch zum Arzt damit schicken", sagte Murray. „Es ist viel Öl hineingeraten und obwohl Nick sagte, die Wunde hätte sehr geblutet, kann es sein, dass Rückstände in ihr verblieben sind..."

Cody nickte.

„Schläft er?" fragte er.

„Ja", sagte Murray. „Jedenfalls hat er das, als ich vor einer halben Stunde nach ihm gesehen habe."


Cody betrat die Kabine so leise, wie es ihm möglich war. Nick schlief, in seine Decke gewickelt und Cody konnte nicht einmal den Verband sehen. Einen Moment lang blieb er neben dem Bett seines Freundes stehen, aber Nick zeigte keine Anzeichen von Unruhe oder Schmerzen, also ließ Cody ihn in Ruhe. Er ging in sein eigenes Bett und löschte das Licht, aber er konnte lange nicht einschlafen.

Sie erwachten von einem lauten Knall. Cody fuhr in seinem Bett hoch, machte mit zitternden Fingern Licht und sah dann zu Nick herüber, der ebenfalls wach geworden war.

„Was war das?" fragte Nick.

„Weiß nicht", sagte Cody. Er warf einen Blick auf die Uhr: 2:44. Draußen war es noch stockdunkel. Cody schwang die Beine aus dem Bett und griff nach seiner Hose. Nick rappelte sich ebenfalls auf und Cody erhaschte einen Blick auf den vom Handgelenk bis zum Ellbogen bandagierten Unterarm. Er erstarrte kurz, aber Nick war schon in seiner Kleidung und wandte sich zur Treppe.

„Kommst du?" fragte er und hastete die Treppe hinauf. Oben im Salon trafen sie auf Murray im Bademantel.

„Was ist los, Jungs?" fragte er. „Was war das?"

„Keine Ahnung, Boz", sagte Nick. Er entriegelte die Tür und trat auf das Vordeck, gefolgt von Cody. Sie kletterten auf das Oberdeck vor dem Ruderhaus, um bessere Sicht zu haben.

Cody sah sich die Riptide an, aber alles sah normal aus. Nick stieß ihn an und zeigte Richtung Norden.

„Dort", sagte er und kletterte vom Oberdeck, über die Reling und sprang auf die Pier. Cody sah, was sein Partner gesehen hatte: Eine paar Anlegestellen weiter brannte ein Boot. Cody wandte sich um und prallte fast auf Murray.

„Boz, ruf die Feuerwehr", rief er und lief dann Nick hinterher.

Es handelte sich um eine Zehnmeteryacht namens Calamity, die am Steg vor sich hin dümpelte, als wäre nichts. Die Aufbauten brannten jedoch lichterloh. Cody hatte seinen Freund am Steg eingeholt. Nick blieb vor der Yacht stehen und sah sich verzweifelt nach einem Behältnis um.

„Einen Eimer", sagte er schwer atmend. „Verdammt, irgendein Behältnis..."

„Vergiss es", rief Cody. „Die kriegen wir nicht mehr gelöscht."

„Was ist?" fragte jemand vom Boot gegenüber. Ein Mann steckte den Kopf aus dem Fenster eines Bootes. Dann sah er die Flammen. „Scheiße...!"

„Ihren Feuerlöscher", sagte Nick. „Schnell!"

Der Mann verschwand und kletterte kurz darauf mit zwei Feuerlöschern auf den Steg. Cody riss ihm einen davon aus der Hand und begann, die Flammen zu löschen, die ihm am nächsten waren.

„Ist noch jemand auf dem Boot?" rief Nick dem Mann zu.

„Weiß ich nicht", sagte der verzweifelt. „Kann sein..."

„Murray holt die Feuerwehr", rief Cody. Der erste Feuerlöscher war leer und die Flammen hatten kaum nachgelassen.

„Das ist zu spät", sagte Nick und machte Anstalten, auf das Boot zu klettern. Cody riss seinen Freund am rechten Arm zurück. Nick machte einen erstickten Laut.

„Was tust du denn da", rief Cody wütend. „Das ist Selbstmord, Nick! Wir wissen nicht mal, ob da jemand auf dem Boot ist!"

Nick machte sich los.

„Ich sehe nach", sagte er. Er sprang an Bord, bevor Cody ihn noch zurückhalten konnte. In der Ferne hörte man Sirenen. Ein paar Anwohner versammelten sich, einige brachten Feuerlöscher. Vom Unterdeck der Calamity hörte man eine Stimme. Nicht Nicks.

Cody trat gerade mit dem rechten Fuß auf die Reling, um seinem Freund hinterher zu klettern, als ihn jemand an der Schulter festhielt. Cody drehte sich um. Hinter ihm stand Murray.

„Cody!" sagte er. „Nicht!"

„Nick ist dort drauf", sagte Cody. „Ich muss ihm helfen."

Cody sprang an Bord. Die Aufbauten brannten auf der einen Seite kräftig, auf der dem Steg abgewandten Seite noch gar nicht. Die Tür stand offen, der Hauptraum stand zur Hälfte in Flammen, aber das Feuer verbreitete sich schnell. Es qualmte. Plötzlich stand Nick vor ihm.

„Hilf mir", sagte er und Cody sah, dass Nick einen Mann aus dem Raum hievte. Gemeinsam brachten sie ihn nach draußen auf das Vordeck, aber in diesem Moment brachen die Aufbauten zusammen und Funken sprühten. Cody und Nick warfen den halb bewusstlosen Mann über Bord und sprangen hinterher. Die Calamity brannte jetzt lichterloh.

Cody schwamm zu dem Mann und nahm ihn in den Rettungsgriff, dann brachte er ihn zum Steg hinüber, wo andere Bootseigner ihm den Mann abnahmen und auf den Steg zerrten. Feuerwehrmänner rannten den Steg entlang. Einer zog einen C-Schlauch hinter sich her und sie begannen, die Yacht zu löschen. Cody trat Wasser und sah sich nach Nick um. Erst entdeckte er ihn nicht, dann sah er ihn in dem dunklen Wasser am anderen Ende des Stegs. Cody schwamm ihm hinterher. Nick erklomm die Leiter am Ende des Stegs, kletterte hinauf und ließ sich oben angekommen erschöpft auf die Holzbohlen sinken. Cody kletterte hinterher und kniete neben seinem Freund nieder. Er legte eine Hand auf Nicks Schulter.

„Nick?" fragte er. „Bist du okay?"

Sein Freund atmete schwer, antwortete aber nicht.

„Nick!" insistierte Cody. Murray erschien plötzlich an seiner Seite und kniete sich neben ihn.

„Seid ihr in Ordnung?" fragte er besorgt.

„Hol einen Sanitäter, Boz", bat Cody.

„Nein", erwiderte Nick und stemmte sich auf die Seite. „Ich bin okay." Er hustete. Cody legte ihm eine Hand auf die Brust.

„Bleib liegen", sagte er. „Wenigstens für einen Moment."

Dass Nick ihm widerspruchslos gehorchte, machte Cody etwas Angst.


Am nächsten Morgen begann das Leben auf der Pier 56 etwas später als sonst, denn Feuerwehr und Polizei waren erst abgerückt, als es schon hell wurde.

Cody stand vor dem Flatterband, das den Teil des Stegs abtrennte, an dem die ausgebrannten Reste der Calamity noch lagen. Bei Tageslicht betrachtet sah der Tatort furchtbar aus und Cody konnte es kaum glauben, dass sich an Bord ein Mensch befunden hatte und den Flammen entkommen konnte.

Nur, weil Nick so stur war.

Cody seufzte. Nick hatte ohne nachzudenken sein Leben riskiert. Ein paar bange Minuten, nachdem Nick sich mit letzter Kraft aus dem Wasser gezogen hatte, hatten Cody und Murray befürchtet, dass ihr Freund einen Kreislaufkollaps erleiden würde und schließlich doch einen Sanitäter geholt. Er hatte eine Notfalldecke aus der Tasche gezogen und Erstmaßnahmen gegen Schock eingeleitet und musste dann zurück zu dem Brandopfer. Zwanzig Minuten lang hatten Cody und Murray neben ihrem Freund gekniet, dann endlich ging es Nick besser. Der Sanitäter hatte später noch einmal nach Nick gesehen.

„Es wäre besser, Sie kämen ins Krankenhaus", hatte er gesagt. „Sie sollten unter Beobachtung bleiben."

„Es geht mir gut", hatte Nick erwidert.

Der Sanitäter hatte genickt.

„Wie Sie meinen", hatte er gesagt.

Cody wandte sich von dem Wrack ab und ging langsam zurück zur Riptide. Im Laufe des Tages würde die Polizei das Wrack abschleppen lassen, um die Brandursache untersuchen zu können. Cody fröstelte. Es lag Nebel über dem Hafen und brachte höchstens zehn Grad mit sich. Das Wasser im Hafenbecken war kalt gewesen gestern Nacht. Kein Wunder, dass Nick fast einen Schock erlitten hatte.

Cody kletterte an Bord seines Bootes. Im Salon saß Murray, der aufstand, um Cody einen Becher Kaffee zu holen.

„Irgendein Lebenszeichen von Nick?" fragte Cody.

Murray schüttelte den Kopf.

„Er schläft noch", sagte er. „Es wird auch besser sein, wir lassen ihn schlafen."

„Auf jeden Fall", sagte Cody und setzte sich. Er seufzte und stützte den Kopf in die Hände.

„Mein Gott, Murray", sagte er. „Das war knapp."

Murray nickte.

„Aber ohne Nick wäre der Mann vermutlich tot", sagte er.

„Ja", sagte Cody und schauderte. „Weiß man schon was über die Brandursache?"

„Nein", sagte Murray. „Ich habe eben bei der Polizei angerufen, aber dort konnte – oder wollte - man mir noch keine Auskunft geben. Vielleicht versuchen wir es später noch einmal."

„Hm", machte Cody. „Ich will ja nicht kaltherzig erscheinen, aber vielleicht können wir der Versicherung unsere Hilfe anbieten. Da könnte ein Fall für uns drin sein."

Murray nickte.

„Ich setze mich mal an den Computer", sagte er. „Mal sehen, was ich über das Boot und seine Versicherung herausfinde." Er blieb jedoch sitzen und starrte vor sich hin.

„Was ist?" fragte Cody.

Murray zuckte mit den Schultern.

„Murray", sagte Cody.

Sein Freund sah langsam auf.

„Mach dir keine Sorgen um Nick", sagte Cody. „Er kommt schon wieder auf die Beine."

Murray nickte. Er wusste, dass Cody sie beide beruhigen wollte.

TBC