Die Story ist komplett aus der Sicht von John geschrieben und orientiert sich an der Storyline der Serie. Allerdings habe ich einige wesentliche und unwesentliche Fakten und Details geändert und angepasst. Ebenso haben meine Charaktere gewisse Züge, die sie in der Serie nicht haben. Mein Sherlock ist etwas weicher, wird es zumindest im Laufe der Zeit. John ist sehender und kann mehr mit Sherlock mithalten. Und... mein Mycroft ist böse, skrupellos und kalt, auch wenn er manchmal nett rüber kommt. ER IST BÖSE. :-D

Wie auch die Serie, fängt die Story damit an, dass Sherlock und John sich kennen lernen und zusammen ziehen. Aber ich gehe später immer mehr weg von der Serie und vor allem der Zeitraum, wo Sherlock weg ist und später wie sie und John sich wiedertreffen, wird DEFINITIV anders sein, als die Serie es vorgibt. (Auch wenn ich mich von Spoilern und Ähnlichem fernhalte, bin ich mir da zu 100 Prozent sicher)

Auf die Fälle bin ich nicht groß eingegangen, meist umreiße ich sie nur kurz und hebe Momenten hervor, die für meine Story wichtig sind, oder die ich geändert habe. Das tue ich deshalb, weil Sherlock sich bei den großen Fällen meist nur darauf konzentriert hat und damit waren diese Zeiträume oder Zeitpunkte nicht so interessant für mich und für den Fortgang der Story.

Sie ist meine längste Sherlock-Story und wird es wohl auch bleiben. Bisher bin ich bei knapp 200 Seiten. Und ich tendiere so in Richtung 300, wenn sie fertig ist. Ob es so kommt... wer weiß. Viel Spaß beim Lesen.

Kommentare, Anregungen und Kritik sind willkommen. Lob natürlich noch mehr.


„Ich bin Militärarzt und kein Babysitter für einen kindischen, wildgewordenen Möchtegerndetektiv."

John Watson stand vor dem Tisch des ihm unbekannten Mannes, der ihn zu sich beordert hatte und funkelte ihn wütend an. Sein Haltung war vorbildlich, seine Weigerung, den ihm angebotenen Job zu übernehmen, nicht.

„Doktor Watson, ich weiß, wer Sie sind. Besser als Sie es selber wissen. Und ich darf Sie höflicherweise daran erinnern, dass Sie dem britischen Staat Treue und Gehorsam geschworen haben. Und im Moment bin ich derjenige, der diesem Staat am nächsten kommt. Also werden Sie tun, was ich sage und wie ich es sage."

John straffte sich noch mehr, was rein körperlich kaum noch möglich war, biss dabei hart die Zähne zusammen, als seine Schussverletzung sich meldete und blickte starr geradeaus, durch den Schreibtischhengst vor sich hindurch. Aus dem Augenwinkel nahm er trotzdem den kleinen Bronzeaufsteller wahr, der ihm bis jetzt entgangen war, weil seine Gedanken sich zu sehr um die Frage drehten, was er eigentlich verbrochen hatte, um so bestraft zu werden. „Mycroft Holmes", murmelte er leise.

„Sehr richtig. Holmes. Genau wie Ihr Zielobjekt. Sherlock ist mein kleiner Bruder und dummerweise habe ich ihn in etwas reingezogen, was er in seiner Sturheit nicht überblicken kann. Und zugegeben, habe ich auch keine Lust, ihm die ganzen Hintergründe zu erklären. Und Ihnen auch nicht, also fragen Sie nicht erst. Er denkt, es ist ein Abenteuer, wenn ein Killer ihn jagt. Mom denkt das sicher nicht und sie wird mich dafür verantwortlich machen, wenn ihm etwas passiert. Und da ich nun mal eher hier meinen Dienst verrichte und nicht auf dem Schlachtfeld, brauche ich Sie."

‚Super', dachte John genervt. ‚Eine Familiensache.' Er hatte mit seiner Schwester genug zu tun und wollte sich eigentlich lieber um sie kümmern und um sein eigenes Leben. „Wieso ich, Sir?"

„Sie sind Arzt und können Sherlock bei seinen Abenteuern unterstützen. Sie sind Ausbilder gewesen und ich hoffe, dass Sie das Kind in ihm betreuen können. Ihm ist schnell langweilig und er braucht…" Mycroft Holmes suchte nach dem richtigen Wort. „… einen Spielkameraden."

Mit offenem Mund starrte der Arzt ihn jetzt an und vergaß für eine Sekunde sogar seine Haltung. „Wie bitte?"

„Und außerdem sind Sie einer der schnellsten und besten Schützen, den dieses Land hat. Ich weiß, Sie sind verletzt und brauchen eigentlich Erholung. Aber Sherlock hat einen genialen Geist und den möchte Großbritannien noch eine Weile für sich nutzen, bevor er irgendwann zweifellos in den Wahnsinn abstürzen wird."

John überlegte fieberhaft, wie er hier rauskommen könnte, aber ihm fiel nichts ein. Deshalb seufzte er schließlich resigniert. „Bitte um die Erlaubnis, mich selber erschießen zu dürfen."

„Nicht in meinem Büro." Mycroft sah ihn völlig ernst an. „Sherlock kann einen Menschen in den Wahnsinn treiben. Ich als sein Bruder weiß das und Sie werden es noch merken. Sehen Sie es als Herausforderung. Meine Wortwahl mit dem Schlachtfeld war nicht nur so dahin gesagt. Das werden Sie merken, wenn Sie in seiner Wohnung sind."

„Wohnung? Ich soll bei ihm wohnen?" Das wurde ja immer schlimmer. Er wollte seine Ruhe haben, nach allem, was er in Afghanistan erlebt hatte.

Der Schreibtischhengst stand jetzt auf und kam langsam auf ihn zu. Auf seinen Lippen lag noch immer ein Lächeln, leicht spöttisch, leicht überheblich. Aber in seinen Augen blitzte etwas, was sogar den hartgesottenen Kriegshelden John Watson ein wenig kleiner werden ließ. „Sie werden fürstlich für diesen Job bezahlt. Und wenn er beendet ist, sind Sie ein reicher Arzt, dem der Staat eine schöne Praxis schenken wird, wo er schalten und walten kann, wie er will. Aber es Gnade Ihnen Gott, wenn Sie versagen und Sherlock stirbt. Ihr Leben, Doktor Watson, ist mir keinen Cent wert und ich werde es Ihnen mit Gewalt nehmen lassen und unter Schmerzen, die sich nicht einmal vorstellen können, wenn es nicht so läuft, wie ich es will." Er trat einen Schritt zurück und straffte sich. „Sie fahren zu Sherlock und werden sich bei ihm als Zimmersuchender und Gehilfe anbieten. Er braucht jemanden, auch wenn er es nicht will. Und er wird Sie nehmen, auch wenn er erst mal ablehnt. Bleiben Sie einfach da. Mrs Hudson, die Vermieterin, ist sehr freundlich und wird Sie mögen. Auf Sie hört Sherlock. Schleimen Sie sich bei ihr ein oder umgarnen Sie sie mit Ihrem Soldatencharme. Mir alles egal. Aber Sie werden, bis dieser Killer tot ist, nicht einen Schritt von der Seite meines Bruders weichen."

John schluckte hart. „Ja, Sir."

„Sollte ich Sherlock irgendwo allein antreffen oder jemand teilt mir mit, dass er allein unterwegs war, mache ich Ihnen das Leben zur Hölle. Wenn ihm was passiert, sind Sie tot."

„Verstanden, Sir." John rang mit sich. „Sir…?"

„Ja, Doktor Watson?" Jetzt lächelte Mycroft Holmes wieder überhöflich. Er ging zu seinem Platz zurück.

„Es ist ein Ding, sein Gehilfe zu sein, aber wie soll ich es schaffen, dass er mich überall hin mitschleppt?"

Mit einem jetzt sehr spitzbübischen Grinsen drehte sich Mycroft um. „Ich kenne meinen Bruder und ich kennen seinen Geschmack. Gute Militärärzte und Schützen gibt es durchaus noch ein paar mehr in diesem Land." Langsam drehte er sich um. „Aber keiner von denen fällt so sehr in sein Beuteschema wie Sie. Auch wenn ihm im Jagen ein wenig die Erfahrung fehlt." Er zwinkerte und wurde wieder ernst. „Raus jetzt. Und wagen Sie es nicht, zu versagen."


„Na toll", schimpfte John vor sich hin. „Und ich dachte, Afghanistan sei schlimm." Er hatte sich schon gewundert, warum man ihn wegen einer leichten Schussverletzung in der Schulter nach Hause geholt hatte. Jetzt wusste er es und er schwankte zwischen dem Wunsch, wieder nach Afghanistan zu gehen und einfach zu desertieren. Das Problem war dieser Mycroft Holmes. Der Typ schien es ernst gemeint zu haben. Und John hielt ihn für mächtig gefährlich oder gefährlich mächtig. Wie man es sehen wollte.

Er winkte sich ein Taxi heran und ließ sich auf den Sitz fallen. „221b Baker Street", sagte er und der Fahrer nickte leicht.

Es ging durch die morgendlichen Straßen der Stadt, durch den zähen Berufsverkehr, vorbei an Geschäften, die gerade öffneten und an Touristen und Einheimischen. Doch nichts davon nahm John wirklich wahr. Ihm ging Mycroft Holmes Forderung nicht aus dem Kopf. Es war ein Ding, einem anderen Menschen was vorzumachen, in Bezug auf Job und Berufswunsch. Aber sollte er ihm wirklich Gefühle vorgaukeln und mehr, nur um in seiner Nähe sein zu können? John ging das zu weit. Viel zu weit. Und wie war der letzte Satz von Mycroft Holmes wohl gemeint? Er seufzte leise.

Es war nicht mal die Sache, dass er ein Mann war und dieser Sherlock auch, die ihn an der Andeutung so sehr störte. John hatte durchaus einen starken Hang zu seinem eigenen Geschlecht, aber normalerweise suchte er sich seine Partner nach eigenen Kriterien und Wünschen aus. Er war doch kein Stricher, der es für Geld mit Jemandem machte. Und er hatte ein Gewissen.

Er wusste ja nicht einmal, wie lange er dieses Spielchen mitspielen musste. Ein paar Tage? Wochen? Monate? Und wenn dieser Sherlock so ein Meister seines Faches war, würde er ihn garantiert durchschauen.

John lächelte leicht. ‚Das ist es', dachte er. Mycroft hin, Gehorsam her. Sherlock Holmes hatte den Ruf, alles sofort zu durchschauen. Er würde ihn sicher sofort wieder wegschicken, wenn er merkte, warum er da war. Und dafür konnte John ja wohl nichts. Jetzt besser gelaunt grinste er vor sich hin und lehnte sich entspannt auf dem Sitz zurück. Wahrscheinlich hatte sich das Problem in wenigen Minuten sowieso erledigt und er konnte heim zu seiner Schwester fahren und sie von ihren geliebten Wein- und Schnapsflaschen fern halten.


Eine schwarze Tür neben einem kleinen Imbiss. Die Zahlen 221 und das b glänzten golden auf dem dunklen Hintergrund. Und der hübsche Türklopfer war blank geputzt. John benutzte ihn und trat einen Schritt zurück. Er setzte ein unverbindliches Lächeln auf und lauschte den Schritten, die sich der Tür näherten. Kurze Schritte, leicht raschelnd, etwas schleppend. Weiblich, älter.

„Hallo, Mrs Hudson, mein Name ist John Watson. Ich bin hier wegen einer Wohnung", grüßte er nicht allzu militärisch, zumindest für seinen Geschmack und streckte der Frau die Hand entgegen. „Ist das Zimmer noch frei?"

Die ältere Dame hatte sich ein wenig erschrocken, lächelte jetzt aber und nahm die Hand in ihre. Sie schüttelte sie leicht und trat zur Seite. „Ja, das ist noch frei, Mister Watson."

„John", sagte er höflich und senkte die Stimme noch ein wenig, nachdem er ja gemerkt hatte, wie sie anfangs zusammengezuckt war. Er musste sich wirklich schnellstens daran gewöhnen, diesen Militärton abzulegen. „Danke sehr."

Er trat in den Flur und blickte die Treppe hinauf. Als die Frau nach oben deutete, ging er vor. Eine Tür war nur angelehnt und John schob sie auf. Was ihn hier erwartete, war ein Chaos aus Büchern, Schriftstücken und Karten. Dazwischen ein Laptop, ein Handy und… ein Glas mit Augen? Na prima. Er war tatsächlich bei einem Irren gelandet.

„Entschuldigen Sie das Chaos." Mrs Hudson schien sich sichtbar unwohl zu fühlen.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Lady wie Sie es verursacht hat, Madam, also sollten Sie sich dafür auch nicht entschuldigen." Er lächelte ihr freundlich zu und sah mit Genugtuung, wie sie errötete.

Sie gab einige leise Töne von sich und winkte schließlich ab. „Ihr Vielleicht-Mitbewohner Sherlock Holmes neigt leider zu einigen schlechten Angewohnheiten."

John blickte in die Küche, wo auf einem Tisch Glasapparaturen standen, die offenbar für Experimente genutzt wurden. Sowas hatte er das letzte Mal auf der Universität gesehen. Ansonsten herrschte auf den Abstellflächen ein gewisses Chaos, allerdings ohne jegliches Vorhandensein von Schmutz. Zumindest sauber war der Detektiv. Oder Mrs Hudson putzt hier.

„Was machen Sie denn beruflich, John?", erkundigte sich die Dame neugierig und strahlte, als John das Wort ‚Arzt' aussprach.

Unten ging die Tür, dann eilten weit auslandende Schritte die Treppe empor. Offenbar ein Mann, groß gewachsen, sportlich. Er wurde nicht langsamer, je höher er kam und offenbar nahm er mindestens zwei Stufen auf einmal. Die Tür wurde aufgestoßen.

John sah sich um und blickte im nächsten Moment in zwei blau-grün-graue Augen, die unter einem Vorhang aus gewellten schwarzen Haaren hervor blickten.

‚Okay', dachte er und erinnerte sich, dass dieser Mann vor ihm nur vier Jahre jünger war als er selber. ‚Das ist jetzt frustrierend.' Denn sein Gegenüber, was ihn ebenso neugierig musterte, hatte eine makellose, glatte Haut, die John unweigerlich an eine Marmorstatue erinnerte, markante, hohe Wangenknochen und einen eher markanten, interessanten Mund, der einfach perfekt in das Gesicht passte. Und der sich jetzt zu einem spöttischen Lächeln kräuselte.

„Ah, mein neuer Babysitter. Gehen Sie zurück zu meinem Bruder und sagen Sie ihm höflich, dass er mir mit seinen Hilfsversuchen nicht mehr auf den Geist gehen soll."

„John…"

„Mrs Hudson, danke." Unhöflich deutete Sherlock Holmes auf die Tür, wartete bis die Frau draußen war und verschränkte dann die Arme vor der Brust, was seinem gesamten Aussehen eine unglaubliche Größe und Würde verlieh.

John schluckte, schwankend zwischen einer gewissen Bewunderung für das Aussehen des Mannes und einer leichten Hypnose, die die tiefe Stimme von Sherlock auf ihn ausübte und überlegte fieberhaft. Entweder tat er seinen Job und log Sherlock an oder er gab es zu und ging wieder. Langsam hob er den Blick und traf wieder den des Detektivs. „Verzeihung, hier muss ein Missverständnis vorliegen." Er nahm Haltung an. „Mein Name ist John Watson und ich bin auf der Suche nach einer Bleibe. Und einer Arbeit."

Sherlock musterte ihn weiterhin. „Militärische Haltung, Verletzung der linken Schulter durch einen Schuss, nehme ich an. Sie kommen gerade aus… Afghanistan?"

„Ja, Mister Holmes. Ein Bekannter von mir hat mir den Tipp gegeben, es hier bei Ihnen zu versuchen."

„Mmm." Sherlock Holmes schien ihm kein Wort zu glauben. Und doch ließ er seine Arme langsam sinken und setzte sich auf einen der gemütlichen Sessel. Eine Weile blickte er den neuen Mitbewohner an. „Ich brauche einen Assistenten, der nicht ständig dumme Fragen stellt und gewisse eigene Fähigkeiten mitbringt und keine Skulptur."

John bewegte sich und setzte sich ebenfalls. „Ich bin Militärarzt."

„Ein Arzt." Offenbar war das Interesse bei dem Detektiv jetzt doch geweckt. Allerdings sagte er dazu erst einmal nichts weiter. „Oben ist das zweite Schlafzimmer. Um Essen müssen Sie sich selber kümmern, ich esse eher wenig."

‚Das sieht man', dachte John und musterte die langen, schlanken Beine, die Sherlock jetzt ausstreckte. „Kein Problem."

„Ich spiele gern Geige und kann auch mal ein paar Tage einfach nur Schweigen. Ist das okay für Sie?"

„Sicher. Wenn Sie spielen können."

Diese indirekte Herausforderung nahm der schwarzhaarige Mann mit einem Lächeln an, griff zur Seite, wo an ein Sofa gelehnt eine Geige stand und spielte etwas. Seine Augen fixierten dabei den Arzt. John spürte es und konnte sich doch dem Zauber der Musik, die Sherlock seinem Instrument entlockte, nicht entziehen. Er spielte nicht nur gut, sondern richtig gut. Für einen kalten Menschen, wie er oft beschrieben wurde, brachte er mit Tönen und Noten verdammt viel Wärme und Gefühl rüber.

Als Sherlock das Instrument weglegte, applaudierte John höflich. „Ich bin beeindruckt und habe nichts gegen Ihr Spiel. Ganz im Gegenteil. Es ist sehr beruhigend." Er sah den Stolz, der durch den Körper seines Gegenübers lief und darin mündete, dass die Augen regelrecht strahlten. Komplimente für sein Können, das war also ein Schlüssel zu dem Detektiv. Nun gut, das würde er sich merken. „Und gegen Schweigen habe ich auch nichts", fügte er hinzu. „Nach Monaten des Lärmes und der Geräusche der afghanischen Wüste ist es mir sogar ganz Recht."

Sherlock nickte leicht, schwieg lange, musterte ihn immer wieder und sagte schließlich: „Meinetwegen bleiben Sie." Er stand auf und ging zu seinem Schlafzimmer. Ohne sich umzudrehen, sagte er leise: „Sollten Sie doch ein Spion von Mycroft sein, finde ich es heraus." Damit war die Tür zu und Johns Hochgefühl war verschwunden. Wieso machte Sherlock es ihm so leicht, hier zu bleiben? War es ein Trick oder brauchte er wirklich Hilfe und sah ihn ihm jemanden, der es wert war, getestet zu werden?


Er saß noch eine ganze Weile auf dem Sessel, bevor er das Haus mit schnellen Schritten verließ. Er fuhr zu seiner vorübergehenden Unterkunft, einem Soldatenwohnheim, holte seine Sachen und seine Waffe und fuhr zurück in die Baker Street. Beziehungsweise ließ sich fahren. Mit seinem Arm war es ihm unmöglich, einen Wagen zu steuern.

Hier war es ruhig. Wo Sherlock wohl steckte? Er ging nach oben, sah sich das Schlafzimmer mit dem Doppelbett, dem Nachtschrank, dem Kleiderschrank und dem einsamen Sessel am Fenster an. Sorgfältig brachte er seine Sachen in dem alten, aber gut erhaltenen Schrank unter und ließ sich auf das Bett fallen. Seine Wunde rächte sich und trieb ihm vor Schmerz die Tränen in die Augen. Auf Tabletten musste er verzichten, denn die machten ihn müde. Und als Leibwächter war Müdigkeit sein Feind.

„Mr Watson?", kam die tiefe, ruhige Stimme von Sherlock von unten.

Er quälte sich vom Bett hoch, öffnete die Tür und blickte die Treppe nach unten. „Was ist?"

„Trinken Sie einen Tee mit mir?"

John war völlig verblüfft. Das passte überhaupt nicht zu dem, was er über Sherlock Holmes gehört hatte und zu dem Bild, was er sich von dem Detektiv gemacht hatte. Wortlos ging er die Treppenstufen nach unten und begab sich in die Küche, wo Sherlock am Herd stand und Wasser erwärmte. „Es gibt Wasserkocher", murmelte er leise.

Sherlocks Blick war sofort auf ihn gerichtet. „Warum verzichten Sie auf Schmerzmittel? Sie scheinen nicht der Typ zu sein, der den Helden spielen will."

„Sie machen mich müde und träge und ich hasse das."

Wortlos nickte Sherlock, suchte in einem der Schränke nach Teebeuteln und holte eine Dose hervor, in der frische Kräuter lagerten. Er tat ein paar in ein Teeei, hängte es in eine Kanne und goss das inzwischen kochende Wasser darüber. Zwei Tassen standen im Wohnzimmer, die Teekanne brachte Sherlock. „Milch, Zucker?"

„Nein. Pur." John nahm das überhebliche Lächeln wahr. Natürlich hatte er es geahnt. „Wie komme ich zu der Ehre?"

„Sie suchen einen Job, Doktor. Ich habe einen aktuellen Fall und dachte, Sie hätten Interesse. Aber ich weiß nicht, ob Sie mir eine Hilfe sind, wenn Sie vor Schmerzen kaum stehen können."

„Ich kann nicht nur stehen. Im Notfall kann ich rennen, kämpfen und viele andere Dinge. Machen Sie sich um mich keine Sorgen, Mister Holmes." John schnupperte. Der Tee duftete intensiv und sehr gut. Er sah, wie Sherlock Tee eingoss und nahm seine Tasse. „Der Fall interessiert mich. Ich brauche dringend mal wieder etwas zu tun, was nicht darin besteht, stupiden Befehlen zu folgen."

Sherlock zog eine Augenbraue hoch. „Wie lange sind Sie in London? Der Bräunung Ihrer Haut nach zu urteilen, seit circa 2 Wochen."

„10 Tage", sagte John. „Sie sind gut."

„Ich beobachte und ziehe meine Schlüsse aufgrund wissenschaftlicher Fakten und Tatsachen. Mehr nicht. Wenn Sie seit 10 Tagen in der Stadt sind und sich nicht völlig abgeschottet haben, sollten Sie wissen, welcher Fall mich interessiert."

‚Na super, ein Test', dachte John. Er nippte an seinem Tee und dachte ein wenig an die Presse. Es ging dort ständig um… „Die angeblichen Selbstmorde."

Der Mann vor ihm stellte die Tasse auf den Tisch und lehnte sich nach vorn. Die Ellenbogen auf die Oberschenkel gestützt und das Kinn auf den Fingerspitzen liegend, sah er sein Gegenüber neugierig an. „Angeblich?"

„Wären es Selbstmorde, würde es Sie kaum interessieren. Nach dem, was man über Sie so hört." John musste ein Grinsen unterdrücken. Offenbar hatte er diesen Superdetektiv gerade ein wenig beeindruckt.

„Ich denke aber, dass es Selbstmorde waren." Die stechenden Augen verengten sich leicht.

„Selbstmord definiere ich als freiwilliges Ausscheiden aus dem Leben. Ein Zwang zur Selbsttötung, ist für mich nicht die Definition eines Selbstmordes. Können wir uns darauf einigen?"

Der linke Mundwinkel zuckte leicht nach oben und Sherlock lehnte sich wieder ein Stück zurück. „Können wir. Wobei wir mit dieser Meinung relativ allein stehen in London."

John trank einige weitere Schlucke. „Das ist mir egal", sagte er ein wenig zu resigniert für seinen eigenen Geschmack. „Was schert mich die Meinung anderer Leute."

„Das sehe ich ähnlich. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass den meisten Leuten doch nicht egal ist, wie sie in der Öffentlichkeit dastehen." Er schlug ein Bein über das andere, nahm sich seine Tasse und erzählte John dann von den Selbstmorden.

John musste mehrfach schlucken, weil Sherlock schneller redete als jedes Maschinengewehr. Fakten, Daten, Zahlen, medizinische Details, Tatortbeschreibungen, Namen. Er feuerte ihm die Sachen nur so um die Ohren. Irgendwann resignierte er. „Moment, Mister Holmes. Ich bin nur ein Normalsterblicher. Gibt es das auch schriftlich?"

Der Detektiv schien ein wenig unzufrieden und auch etwas erbost, dass John ihn einfach unterbrochen hatte, deutete aber auf einen Hefter, der auf dem Sofa neben John lag. „Dort steht alles drin. Mit Tatortfotos und Zeugenaussagen."

„Was verbindet die Fälle?"

„Gift, Selbstmord, Orte, mit denen die Opfer nichts zu tun hatten. Und doch brachten sie sich dort um. Drei Tote in wenigen Tagen."

John nickte leicht. „Ich weiß, es ist Ihnen egal, aber ich stimme zu. Es stinkt zum Himmel."

Sherlock grinste jetzt und es wirkte echt. „So habe ich mich nicht ausgedrückt. Und, es ist mir nicht egal. Ich kann nicht mit Jemandem an einem Fall arbeiten, der keinen Fall sieht." Seine Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammen gepresst, die Augen zu Schlitzen verengt. Doch er sagte nichts weiter, sondern stand auf und ging zu seinem Schlafzimmer. „Es wird bald wieder einen Toten geben", sagte er, ohne sich umzudrehen. „Bis dahin sollten Sie sich in den Fall einarbeiten und sich ausruhen. Und nehmen Sie Ihre verdammten Schmerztabletten. Ich hasse leidende Leute um mich herum."

„Verzeihung, Mister Holmes. Ich werde versuchen, unauffälliger zu leiden", gab John bissig zurück.

„Sherlock", sagte der Schwarzhaarige und blickte über seine Schulter. „Ich heiße Sherlock."

„John."

Die Tür schloss sich hinter dem Detektiv und John hatte das Gefühl, dass alles gut lief. Er fragte sich nur, für wen. Mit einem Seufzen nahm er das Tablettenröhrchen aus seiner Tasche und spülte zwei der Pillen mit etwas Tee hinter. Dann schloss er die Augen.

Es hatte geklappt, er war drin. In Sherlocks Wohnung, seiner Arbeit und mit dem Angebot, ihn Sherlock zu nennen, auch irgendwie in seinem Leben. So wie er den Detektiv einschätze, legte der Mann keinen Wert auf Förmlichkeiten und so war dieses Angebot gleichbedeutend mit einem Angebot, sich zu Duzen.

Die Fragerunde hatte er wohl ganz gut bestanden und sogar immer richtig reagiert, bis auf das eine Mal, wo er zugeben musste, nicht so schnell mitzukommen. Dass Sherlock ihm den Hefter überlassen hatte, sah er als Angebot, aber auch als Aufforderung, sich schleunigst mit dem Fall zu befassen. Er hatte bei den Erklärungen gemerkt, dass der Detektiv offenbar gern über seine Fälle redete. Nur war er wohl so unsozial, wenn man der Klatschpresse und seinem Bruder glauben durfte, dass er niemanden zum Reden hatte.

Langsam hatte John den Eindruck, dass Sherlock keinen Spielkameraden braucht, wie sein Bruder sich so unschön ausgedrückt hatte, sondern einfach einen Freund. Die Frage war, wollte der das überhaupt und konnte er dieser Freund werden? Und was würde Sherlock mit ihm anstellen, wenn er herausfand, dass er doch für Mycroft Holmes arbeitete? Sein Blick fiel wieder auf das Glas in dem die zwei Augen schwammen und ihn anstarrten. Eine Gänsehaut kroch ihm über den Rücken. Und es sollte nicht die Letzte sein.