Da saßen sie nun also. Alleine – nein, zusammen – auf dem kalten Boden der Krankenstation. Seit einiger Zeit war peinliches Schweigen ausgebrochen. Keiner von beiden wusste, was er tun, geschweige denn sagen sollte. Sie konnte hören, wie er atmete, als er sich in eine etwas andere Position setzte. Konnte spüren, wie seine Schulter an ihrer vorbeistreifte. In diesem Moment spürte sie etwas, was sie zuerst nicht zuordnen konnte. Waren es Gefühle? Gefühle für ihn? Sie wirkte unsicher, fuhr mit ihrer Hand über den Bauch, der sich zusammenzog. Nein, nicht zusammenzog, er kribbelte.
Sie hob ihr Gesicht ein kleines Stück, drehte ihn in seine Richtung. Und blickte direkt in seine Augen. Anscheinend hatte er in diesem Moment genau die gleiche Idee gehabt. Nun starrten sie also einander an, noch immer nicht wirklich wissend, was sie nun tun sollten.
Und dann, nach ein paar weiteren Sekunden, fand sie sich in einem Kuss mit ihm wieder. Einem leidenschaftlichen Kuss. Einem plötzlichen Kuss. Nein, dass konnte doch nicht wahr sein, versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen, aber umso intensiver der Kuss wurde, umso mehr verschwammen ihre Gedanken, bis sie nur noch daran dachte, den Kuss, der eindeutig von ihm ausging, zu erwidern. Er legte seine linke Hand auf sein Gesicht und sie konnte die Wärme spüren, die von ihr ausging.
Nun saßen sie also da, noch immer auf dem kalten Boden der Krankenstation und waren in einem Kuss vertieft, der so überraschend kam, dass beide nicht wussten, ob sie sich nun voneinander trennen oder einfach weitermachen sollten.
Und gerade, als sie sich der Entscheidung bewusst war, gab es ein lautes Zischen und die Türen der Krankenstation öffneten sich schwungvoll.
Abrupt lösten sich die beiden voneinander, wenn auch nur ein paar Zentimeter. Noch immer konnte sie seinen Atem spüren und er ihr aufgeregtes Herzklopfen.
Er starrte in ihre Augen, versuchte darin zu erkennen, was sie dachte. Sie tat genau das Gleiche, mit dem Unterschied, dass sie es bis jetzt noch nie geschafft hatte, ihn zu durchschauen. Sie fragte sich, ob das alles nur ein Spiel war...ob es vielleicht an der Situation lag, in der sich die beiden bis vor wenigen Sekunden befanden.
Doch nein, daran wollte sie eigentlich gar nicht denken. Sie rutschte nun noch ein paar Zentimeter von ihm weg, bevor sie aufstand und sich den Staub von der Hose klopfte. Als sie wieder aufblickte, hatte sie wieder seine Augen vor sich, die so eindringlich wirkten. So voller Leidenschaft, als wäre ihm klar, was er wollte. Dieser Moment erleichterte sie.
„Ich...", murmelte sie nun, den Kloß in ihrem Hals hatte sie endlich besiegt.
Er nickte. Ob er wusste, was sie gerade dachte? Ob er genauso fühlte? Die gleiche Art von Freiheit?
Sie atmete tief durch.
„Wir sollten zu den anderen gehen.", räusperte er sich nun und dieses Mal war sie es, die nur zustimmend nickte.
Sie gingen auf die Tür und konnten von draußen schon die ersten Stimmen vernehmen.
Bevor beide die Krankenstation verließen, hielt sie ihn noch einmal zurück.
„Das...was da geschehen ist...", versuchte sie zu formulieren, „...bleibt doch unter uns?"
Die Art, wie sie ihn fragend anblickte, ließ ihm ein Lächeln über die Lippen huschen. Eines seiner undefinierbaren Gesten, die er an den Tag legte. Dann nickte er.
„In Ordnung. Ein Geheimnis."
Nun lächelten beide.
Auf dem Weg zum Torraum ging sie noch mal das Geschehene durch und fand, dass sie sich anfangs in ihm getäuscht hatte. Nein, er würde nicht mit ihr spielen. Nicht er.
Ende
